Munteres Farbenspiel

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Die Causa Hessen könnte Schule machen: Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) will mit der SPD koalieren. Diese ist nach zig GroKos auf Bundesebene und einer Endlosschleife an Wahlniederlagen auf Landesebene so beliebig und profillos geworden, dass niemand aus der Partei ernsthaft Bedenken gegen diese absurde Zusammenarbeit anmeldet. In den letzten Jahren ist eine regelrechte Experimentierfreude an Koalitionsmöglichkeiten entstanden. Es mangelt an aufrechten Politikern, denen Rückgrat und Anstand nicht fremd sind. Stattdessen setzt sich der Typus Berufspolitiker immer weiter durch. Genutzt hat das fast ausschließlich der extremen Rechten.

Ein flaues Gefühl

Die Ergebnisse der beiden Landtagswahlen in Bayern und Hessen vom Oktober haben niemanden wirklich überrascht: Die CSU verharrt in ihrem Allzeittief, die AfD ist im Höhenflug und die SPD liegt in beiden Flächenländern am Boden. Umso erstaunter waren Berichterstatter, Medien und Öffentlichkeit, dass sich Boris Rhein (CDU) ausgerechnet für eine Koalition mit den Sozialdemokraten entschieden hat. Der bisherige Koalitionspartner war sowieso nie der Wunschkandidat gewesen und außerdem haben die Grünen in Hessen deutlich an Rückhalt verloren. Dass das auch bei der SPD der Fall ist, hindert den Ministerpräsidenten nicht daran, dieses politische Wagnis einzugehen.

Auch wenn die Grünen einst als Gegenpol zu konservativer und wirtschaftsliberaler Politik gegründet wurden: In den letzten Jahren hat man sich an das Zusammenspiel aus Christdemokraten einerseits und den Bündnisgrünen andererseits gewöhnt. Eine solche Konstellation stand nach der Bundestagswahl 2013 zumindest zur Debatte, in Baden-Württemberg regiert Grün-Schwarz seit mehreren Jahren. Eine Koalition aus CDU und SPD hingegen bereitet vielen weiterhin ein flaues Gefühl.

Selbst als die beiden Parteien noch in der Liga der Volksparteien spielten und sich unter Kanzlerin Merkel mehrfach in Großen Koalitionen zusammenfanden, war das Regierungsbündnis vielen ein Dorn im Auge. Und tatsächlich warnen nicht wenige Politikwissenschaftler vor den Risiken einer Regierungszusammenarbeit der beiden mandatsstärksten Fraktionen. Wichtige Wählerinteressen könnten hinten runterfallen und letzten Endes die politischen Ränder stärken.

Dafür oder dagegen

Nun handelt es sich bei einer Koalition von CDU und SPD auf Landesebene in vielen Fällen nicht mehr um eine Große Koalition. Gerade deshalb macht es überhaupt keinen Sinn, dass die beiden Parteien eine Regierung bilden. Eigentlich sollten sie gegensätzliche politische Strömungen repräsentieren. Doch zur Wahrheit gehört: Sie tun es schon lange nicht mehr.

Die beiden ehemaligen Volksparteien haben sich gegenseitig kaputtkoaliert. Keiner kann mehr sagen, für was die beiden Parteien eigentlich stehen. Die ständigen GroKos unter Angela Merkel haben ein politisches Vakuum hinterlassen, dass andere Parteien vzu füllen versuchen. Besonders profitiert hat davon bisher die AfD.

Gerade weil es sich bei einer Großen Koalition um ein Regierungsbündnis der beiden Parteien mit der größten Wählerzustimmung handelt, ist es enorm schwierig, zu einem Kompromiss zu finden. Denn eigentlich ist eine Stimme für die stärkste Partei immer auch eine Stimme gegen die zweitstärkste und andersrum. Und tatsächlich hat die dauerhafte Suche nach Kompromissen bei beiden Parteien Spuren hinterlassen: Ihre Profile sind heute dermaßen ausgeleiert, dass sie grundsätzlich mit fast jeder anderen Partei koalieren könnten.

