Gottlose Typen

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Am 13. Dezember gab es im Plenum des Deutschen Bundestags eine vortreffliche Gelegenheit, die Demokratie gegen die extreme Rechte zu verteidigen. Sie wurde nicht genutzt. Stattdessen verbündeten sich CDU und CSU mit der AfD, um eine unliebsame Vizepräsidentin zu stürzen. Das unverblümte Paktieren mit den Feinden der Demokratie hat damit endgültig den Bundestag erreicht. Wieder einmal betätigen sich konservative Kräfte als Steigbügelhalter von Hass und Hetze.

Brüder im Geiste

Die Brandmauer der CDU gegen die AfD – Es wird viel über sie geredet, aber bis zum heutigen Tage hat sie niemand jemals gesehen. Seit dem 13. Dezember 2023 gehört sie endgültig ins Reich der Märchen und Mythen. Denn an diesem Tag kam es auch im Bundestag zum Dammbruch bei der Unionsfraktion. Zum ersten Mal machten die Abgeordneten von CDU und CSU gemeinsame Sache mit der AfD. Auf der Tagesordnung stand: Absetzung der Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau. Der Vorstoß der rechten Seite des Parlaments war durchsichtig und schamlos. Auch zwei separate Anträge ändern an der geistigen Nähe der beiden Parteien nichts. Nach wiederholten rhetorischen Ausfällen von Parteichef Friedrich Merz in diversen Talkshows ist diese ideologische Verwandtschaft nun auch auf Bundesebene protokolliert.

Die Zusammenarbeit von CDU und AfD reicht schon einige Jahre zurück. Bereits Anfang 2020 geriet die ehemalige Volkspartei in die Kritik, weil sie Thomas Kemmerich von der FDP mithilfe der AfD ins Amt des Ministerpräsidenten von Thüringen hievte. Damals wie heute ging es nicht um die Sache. Auch vor knapp vier Jahren war es das einzige Ziel der Rechtsextremen und ihrer willigen Helfer, einen linken Politiker aus dem Amt zu drängen. Nur die Mehrheitsverhältnisse des 20. Deutschen Bundestags verhinderten diesmal das Gelingen dieses perfiden Plans.

Es war das erste Mal, dass die Union auf Bundesebene mit der AfD gemeinsame Sache machte. Und auch wenn sie einen eigenen Antrag einbrachte und sich damit nur indirekt zum Vorstoß der AfD bekannte: Es ging nicht um ein Sachthema, bei dem es zufällige Schnittmengen gab. Es ging nicht um Migrationspolitik, bei der die Haltung der CDU schon lange vor Entstehen der AfD klar war. Es ging auch nicht um den Bau von Windkrafträdern, bei dem die Union schon immer eine ähnlich kritische Position einnimmt wie die extreme Rechte. Es ging nicht um Steuersenkungen oder Sozialabbau. Es ging um das Verfassungsorgan Deutscher Bundestag und dessen Konzeption. Gemeinsam mit der AfD wagte die Union einen Angriff darauf, um der politischen Linken eins auszuwischen.

Petra Pau bleibt

Während die AfD erwartungsgemäß hart auf die Tränendrüse drückte und sich wieder einmal darüber beschwerte, dass sie seit nunmehr sechs Jahren keinen Vizepräsidenten entsenden darf, berief sich die Union auf eine angebliche Regelungslücke in der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestags. Diese biete keine Handhabe für den Fall, dass eine Fraktion sich auflösen muss wie es bei der Linken momentan der Fall ist.

Beide Argumentationen sind hanebüchener Blödsinn. Keine Fraktion wird bevorzugt oder benachteiligt und auch die Geschäftsordnung des Bundestags ist im vorliegenden Fall eindeutig: Die Vizepräsidenten werden für die gesamte Wahlperiode gewählt. Ihre Amtszeit endet mit der Neuwahl des Bundestags. Für eine erfolgreiche Wahl ist in den ersten beiden Wahlgängen eine absolute und ab dem dritten Wahlgang eine relative Mehrheit nötig. Was die Union mit ihrem Antrag also anstrebt, ist keine notwendige Ergänzung zur Geschäftsordnung, sondern eine zusätzliche Regelung. Ob das in der laufenden Legislatur überhaupt möglich ist, bleibt fraglich.

