Richtungsentscheidung

Lesedauer: 8 Minuten

Am 23. Oktober 2023 hatte die Hängepartie ein Ende: Sahra Wagenknecht und ihr Gefolge gaben die Gründung eines Vereins bekannt, aus dem Anfang kommenden Jahres eine neue Partei entstehen soll. Das enorme Medieninteresse dürfte nur von der Erleichterung der Linken getoppt worden sein. Die Einordnung der entstehenden Kraft war schnell geschehen: Es soll natürlich nach rechts gehen. Dass die Initiative von Menschen ausgeht, die teilweise sogar schon zu links waren, gilt heute wenig. Die nächsten Monate werden zeigen, ob es der neuen Partei gelingt, den politischen Begriff „links“ wieder mit Leben zu füllen.

Kurz bevor die wiederholten Ankündigungen zu nervig wurden, war es dann doch soweit: Die vielbeschworene Wagenknecht-Partei kommt. Trotz monatelanger Dauerpräsenz in den Medien schlug die Bekanntmachung des Vereins BSW – Für Vernunft und Gerechtigkeit e. V. medial hohe Wellen. Der Ansturm von Journalisten in der Bundespressekonferenz am 23. Oktober zeigte einerseits, wie hoch das Interesse an den Plänen von Sahra Wagenknecht und Anhang ist und andererseits, wie bitter nötig eine neue Partei in Deutschland offensichtlich ist.

Entscheidung mit Folgen

Auch wenn der Vereinsname etwas anderes vermuten lässt: Sahra Wagenknecht ist nicht allein. Neben ihr verließen neun weitere Bundestagsabgeordnete die Partei Die Linke. Zwei davon saßen bei der Bundespressekonferenz neben Wagenknecht, weil sie zum Vorstand des neugegründeten Vereins gehören. Der Parteiaustritt blieb nicht ohne Folgen. Es brach eine regelrechte Kampagne gegen die Abtrünnigen los, die sie vehement zur Rückgabe ihrer Mandate auffordert, um Fraktionsstatus und Arbeitsplätze von Fraktionsmitarbeitern zu sichern. Vieles ist in dieser Debatte nachvollziehbar, anderes wiederum an den Haaren herbeigezogen.

Der Verein um Sahra Wagenknecht war kaum eine Woche bekanntgegeben, da ließ sich das sonst seriöse Meinungsforschungsinstitut INSA dazu hinreißen, die noch nicht gegründete Partei in ihre Umfragewerte aufzunehmen. Aus dem Stand schafft es das Bündnis demnach auf 12 Prozent. Besonders die AfD schmiert ab. Es ist offensichtlich, dass für die neue Partei großes Wählerpotenzial vorhanden ist. Trotzdem sollten solche Umfragewerte mit Vorsicht genossen werden. Auf der einen Seite sind sie auch bei etablierten Parteien stets eine Momentaufnahme, auf der anderen Seite wird hier über eine Partei spekuliert, die es noch gar nicht gibt. Der BSW ist die Vorstufe einer Partei, die voraussichtlich im Januar gegründet werden soll. Dann wird man sehen, wie groß die theoretische Zustimmung zur Partei ist.

Was heißt hier Rand?

Das Bündnis wirbt in einem ersten Grundsatzprogramm für wirtschaftliche Vernunft, soziale Gerechtigkeit, persönliche Freiheit und für Frieden und Diplomatie. Obwohl eine politische Einordnung dieser neuen Kraft zunächst auf der Hand liegt, tun sich die Medien gerade damit sichtlich schwer. Sie konstatieren der kommenden Partei eine linke Sozialpolitik, die sich aber auch auf konservative Werte beruft, insbesondere wenn es um Migration geht. Sahra Wagenknecht selbst schürt diese Schwierigkeiten, indem sie das neue Label „linkskonservativ“ in den Raum wirft.

Der Vorwurf der Rechtsoffenheit ließ, wie bei allen Anstrengungen von Sahra Wagenknecht in den letzten Jahren, nicht lange auf sich warten. Dieses Mal wird ihr angekreidet, dass sie mit den eher konservativen Vorstellungen zur Einwanderungspolitik die potentiellen Wähler der AfD ansprechen will. Traut man der schon erwähnten INSA-Umfrage, gelingt ihr das auch ganz offensichtlich. Daraus jetzt aber den Vorwurf zu konstruieren, sie fische für diesen Erfolg am rechten Rand, ist absurd.

Die AfD erzielte in den letzten Monaten Umfragewerte von 20 Prozent oder mehr auf Bundesebene. Ein Fünftel der Befragten konnte sich also vorstellen, der Rechtsaußen-Partei die Stimme zu geben. Bei einer solchen Dimension an Zustimmung ist es hanebüchen, vom rechten Rand zu sprechen. Würde sich eine Partei tatsächlich nur auf einen der beiden politischen Ränder einschießen, würde sie maximal 2 Prozent erreichen. Das ist der Rand.