Opposition unerwünscht

Offensichtlich hat die Freude an der Suche nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner auf die anderen Parteien abgefärbt. Immer abenteuerlicher werden die Regierungsbündnisse, immer weniger unterscheidbar die Parteien. In Sachsen-Anhalt regiert seit über zwei Jahren eine Deutschlandkoalition, obwohl die FDP rein rechnerisch für eine Mehrheit gar nicht nötig wäre. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) schwafelt von einem Deutschland-Pakt in der Migrationspolitik und möchte am liebsten auch den Oppositionsführer in die Regierungsarbeit einbinden. Wie wenig selbstbewusst und wie sehr zerstritten kann eine Koalition denn sein?

Harte und konstruktive Oppositionsarbeit scheint aber sowieso nicht mehr im Trend zu liegen. Nach der Kommunalwahl in Sonneberg im Juni riet FDP-Chef Lindner sogar dazu auf, aus Protest lieber Die Linke statt der AfD zu wählen. Opposition ja, aber nur, wenn sie schön handzahm ist. Ein Armutszeugnis für die sterbende Fraktion.

Nebenschauplätze

Widerspruch ist inzwischen bei vielen bedeutenden Themen nicht mehr angesagt. Wird über den Sonderhaushalt für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro diskutiert, müssen die wenigen wahrnehmbaren Gegenstimmen übelste Diffamierungen über sich ergehen lassen. Wer heute nicht mehr Geld für Aufrüstung ausgeben will, ist fast automatisch ein Putin-Freund. Harte Kontroversen gibt es stattdessen fast ausschließlich bei softeren Themen wie dem Selbstbestimmungsgesetz und der Legalisierung des Containerns.

Dieser latente Kuschelkurs hat den etablierten Parteien viel an Glaubwürdigkeit und Zustimmung gekostet. Doch reicht ein Programm allein nicht aus, eine Partei zu prägen. Letztendlich sind es die Personen, welche das Programm umsetzen – oder vorgeben es zu tun. In dieser Hinsicht taumelt insbesondere die SPD an der Schwelle zur Lächerlichkeit. Die künftige Koalition mit der CDU in Hessen ist nur eines von vielen Beispielen. Während Altkanzler Schröder nach seiner Wahlniederlage 2005 niemals in ein Kabinett Merkel eingetreten wäre, konnte sein Nachnachnachfolger Schulz mit Müh‘ und Not davon abgehalten werden, nicht doch noch Minister unter Mutti zu werden.

Verrat an der Demokratie

Ein ähnlich schamloses Verhalten legte jüngst Bundesinnenministerin Nancy Faeser an den Tag. Als Spitzenkandidatin bei der Landtagswahl in Hessen bescherte sie ihrer Partei eine krachende Niederlage und verspielte damit ihre komplette Glaubwürdigkeit als führende Politikerin. Doch von persönlichen Konsequenzen keine Spur. Stattdessen bleibt sie auf ihrem Posten im Bundeskabinett als wäre nichts gewesen. Man stelle sich vor, ein arbeitender Bürger hätte sich ein so unverschämtes doppeltes Spiel erlaubt.

Der erste Platz im Wettbewerb um den dreistesten weil folgenlosen Gesichtsverlust geht aber eindeutig an Franziska Giffey. Die ehemalige Erste Bürgermeisterin Berlins macht zuerst Wahlkampf gegen die CDU, um nach absehbarer Niederlage auf den Rang einer Senatorin degradiert zu werden. Scheinbar hat die Frau ein Faible für ehrloses Verhalten.

All diese Personen haben eines gemeinsam: Sie kleben an der Macht und an ihren Posten. Das Streben nach Einfluss und Ministersesseln hat sie blind gemacht für Anstand und Moral. Vielleicht ist der Ausgang der Sondierungen in Hessen daher doch keine so große Überraschung.

Es wird nicht lange dauern, bis die extreme Rechte daraus macht: Der Ausgang der Wahl stand schon vorher fest. Die haben sich alle abgesprochen. Und leider muss man sagen: Sie haben das Publikum dafür. Der Vertrauensverlust in die Politik und die Demokratie ist mittlerweile so weit fortgeschritten, dass dieses verschwörerische Geraune die Stimme der Vernunft immer häufiger übertönt. Immer mehr Menschen treten beiseite, weil sie der rechten Hetze nichts entgegenzusetzen haben. Politiker wie Faeser, Giffey und Co. ziehen den aufrechten Demokraten den Boden unter den Füßen weg. Der Fall wird lang und schmerzhaft.