Stilloser Grenzübertritt

Es ist eine demokratische Selbstverständlichkeit, dass Petra Pau im Amt bleibt. Ihre Wiederwahl am 26. Oktober 2021 reicht dazu aus. Es ist aber auch aus menschlicher Sicht ein Unding, ihr die Legitimation für eines der höchsten Staatsämter im Land abzusprechen. Sie gehört dem Bundestag seit 1998 ununterbrochen an, hat sechsmal ein Direktmandat erworben und ist seit siebzehn Jahren Parlamentsvizepräsidentin.

Die Umstände ihrer ersten Wahl in dieses Amt 2006 spielen ebenfalls eine Rolle. Nachdem ihr Fraktionskollege Lothar Bisky in vier Wahlgängen durchfiel, erhielt sie beim ersten Anlauf die benötigte Stimmenzahl – möglicherweise auch aus den Reihen von CDU und CSU. Keine andere Politikerin der Linken bekommt so häufig Applaus der konservativen Fraktion wie Petra Pau. Wie tief die Gräben zwischen Union und der Linken weiterhin verlaufen, überrascht also schon sehr.

Thüringen 2.0

Eines ist jedoch völlig klar: Seit der Vorstellung des BSW um Sahra Wagenknecht war es nur eine Frage der Zeit, bis die AfD die Auflösung der Linksfraktion ausnutzt, um sich einmal mehr als Opfer der bösen Demokraten zu inszenieren. Erneut hatten es die Rechtsextremen auf lupenrein demokratische Verfahren abgesehen, um diese zu dekonstruieren und letztendlich zu delegitimieren. Sie halten nichts von fairen Wahlen und Abstimmungen. Ginge es nach der AfD würde der Parlamentsvorsitz künftig nach Gutdünken berufen und abgesetzt werden – je nach politischer Wetterlage.

Es ist erschreckend, dass sie dabei so engagierte Schützenhilfe von der Union bekommen haben. Dieses beherzte Nachtreten der Konservativen ist fast noch schlimmer als der Erstangriff der extremen Rechten. Anders als in Thüringen 2020 musste die AfD dieses Mal nicht einmal eine Falle stellen, um die Union zu ködern.


Mit der Debatte am Abend des 13. Dezembers haben sich CDU und CSU eindeutig positioniert. Um den politischen Gegner zu schwächen, sind sie im Zweifelsfalle dazu bereit, demokratische Grundsätze zu unterwandern und sich mit den schlimmsten Feinden der rechtsstaatlichen Grundordnung gemeinzumachen. Sollten sich die aktuellen Umfragewerte für die ostdeutschen Bundesländer bei den Landtagswahlen im Herbst bewahrheiten, sieht es zapfenduster aus für unser Land.

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Brandmauer mit Substanz

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CDU-Chef Friedrich Merz im Kreuzfeuer: Seine unbedachten Äußerungen zur AfD haben ihn mal wieder in Teufelsküche gebracht. Die Brandmauer zur AfD steht bei den Konservativen nach wie vor auf einem wackeligen Fundament. Die Rechtsaußen-Partei lässt das weitgehend kalt. Sie erfreut sich an einem Umfragehoch nach dem nächsten. Sie profitiert von einer Brandmauer ganz anderer Art – der unverständigen Front gegen ihre Wähler.

Ein Hoch auf die Brandauer

Ein neuer Shitstorm ist entbrannt. Und wieder einmal geht es um die AfD. Im Zentrum der hitzigen Diskussion steht CDU-Chef Friedrich Merz. Er hatte sich in den letzten Wochen wiederholt unglücklich geäußert. Unter anderem warb er im ZDF-Sommerinterview für einen pragmatischen Umgang mit der AfD auf kommunaler Ebene.