Mittlerweile haben aber weitaus mehr Menschen das Gefühl, dass außer der AfD keine andere Partei mehr ihre wirklichen Probleme anspricht. Natürlich lädt die AfD diesen Frust mit ihrer rechten Hetze auf, doch ist das keine Sackgasse. Wenn die Menschen das Gefühl haben, eine demokratische Alternative nimmt sich ihrer an und liefert dazu noch plausible Lösungsansätze, dann kehren sie der AfD den Rücken. Genau darauf weist auch die INSA-Umfrage hin.

Für immer rechts?

Doch es wie Perlen vor die Säue zu werfen: Seit ihrer umstrittenen Äußerungen zum Umgang mit straffälligen Asylbewerben 2016 haftet an Sahra Wagenknecht das Label Rechts. Auch das Podium bei der Bundespressekonferenz konnte dem wenig entgegensetzen, dabei waren neben der einstigen Linken-Ikone mindestens zwei weitere Personen platziert, die unumstritten immer auf der linken Seite des politischen Spektrums gekämpft haben.

Mit dem deutlichen Augenmerk auf soziale Gerechtigkeit, eine wohlstandssichernde Wirtschaftspolitik und eine auf Entspannung ausgerichtete Außenpolitik greift der neue Verein Ideen auf, welche sich die traditionelle Linke schon immer auf die Fahnen geschrieben hat. Als identitätsstiftendes Merkmal für die neue politische Kraft stürzen sich aber sogleich alle auf die Positionen zur Migration und geißeln diese als rechts.

Internationale Solidarität 2.0

Es ist richtig, dass der Gedanke der internationalen Solidarität schon immer einer der Grundpfeiler linker Strömungen war. Diese Überlegungen sind jedoch zu einer Zeit entstanden, als der Nationalstaat einen weitaus höheren Status hatte als heute. Die Globalisierung und die weltweite Mobilität spielten damals noch kaum eine Rolle. Das ist heute anders. Die Welt ist enger zusammengewachsen und viele Grenzen sind – zum Glück – überwindbar geworden.

Wer heute von echter internationaler Solidarität spricht, meint etwas anderes als vor 150 Jahren. Der Ruf nach offenen Grenzen ist heute nicht mehr realitätstauglich. Wer sich im Jahre 2023 wirklich international solidarisch zeigen will, dem muss daran gelegen sein, die wirtschaftlichen und militärischen Verwerfungen in den Herkunftsländern der Geflüchteten anzugehen und solche Nationen beim Wiederaufbau zu unterstützen. Mit dem Credo zum Abbau von Einreiseanreizen und der Beseitigung von Fluchtursachen vor Ort erweist sich die von Sahra Wagenknecht geplante Partei demnach als fortschrittlichere Kraft als ihre ärgsten Gegner im linken Spektrum.

Die Mischung macht‘s

Bildung und Aufbau der groß angekündigten Partei sollen überlegt und geordnet erfolgen. Spätestens zu den drei Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern in einem Jahr müssen aber entsprechende Landesverbände gegründet sein. Sahra Wagenknecht selbst hat angekündigt, dass sie Verschwörungstheoretiker und Extremisten von der Partei fernhalten will, um das auf Vernunft basierte Projekt nicht zu gefährden. Das wird vermutlich eine schwierige Aufgabe werden.

Das Podium bei der Bundespressekonferenz am 23. Oktober war jedenfalls ausschließlich mit Akademikern besetzt. Das ist grundsätzlich kein Problem, sollte aber nicht als Blaupause für die entstehende Partei dienen. Es ist elementar wichtig, dass keine Bewegung von oben entsteht, sondern eine authentische politische Kraft, die nicht nur über die Benachteiligten in der Gesellschaft spricht, sondern diese aktiv zu Wort kommen lässt.

Es gibt im Land sicher genügend Gestalten am linken Rand, die nur darauf gewartet haben, dass eine solche Partei entsteht, um dadurch ihre linken Ideologien zu verwirklichen. Auch ideologiegetriebene Politiker sind für eine Partei wichtig, sie dürfen aber nicht die Überhand gewinnen. Bestes Negativbeispiel dafür ist die SPD. Einst eine Partei aus Arbeitern, entwickelte sie sich zunächst zu einer Partei für die Arbeiter und ist heute nichts weiter als ein links angehauchter Verein aus Akademikern, die den Bezug zu den Wählern schon lange verloren haben. Die Wahlergebnisse der letzten Jahre sprechen hier Bände.