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Richtungsentscheidung

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Am 23. Oktober 2023 hatte die Hängepartie ein Ende: Sahra Wagenknecht und ihr Gefolge gaben die Gründung eines Vereins bekannt, aus dem Anfang kommenden Jahres eine neue Partei entstehen soll. Das enorme Medieninteresse dürfte nur von der Erleichterung der Linken getoppt worden sein. Die Einordnung der entstehenden Kraft war schnell geschehen: Es soll natürlich nach rechts gehen. Dass die Initiative von Menschen ausgeht, die teilweise sogar schon zu links waren, gilt heute wenig. Die nächsten Monate werden zeigen, ob es der neuen Partei gelingt, den politischen Begriff „links“ wieder mit Leben zu füllen.

Kurz bevor die wiederholten Ankündigungen zu nervig wurden, war es dann doch soweit: Die vielbeschworene Wagenknecht-Partei kommt. Trotz monatelanger Dauerpräsenz in den Medien schlug die Bekanntmachung des Vereins BSW – Für Vernunft und Gerechtigkeit e. V. medial hohe Wellen. Der Ansturm von Journalisten in der Bundespressekonferenz am 23. Oktober zeigte einerseits, wie hoch das Interesse an den Plänen von Sahra Wagenknecht und Anhang ist und andererseits, wie bitter nötig eine neue Partei in Deutschland offensichtlich ist.

Entscheidung mit Folgen

Auch wenn der Vereinsname etwas anderes vermuten lässt: Sahra Wagenknecht ist nicht allein. Neben ihr verließen neun weitere Bundestagsabgeordnete die Partei Die Linke. Zwei davon saßen bei der Bundespressekonferenz neben Wagenknecht, weil sie zum Vorstand des neugegründeten Vereins gehören. Der Parteiaustritt blieb nicht ohne Folgen. Es brach eine regelrechte Kampagne gegen die Abtrünnigen los, die sie vehement zur Rückgabe ihrer Mandate auffordert, um Fraktionsstatus und Arbeitsplätze von Fraktionsmitarbeitern zu sichern. Vieles ist in dieser Debatte nachvollziehbar, anderes wiederum an den Haaren herbeigezogen.

Der Verein um Sahra Wagenknecht war kaum eine Woche bekanntgegeben, da ließ sich das sonst seriöse Meinungsforschungsinstitut INSA dazu hinreißen, die noch nicht gegründete Partei in ihre Umfragewerte aufzunehmen. Aus dem Stand schafft es das Bündnis demnach auf 12 Prozent. Besonders die AfD schmiert ab. Es ist offensichtlich, dass für die neue Partei großes Wählerpotenzial vorhanden ist. Trotzdem sollten solche Umfragewerte mit Vorsicht genossen werden. Auf der einen Seite sind sie auch bei etablierten Parteien stets eine Momentaufnahme, auf der anderen Seite wird hier über eine Partei spekuliert, die es noch gar nicht gibt. Der BSW ist die Vorstufe einer Partei, die voraussichtlich im Januar gegründet werden soll. Dann wird man sehen, wie groß die theoretische Zustimmung zur Partei ist.

Was heißt hier Rand?

Das Bündnis wirbt in einem ersten Grundsatzprogramm für wirtschaftliche Vernunft, soziale Gerechtigkeit, persönliche Freiheit und für Frieden und Diplomatie. Obwohl eine politische Einordnung dieser neuen Kraft zunächst auf der Hand liegt, tun sich die Medien gerade damit sichtlich schwer. Sie konstatieren der kommenden Partei eine linke Sozialpolitik, die sich aber auch auf konservative Werte beruft, insbesondere wenn es um Migration geht. Sahra Wagenknecht selbst schürt diese Schwierigkeiten, indem sie das neue Label „linkskonservativ“ in den Raum wirft.

Der Vorwurf der Rechtsoffenheit ließ, wie bei allen Anstrengungen von Sahra Wagenknecht in den letzten Jahren, nicht lange auf sich warten. Dieses Mal wird ihr angekreidet, dass sie mit den eher konservativen Vorstellungen zur Einwanderungspolitik die potentiellen Wähler der AfD ansprechen will. Traut man der schon erwähnten INSA-Umfrage, gelingt ihr das auch ganz offensichtlich. Daraus jetzt aber den Vorwurf zu konstruieren, sie fische für diesen Erfolg am rechten Rand, ist absurd.