Besonders woke Kritiker werfen Merz nun vor, die Brandmauer der Union gegenüber den Rechtsextremen endgültig eingerissen zu haben. Sie können nicht akzeptieren, dass der CDU-Vorsitzende eine mögliche Zusammenarbeit mit der AfD in den Städten und Gemeinden suggerierte. Merz bemüht sich zwischenzeitlich um Schadenbegrenzung: Er habe das alles nicht so gemeint und schließe natürlich auch für die Zukunft jegliche Zusammenarbeit mit der AfD aus. In diesem kalkulierten Zurückrudern steht der ehemalige Chef von BlackRock Rechtsaußen tatsächlich in nichts nach.

Offen bleibt, wie für Merz ein „pragmatischer Umgang mit der AfD“ konkret aussieht. Dass er bei seiner Wortwahl mächtig danebengegriffen hat, steht außer Frage. Dass er die Union bei einer Pressekonferenz als die wahre Alternative für Deutschland mit Substanz bezeichnet hat, reißt für viele seiner Kritiker dem Fass allerdings den Boden aus. Auch parteiintern regt sich Widerstand: Auf keinen Fall will man sprachlich mit der extremen Rechten in Verbindung gebracht werden.

Abgrenzungsprobleme

Beide Debatten sind kurzsichtig und realitätsfremd. Wer wenn nicht der Oppositionsführer hat das Recht, seine eigene Partei als die Alternative für das Land zu bezeichnen? Selbstverständlich liegt es in der Natur der stärksten Oppositionspartei, die besten Gegenkonzepte zur Regierung für sich zu beanspruchen. Dass die Äußerung nebenbei eine gefährliche antidemokratische Partei herabstuft, ist im Grunde begrüßenswert.

Eine Nähe zwischen Union und AfD ist übrigens auch ohne die kontroversen Äußerungen von Friedrich Merz nicht von der Hand zu weisen. In manchen Debatten im Bundestag erhalten Redner der Union inzwischen mitunter mehr Applaus von der AfD als Sahra Wagenknecht. Zwei CSU-Abgeordnete stimmten im Europaausschuss des Bundestags Anfang Juli gemeinsam mit der AfD ab. Natürlich stellt sich dabei grundsätzlich die Frage, wie ratsam es ist, grundsätzlich anders abzustimmen als die AfD und die eigenen Überzeugungen hinten anzustellen.

Der Fall Thüringen zeigte überdies deutlich, dass es nicht nur in der CDU ein Problem mit der Abgrenzung zur AfD gibt. Um die politische Linke auszuschalten, machte man dort bei der denkwürdigen Wahl des Ministerpräsidenten im Februar 2020 gemeinsame Sache mit der Höcke-Partei. Die angebliche Brandmauer zur AfD bestand schon damals aus nichts weiter als einem Stoffvorhang.

Kein Platz für AfD-Wähler

Die fehlende Brandmauer zur Rechtsaußen-Partei zeigt sich auch daran, dass über keine andere Partei so häufig diskutiert wird wie über die AfD. Wo eine Brandmauer jedoch von Anfang an ausgesprochen gut funktioniert hat, ist gegenüber den Wählern und Sympathisanten der AfD. Für viele gibt es bis heute nichts Entsetzlicheres als die AfD zu wählen. Das initiale Entsetzen der Jahre 2013 und 2014, wie man überhaupt auf die Idee kommen könne, einer solchen Partei seine Stimme zu geben, hat sich bei vielen Menschen etabliert und festgesetzt und eine sachliche Auseinandersetzung mit der fragwürdigen Wahlentscheidung immer schon zuverlässig verhindert.