Das beste Mittel gegen diese politische Abgehobenheit ist die garantierte Einbindung von Menschen von der Basis. Es reicht nicht aus, nur über Menschen mit geringem Einkommen zu sprechen oder darüber zu diskutieren, wie man dem Pflegepersonal bessere Arbeitsbedingungen verschafft. Ebensolche Persönlichkeiten müssen in einer neuen Partei repräsentiert werden, sonst besteht die Gefahr, dass sie in wenigen Jahren ebenfalls zu den Etablierten zählt und als Teil der Elite wahrgenommen wird. Profitieren würde davon abermals die Rechte.


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Ein Schritt nach links

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Ein Schritt nach links

Lesedauer: 7 Minuten

Gute Nachricht für alle Zukunftsbegeisterten: Meine Kristallkugel funktioniert wieder. Auf ihrer Suche nach politischen Schlagzeilen in den nächsten Monaten ist sie schnell fündig geworden. Eine besonders vorhergesehene Nachricht muss dabei unbedingt mit der Vorwelt geteilt werden. Denn es ist tatsächlich wahr – die Wagenknecht-Partei kommt. Wer jedoch glaubte, die gute Frau schmeißt den Laden allein, der wird sich wundern. Mal schauen, ob das Ding auch die Ergebnisse der nächsten Bundestagswahl kann…

Artikel auf tagesschau.de vom 2. September 2023:

In Saarbrücken gaben eine Reihe linksgerichteter Politiker und Aktivisten heute bei einer Pressekonferenz die Gründung einer neuen Partei bekannt. Die neue Partei für Soziale Gerechtigkeit (PSG) soll all jenen Menschen eine politische Heimat bieten, die nach Ansicht der Parteigründer in den letzten Jahren „sträflich vernachlässigt wurden“. Dem Podium der Initiatoren gehörten neben den ehemaligen Linkenpolitikern Sahra Wagenknecht, Oskar Lafontaine und Fabio De Masi auch eine Reihe Personen des öffentlichen Lebens und Funktionsträger von Nicht-Regierungs – Organisationen an.

Parteigründung mit Ansage

Schon lange war über die Gründung einer sogenannten Wagenknecht-Partei spekuliert worden. Die umstrittene Politikerin befeuerte diese Gerüchte immer wieder mit vagen und ausweichenden Antworten auf ihre politische Zukunft. Ihr wurde dabei wiederholt eine Nähe zum rechten Spektrum und der AfD unterstellt.

Parteimitgründer und Ehemann von Sahra Wagenknecht Oskar Lafontaine betonte bei der Pressekonferenz hingegen, dass es sich bei der neugegründeten Partei eindeutig um eine linke Partei handele. Dabei unterstrich er, dass sich die Partei insbesondere darauf konzentrieren werde, enttäuschte Wähler anzusprechen, die sich „teilweise schon von der Demokratie abgewandt haben“.

Wagenknecht fügte hinzu: „Es kann einfach nicht sein, dass immer mehr Themen der extremen Rechten überlassen werden. Es kommt einer Obsession gleich, dass alle Bereiche, die von der AfD angesprochen werden, sogleich tabuisiert werden. Unter solchen Voraussetzungen ist es kein Wunder, dass immer mehr Menschen denken, nur die AfD spreche die Wahrheit aus. Diesem Trend stellen wir uns entschlossen entgegen.“

Keine linke Fraktion mehr im Bundestag

Der Pressekonferenz folgte die Veröffentlichung eines gemeinsamen Gründungsmanifests, in der verschiedene Parteimitglieder der ersten Stunde zu Wort kommen. Die ehemalige Bundestagsabgeordnete der Linken Heike Hänsel begründet ihren Übertritt folgendermaßen: „Die Parteien des linken Spektrums sind schon viel zu lange viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Wenn solche Parteien nicht einmal dazu in der Lage sind, zu sozialen Protesten zu mobilisieren oder eine Friedensdemo zu organisieren, bin ich in solchen Gruppierungen fehl am Platz.“

Folgerichtig trat auch Parteigründerin Sahra Wagenknecht mit dem heutigen Tage aus Partei und Fraktion im Bundestag aus. Dem Parlament wird sie dennoch als fraktionslose Abgeordnete angehören, weil sie „von den Wählerinnen und Wählern einen Auftrag erhalten hat“. Die Linken-Abgeordneten Sevim Dağdelen und Klaus Ernst folgten Wagenknechts Beispiel und verließen ebenso die Fraktion. Anders als Wagenknecht und Dağdelen legte Ernst gleichzeitig sein Mandat nieder. Mit dem Fraktionsaustritt dreier Abgeordneter verliert Die Linke außerdem ihren Status als Fraktion im Bundestag. Die gewählten Abgeordneten bilden fortan eine Abgeordnetengruppe. Die Linke büßt dadurch zentrale Rechte im Parlament ein.