Die AfD erzielte in den letzten Monaten Umfragewerte von 20 Prozent oder mehr auf Bundesebene. Ein Fünftel der Befragten konnte sich also vorstellen, der Rechtsaußen-Partei die Stimme zu geben. Bei einer solchen Dimension an Zustimmung ist es hanebüchen, vom rechten Rand zu sprechen. Würde sich eine Partei tatsächlich nur auf einen der beiden politischen Ränder einschießen, würde sie maximal 2 Prozent erreichen. Das ist der Rand.

Mittlerweile haben aber weitaus mehr Menschen das Gefühl, dass außer der AfD keine andere Partei mehr ihre wirklichen Probleme anspricht. Natürlich lädt die AfD diesen Frust mit ihrer rechten Hetze auf, doch ist das keine Sackgasse. Wenn die Menschen das Gefühl haben, eine demokratische Alternative nimmt sich ihrer an und liefert dazu noch plausible Lösungsansätze, dann kehren sie der AfD den Rücken. Genau darauf weist auch die INSA-Umfrage hin.

Für immer rechts?

Doch es wie Perlen vor die Säue zu werfen: Seit ihrer umstrittenen Äußerungen zum Umgang mit straffälligen Asylbewerben 2016 haftet an Sahra Wagenknecht das Label Rechts. Auch das Podium bei der Bundespressekonferenz konnte dem wenig entgegensetzen, dabei waren neben der einstigen Linken-Ikone mindestens zwei weitere Personen platziert, die unumstritten immer auf der linken Seite des politischen Spektrums gekämpft haben.

Mit dem deutlichen Augenmerk auf soziale Gerechtigkeit, eine wohlstandssichernde Wirtschaftspolitik und eine auf Entspannung ausgerichtete Außenpolitik greift der neue Verein Ideen auf, welche sich die traditionelle Linke schon immer auf die Fahnen geschrieben hat. Als identitätsstiftendes Merkmal für die neue politische Kraft stürzen sich aber sogleich alle auf die Positionen zur Migration und geißeln diese als rechts.

Internationale Solidarität 2.0

Es ist richtig, dass der Gedanke der internationalen Solidarität schon immer einer der Grundpfeiler linker Strömungen war. Diese Überlegungen sind jedoch zu einer Zeit entstanden, als der Nationalstaat einen weitaus höheren Status hatte als heute. Die Globalisierung und die weltweite Mobilität spielten damals noch kaum eine Rolle. Das ist heute anders. Die Welt ist enger zusammengewachsen und viele Grenzen sind – zum Glück – überwindbar geworden.

Wer heute von echter internationaler Solidarität spricht, meint etwas anderes als vor 150 Jahren. Der Ruf nach offenen Grenzen ist heute nicht mehr realitätstauglich. Wer sich im Jahre 2023 wirklich international solidarisch zeigen will, dem muss daran gelegen sein, die wirtschaftlichen und militärischen Verwerfungen in den Herkunftsländern der Geflüchteten anzugehen und solche Nationen beim Wiederaufbau zu unterstützen. Mit dem Credo zum Abbau von Einreiseanreizen und der Beseitigung von Fluchtursachen vor Ort erweist sich die von Sahra Wagenknecht geplante Partei demnach als fortschrittlichere Kraft als ihre ärgsten Gegner im linken Spektrum.

Die Mischung macht‘s

Bildung und Aufbau der groß angekündigten Partei sollen überlegt und geordnet erfolgen. Spätestens zu den drei Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern in einem Jahr müssen aber entsprechende Landesverbände gegründet sein. Sahra Wagenknecht selbst hat angekündigt, dass sie Verschwörungstheoretiker und Extremisten von der Partei fernhalten will, um das auf Vernunft basierte Projekt nicht zu gefährden. Das wird vermutlich eine schwierige Aufgabe werden.

Das Podium bei der Bundespressekonferenz am 23. Oktober war jedenfalls ausschließlich mit Akademikern besetzt. Das ist grundsätzlich kein Problem, sollte aber nicht als Blaupause für die entstehende Partei dienen. Es ist elementar wichtig, dass keine Bewegung von oben entsteht, sondern eine authentische politische Kraft, die nicht nur über die Benachteiligten in der Gesellschaft spricht, sondern diese aktiv zu Wort kommen lässt.