Erklärtes Ziel ist es nach wie vor, die Ergebnisse der AfD zu schmälern. Mit deren Wählern möchte man aber am liebsten nichts zu tun haben. Das ist eine Milchmädchenrechnung, die leider auf Gegenseitigkeit beruht. Die heutigen potenziellen 20 Prozent der AfD-Wähler haben überhaupt keinen Anreiz zu einer der demokratischen Parteien zurückzukehren. Immer wieder bekamen sie zu hören, warum sie denn auf gar keinen Fall die blaue Partei mit dem roten Pfeil wählen dürften. Immer besser konnten sie es sich in der Rolle der querdenken Revoluzzer bequemmachen. Immer seltener gab es für sie Gründe umzukehren. Enttäuscht sind sie gegangen und überzeugt sind sie geblieben.

Lückenfüller

Selbst Menschen, die mit der AfD so gar nichts am Hut haben, wird immer wieder eine ideologische Nähe zu den rechten Brandstiftern unterstellt. Häufigster Grund: Sie haben Themen angesprochen, zu denen sich zuvor die AfD positioniert hatte. Wer auf Nummer sicher gehen will, sollte an manchen Stellen lieber den Mund halten oder lauthals das Gegenteil dessen verkünden, was die AfD sagt. Dass dieses krampfhafte Aussparen von Themen teilweise lächerlich anmutet und ausschließlich der AfD in die Hände spielt, scheint den Wortführern anderer Parteien egal zu sein.

Diese Tabuisierung bestimmter Sichtweisen erwies sich besonders in der Pandemie als fatal. Geschickt sprach die AfD solche Menschen an, die Zweifel an der Wirksamkeit der Impfstoffe hatten. Die anderen Parteien reagierten mit einer noch vehementeren Verteidigung ihrer Impfstrategie und diskutierten ernsthaft eine allgemeine Impfpflicht. Wer so übergriffig gegen konträre Meinungen vorgeht, braucht sich nicht zu wundern, wenn die Menschen scharenweise nach rechts abwandern.

Zeit für Debatten

Besonders zu Zeiten der Großen Koalitionen war von enttäuschten Wählern immer wieder zu hören, die ehemaligen Volksparteien wären in ihren Programmatiken gar nicht mehr unterscheidbar. Inzwischen gilt das auch für die übrigen im Bundestag sitzenden demokratischen Parteien. Dass viele von ihnen in trauter Einigkeit Stimmung gegen die AfD und ihre Wähler machen, bestätigt diesen Trend eher als dass er ihm etwas entgegensetzt.

Von einer eindeutigen Positionierung und einem unterscheidbaren Profil hätten in den vergangenen Jahren besonders linke Parteien profitieren können. Dass linke Positionen durchaus erfolgreich sein können und sogar im Sinne sehr vieler Menschen sind, zeigte eindrucksvoll der Schulz-Hype Anfang 2017. Als der frischgebackene SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz in seinem Wahlkampf schwerpunktmäßig auf das Thema Gerechtigkeit setzte, erlebte die SPD ein Umfragehoch wie lange nicht mehr. Die Werte der AfD schmolzen indessen dahin. Wären die Sprüche von Sankt Martin ernstgemeint gewesen, hätte die SPD durchaus schon vier Jahre früher den Kanzler stellen können.

Natürlich können sich die unterschiedlichen Parteien nur dann profilieren, wenn sie wieder eine breite Diskussion zu bestimmten Themen zulassen, anstatt sie angestrengt zu unterdrücken. Das führt nämlich momentan dazu, dass sich die Menschen weder vertreten noch verstanden fühlen. Zuflucht bietet ihnen die extreme Rechte, die zwar keine Visionen für dieses Land hat, aber zumindest eine Plattform bietet für Frust und Enttäuschung. Doch Demokratie kennt nur den Mittelweg – und der spielt sich zwischen den Polen ab.


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Anschlag auf die Demokratie

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Ohne entschlossenes Gegenlenken könnte der Bundestag nach der nächsten Wahl mehr als 1.000 Abgeordnete zählen. Handlungsbedarf zur Reduzierung der Sitze ist daher dringend geboten. Die Ampelkoalition hat sich nun etwas ganz Besonderes überlegt: die Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten und die Streichung der Grundmandatsklausel. Mathematisch geht ihr Plan voll auf, die Demokratie bleibt währenddessen auf der Strecke.