Es gibt im Land sicher genügend Gestalten am linken Rand, die nur darauf gewartet haben, dass eine solche Partei entsteht, um dadurch ihre linken Ideologien zu verwirklichen. Auch ideologiegetriebene Politiker sind für eine Partei wichtig, sie dürfen aber nicht die Überhand gewinnen. Bestes Negativbeispiel dafür ist die SPD. Einst eine Partei aus Arbeitern, entwickelte sie sich zunächst zu einer Partei für die Arbeiter und ist heute nichts weiter als ein links angehauchter Verein aus Akademikern, die den Bezug zu den Wählern schon lange verloren haben. Die Wahlergebnisse der letzten Jahre sprechen hier Bände.

Das beste Mittel gegen diese politische Abgehobenheit ist die garantierte Einbindung von Menschen von der Basis. Es reicht nicht aus, nur über Menschen mit geringem Einkommen zu sprechen oder darüber zu diskutieren, wie man dem Pflegepersonal bessere Arbeitsbedingungen verschafft. Ebensolche Persönlichkeiten müssen in einer neuen Partei repräsentiert werden, sonst besteht die Gefahr, dass sie in wenigen Jahren ebenfalls zu den Etablierten zählt und als Teil der Elite wahrgenommen wird. Profitieren würde davon abermals die Rechte.


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Zeit für Beteiligung

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Seit knapp einem Monat diskutieren Menschen unterschiedlichen Alters, sozialer Herkunft und Biographie zum Thema Ernährung. Der erste vom Bundestag bestellte Bürgerrat ist ein Meilenstein in der Geschichte der deutschen Demokratie. Zum ersten Mal haben Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, selbst konkrete Konzepte und Vorschläge zu erarbeiten, mit denen sich der Bundestag befassen muss. Der Bürgerrat ist nur eines unter vielen Beispielen, wie viel demokratisches Potenzial in der Bevölkerung steckt. Trotz Bürgerrat wird dieses Potenzial in jüngerer Zeit an wenigen anderen Stellen genutzt oder ausgebaut. In Zeiten chronischer Krisen und gesellschaftlicher Spaltung ist eine solche Blockade besonders fatal.

Demokratischer Meilenstein

Seit dem 29. September wird in Berlin Demokratiegeschichte geschrieben. 160 zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger arbeiten seit diesem Tag im ersten vom Bundestag bestellten Bürgerrat zusammen. An drei Präsenzwochenenden und in sechs Online-Sitzungen treffen Menschen unterschiedlichen Alters und Herkunft, mit vielfältigen Meinungen und Interessen und mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen und Erfahrungen aufeinander. Sie alle werden bis Anfang des kommenden Jahres ein Gutachten erarbeiten, das im Anschluss dem Bundestag vorgelegt und verschiedene parlamentarische Prozesse durchlaufen wird. Dies kann dann dazu führen, dass sich Vorschläge aus dem Bürgerrat in künftigen Gesetzen niederschlagen werden.

Das Prinzip des Bürgerrats ist nicht neu. Irland führt ein ähnliches Modell schon seit Jahren erfolgreich durch und auch in Deutschland hat es bereits Bürgerräte gegeben. Im Gegensatz zum jetzigen Bürgerrat „Ernährung“ waren diese jedoch nicht offiziell vom Bundestag in Auftrag gegeben, sondern kamen durch das leidenschaftliche Engagement von Verbänden, Vereinen und NGOs zustande. Sie zeigten eindrucksvoll, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mehr direkte politische Beteiligung wünschen und im Ernstfall kluge und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen können. Es ist ein gutes und ermutigendes Zeichen, dass Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die Schirmherrschaft des ersten offiziellen bundesweiten Bürgerrats übernommen hat.

Lust auf Demokratie

In dieser Rolle betont die politisch mächtigste Frau im Land, dass der Bürgerrat keine Konkurrenzveranstaltung zum bewährten Parlamentarismus sei. Die vom Bürgerrat erarbeiteten Vorschläge sind nicht bindend, obwohl mit ihnen natürlich eine große politische Verantwortung und Erwartungshaltung einhergehe.

Dieses Schicksal teilt sich der erste offizielle Bürgerrat mit anderen bisherigen direktdemokratischen Bemühungen in der Bundesrepublik. Seit vielen Jahren versuchen verschiedene Organisationen und Initiativen, mehr Bürgerbeteiligung in Deutschland durchzusetzen. Mehr Demokratie e. V. führte beispielsweise kürzlich die zweite selbstorganisierte bundesweite Volksabstimmung zu kontroversen Themen durch. Die ungebrochen hohe Beteiligung an diesem Projekt zeigt deutlich, wie groß das Interesse in der Bevölkerung ist, stärker an wichtigen politischen Entscheidungen mitzuwirken.

Leuchtendes Beispiel

Die Schweiz gilt als Paradebeispiel für gelebte und funktionierende direkte Demokratie. Dort können die Menschen regelmäßig zu ausgewählten Themen abstimmen. Viele sehen in dem Alpenstaat ein leuchtendes Vorbild, wenn es um Bürgerbeteiligung geht. Andererseits ist die Schweiz viel kleiner als Deutschland. Sie ist politisch, wirtschaftlich und räumlich anders geprägt als die Bundesrepublik. Ein direkter Vergleich ist daher nur begrenzt möglich.

Trotzdem wäre ein stärkerer Einfluss der Bürgerinnen und Bürger auf die Gesetzgebung auch hierzulande wünschenswert. Entsprechende Instrumente müssen dabei über die reine Abstimmung hinausgehen. Natürlich sollten die Menschen im Land bei strittigen Themen die Möglichkeit haben, ihre Meinung dazu zu sagen. Doch auch wenn kontroverse Gesetze vom Parlament beschlossen werden, darf der Einfluss der Bürger nicht enden. Neben der klassischen Volksabstimmung und dem Volksbegehren, das Gesetzesinitiativen anstößt, sollte auch der Volkseinwand eine zentrale Rolle spielen, mit dem sich Gesetze nachträglich überprüfen lassen. Selbstverständlich muss all das an klare Regularien und strikte Quoren gebunden sein, um Missbrauch auszuschließen und Gesetzgebungsverfahren nicht zu kompliziert und langwierig zu machen.

Gewinn für’s Parlament

Das vielbemühte Schreckensbild einer drohenden Paralleldemokratie und einer Schwächung und Unterwanderung des Parlaments gilt übrigens nicht. Viel eher sind direktdemokratische Elemente auf Bundesebene eine Bereicherung für die bestehenden parlamentarischen Strukturen, weil sie ihnen neues Futter geben. Mit Volksabstimmungen und Co. lassen sich die Stimmungen in der Bevölkerung viel leichter einfangen. Auch in der laufenden Legislaturperiode erhalten die Abgeordneten auf diese Weise ein klares Stimmungsbild, nach dem sie ihre Politik ausrichten können.

Auf der anderen Seite haben die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, sich mit wichtigen politischen Themen intensiver auseinanderzusetzen als es jetzt der Fall ist. Wenn die Bürgerinnen und Bürger direkt an der Gesetzgebung mitwirken, stärkt das die Identifikation mit und den Zusammenhalt von Staat und Gesellschaft. Die direkte Demokratie ist die beste Medizin gegen chronisches „Die da oben“, weil daraus ein „Mit uns allen“ wird.

Fatale Zeichen

Leider will die aktuelle Bundesregierung davon nichts wissen. Obwohl mittlerweile gleich drei Parteien an der Macht sind, die mehr Bürgerbeteiligung immer offen gegenüberstanden, blockieren sie demokratische Mitbestimmung, statt sie zu fördern. Jüngstes Meisterstück an Demokratieabbau ist die im vergangenen März beschlossene Wahlrechtsreform. Diese entwertet die Erststimme bei Bundestagswahlen, weil Direktmandate weniger zählen und im Zweifelsfall nicht mehr ausschlaggebend sind für die parlamentarische Existenz kleiner Parteien. Auf diese Weise werden nicht nur regionale politische Strömungen missachtet, sondern der Wille vieler Bürgerinnen und Bürger insgesamt.

Die im Frühjahr beschlossene Wahlrechtsreform behindert demokratischen Fortschritt und zementiert die eigene Macht. Dieser Anschlag auf unser Wahlrecht ist ein denkbar schlechtes Vorzeichen für mehr direkte Demokratie. In einer Zeit der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung war dies der ungünstigste Schritt, um die Wogen zu glätten. Mit einer Regierung, die grundsätzlich davon ausgeht, die Moral für sich gepachtet zu haben, und der Missachtung eines Teils der Wählerstimmen wird auch in Zukunft ein bürgernahes Regieren kaum möglich sein. In Anbetracht der zahlreichen Herausforderungen ist aber sicher nicht die Abschottung von den Bürgerinnen und Bürgern das Gebot der Stunde, sondern deren Einbindung.

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