Bundestag ohne Bayern?

Der Bundestag ist zu groß. Das Problem ist seit Jahren offensichtlich. Schon beim Umzug ins Reichstagsgebäude Ende der 1990er-Jahre beherbergte die berühmte Kuppel 665 Abgeordnete. Heute zwängen sich regelmäßig bis zu 736 Abgeordnete in den Plenarsaal. Der Handlungsbedarf lag auf der Hand, eine Lösung ließ aber bis vor kurzem auf sich warten. Nun ist sie da, die langersehnte Wahlrechtsreform – und mit ihr jede Menge neue Probleme.

Die von der Regierungsmehrheit getragenen Fraktionen haben am 17. März im Grunde nichts anderes beschlossen als eine Schwächung der Direktmandate. Durch die Reform ist die Sitzzuteilung im Bundestag ab sofort allein vom Zweitstimmenergebnis abhängig. Die Erststimmen spielen bei dieser Frage keine Rolle mehr. Ein errungenes Direktmandat erhöht zwar die Chance, in den Bundestag einzuziehen, der Sieg in einem Wahlkreis ist aber lange keine Garantie mehr für einen Sitz im Parlament. Selbst wer seine Mitstreiter weit hinter sich lässt, kann sich fortan nicht mehr darauf verlassen, in den nächsten vier Jahren in Berlin zu sitzen.

In der Theorie bedeutet das: Eine Partei könnte alle Direktmandate eines Bundeslands gewinnen, aber keinen einzigen Sitz im Bundestag erhalten, weil ihr Zweitstimmenergebnis dazu nicht ausreicht. In der Praxis heißt das: Die CSU geht im Zweifelsfall leer aus, obwohl sie in Bayern enormen Rückhalt hat. Allein dieses bildhafte Beispiel reicht aus, um die großen Zweifel an der Reform zu verstehen.

Die Christlich-Sozialen haben bei den vergangenen Bundestagswahlen kontinuierlich schwächer abgeschnitten und müssen inzwischen darum bangen, die 5-Prozent – Hürde zu meistern. Trotzdem gewinnen sie regelmäßig die meisten Wahlkreise im größten deutschen Bundesland. Ihre personelle Repräsentanz im Bundestag dürfte damit außer Frage stehen.

Wahlkampf ohne Sinn?

Das Direktmandat ist der direkte Draht zum Wahlkreis. Die gerade beschlossene Wahlrechtsreform missachtet diesen Grundsatz, weil sie die Bindung zwischen Abgeordneten und Wählern schwächt. Die Abgeordneten werden auch in Zukunft einen Bezug zu ihren Wahlkreisen haben, aber es sind eben nicht mehr zwingend die Kandidaten im Bundestag vertreten, welche die größte Zustimmung hinter sich wissen. Viele Wähler werden sich fragen: Warum soll ich einer bestimmten Person meine Stimme geben, wenn die Vertretung meiner persönlichen Interessen damit nicht wahrscheinlicher wird?

Auf der anderen Seite werden es besonders kleine Parteien künftig schwerer haben, motivierte Kandidaten für ihren Wahlkampf zu gewinnen. Wenn absehbar ist, dass die Partei nur mit Mühe mindestens 5 Prozent der Zweitstimmen holen wird, dann macht die Performance der Direktkandidaten keinen Unterschied mehr. Kandidaten von Parteien, die im Trend liegen andererseits, brauchen sich nicht besonders abzumühen: Ihr Einzug in den Bundestag ist schon allein aufgrund des Zweitstimmenergebnisses wahrscheinlicher. Die Reform hat also auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Wahlkampf. Es besteht das Risiko politisch verwahrloster Wahlkreise, weil der Wählerwille nicht ausreichend repräsentiert wird und die Kandidaten ein demotivierendes Szenario vor Augen haben.

Immer auf die Kleinen

Völlig überraschend erweiterten die Regierungsparteien ihre Wahlrechtsreform um die Streichung der Grundmandatsklausel. Selbst die Fachpresse war von dieser Entwicklung überrumpelt. Fraktionslose Abgeordnete sind in den künftigen Bundestagen also nicht mehr vorgesehen. Nur wenn gewählte Abgeordnete ihre Fraktionen verlassen, gehören sie dem Parlament weiterhin als Fraktionslose an. Die Abbildung regionaler politischer Präferenzen wird so unterbunden.

Es ist in Zukunft nämlich völlig unerheblich, ob Parteien in bestimmten Wahlkreisen und Regionen deutlich mehr Zustimmung erfahren als im Bundesdurchschnitt. In der Geschichte der Bundesrepublik gab und gibt es Parteien, die in manchen Gegenden besonders punkten können und Wahlkreise für sich bestimmen, in anderen Gegenden aber nur die dritte oder vierte Geige spielen. Sie konnten bislang trotzdem Abgeordnete ins Parlament entsenden oder sogar eine Abgeordnetengruppe bilden.

In den 1990er-Jahren profitierte von dieser Regelung besonders die damalige PDS. Auch bei der Bundestagswahl 2021 rettete die Grundmandatsklausel der heutigen Linken den Kopf. Von jeher hatten gerade kleine Parteien durch die Klausel sprichwörtlich einen Fuß in der Tür. Auch wenn ihr Zweitstimmenergebnis nicht für die Bildung einer Fraktion ausreichte, konnten die Wählerinnen und Wähler auf ihre politischen Belange auf sich aufmerksam machen.

Der Wegfall der Grundmandatsklausel ist somit ein Anschlag auf demokratische Entwicklung und Innovation. Vor allem kleine und aufkeimende Parteien werden dadurch von Anfang an abgewürgt. Ihre Chancen, im Bundestag repräsentiert zu sein, sinken erheblich durch den Wegfall einer Regelung, die sich als überaus demokratisch erwiesen hat.

Die unvollständige Reform

Die kürzlich beschlossene Wahlrechtsreform schließt demokratische Türen, ohne an anderer Stelle neue zu öffnen. Beim Ausdruck des Wählerwillens sieht sie einseitig Einschränkungen vor. Die Erststimmen werden künftig weniger zählen als die Zweistimmen, direkt gewählte Kandidaten verpassen womöglich den Einzug in den Bundestag, regionale politische Bewegungen und Strömungen werden konsequent ignoriert. All diese Defizite lassen sich durch einfache und nachvollziehbare Maßnahmen ausgleichen.

Fällt das Direktmandat als Garantie für den Bundestageinzug weg, muss die Sperrklausel sinken. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass Parteien mit hohen Erst- aber niedrigen Zweistimmenergebnissen im Bundestag vertreten sind. Senkt man die Hürde zum Beispiel auf 3 Prozent, wäre es außerdem wahrscheinlicher, dass vorrangig Kandidaten von kleinen Parteien einziehen, die ein Direktmandat errungen haben.

Abgesehen davon, sind Direktmandate durch die neue Reform obsolet geworden. Sie spielen in der Abbildung des Wählerwillens künftig bestenfalls eine nebengeordnete Rolle. Wenn bei unseren Wahlen aber weiterhin der Gleichheitsgrundsatz gelten soll, müssen sie ganz abgeschafft werden. Nach der neuen Regelung verursachen sie einzig ein Ungleichgewicht. Solange die Balance nicht wiederhergestellt ist, bleibt die Reform unvollständig und unehrlich.


Die regierungstragenden Fraktionen haben am 17. März Geschichte geschrieben. Sie haben Schluss gemacht mit einem Wahlsystem, das überaus demokratisch war, das Parlament aber unnötig aufblähte. Mit einem Schnellschuss haben sie beide Aspekte dieses Systems überwunden. Künftige Wahlen werden dadurch nicht gerechter, sondern undemokratischer.

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