Fairer Mindestlohn und gute Arbeitsbedingungen

Auch wenn die Parteimitgründerin immer wieder betont, es handele sich bei der neuen Partei nicht um ein Projekt „Wagenknecht“, fungiert die 54-jährige Saarländerin gemeinsam mit dem Hamburger Fabio De Masi als provisorische Parteichefin. Beim ersten ordentlichen Parteitag im Dezember soll dann die Parteiführung gewählt werden. Während De Masi seine Kandidatur schon fest zusicherte, bittet Wagenknecht noch um etwas Bedenkzeit.

Im Fokus der jungen Partei steht in den nächsten Monaten die Aufstellung zur EU-Wahl im nächsten Jahr. Sie wolle alles dafür tun, damit wieder eine starke linke Kraft nach Brüssel entsandt wird. Pateigründer Lafontaine fügt hinzu: „Auch auf die Landtagswahlen im Herbst nächsten Jahres bereiten wir uns schon jetzt vor. Wir sehen gute Chancen, viele Menschen von unserem Programm zu überzeugen und überraschend gut abzuschneiden. Für eine Teilnahme bei den Wahlen in Bayern und Hessen haben wir leider die Frist verpasst.“

Gefragt zu den konkreten Zielen der Partei, waren sich die Gastgeber der Pressekonferenz einig: Man wolle für einen fairen Mindestlohn streiten, der nicht mehr von einer „realitäts- und wirtschaftsfernen Kommission“ abhängig sei. Die Partei möchte außerdem das Rentensystem grundlegend überarbeiten. Prekären Arbeitsverhältnissen wie Kettenbefristungen in der Leiharbeit sagten die Parteigründer deutlich den Kampf an. Auch für insgesamt bessere Arbeitsbedingungen und eine Stärkung der Arbeitnehmerrechte möchte sich die PSG einsetzen.

Parteimitgründerin Sahra Wagenknecht ist noch ein weiterer Aspekt wichtig: „Wir haben uns ganz bewusst dazu entschieden, keine politische Ausrichtung im Parteinamen zu nennen. Trotzdem ist es in unserem Interesse, die politische Linke wieder mit positiven Assoziationen zu belegen. Die Realpolitik der letzten Jahre hat diesen politischen Begriff leider völlig entkernt.“

Gemischtes Echo

Die Resonanz auf die Parteigründung ist durchwachsen und reicht von strikter Ablehnung bis zu großer Zustimmung. Besonders aus den Reihen der Linkspartei sind kritische Töne zu hören. Parteichef Martin Schirdewan äußert Zweifel an der Notwendigkeit einer neuen linken Partei und prognostiziert ihr ein ähnliches Schicksal wie der Sammlungsbewegung „aufstehen“: „Schon mit ihrem Projekt einer Sammlungsbewegung ist Sahra Wagenknecht böse hingefallen. Eine soziale Opposition im Bundestag gibt es bereits und das ist und bleibt Die Linke.“

Auch Vertreter der SPD sind von der Parteigründung nicht begeistert. Der Abgeordnete Michael Schrodi richtet deutliche Worte an die Adresse der Parteigründer: „Sie schwafeln im Parteiuntertitel von „Frieden, Freiheit, Menschenwürde“. In Wahrheit sind das Putinfreunde, die lieber mit Kriegsverbrechern und Faschisten paktieren als mit den Demokraten in diesem Land.“*

Mehrere Polit-Experten und Politikwissenschaftler sind ebenfalls skeptisch bis zurückhaltend, was die Erfolgschancen der neuen Partei anbelangt. Joris Schwalmer vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Tübingen sieht in der Parteigründung eine Konstellation verursacht, die linke Politik in Deutschland eher behindert als fördert: „Eine harmonische Koexistenz zwischen zwei linken Parteien, die den Anspruch auf die einzig wahre soziale Opposition stellen, wird nicht möglich sein. Letzten Endes werden beide Parteien untergehen und der linken Politik damit einen Bärendienst erweisen.“

Anders sehen es hingegen viele Bürgerinnen und Bürger. In ersten Umfragen könnten sich zwischen 15 und 20 Prozent der Befragten vorstellen, die neue Partei zu wählen. Vor der tatsächlichen Parteigründung waren es noch über 25 Prozent, weswegen solche Angaben mit Vorsicht zu genießen sind. Auffallend ist jedoch, dass viele der Befürworter der PSG aus den Reihen der AfD-Wähler kommen. Schon vor drei Wochen gab jeder zweite befragte AfD-Wähler an, im Zweifelsfall auch eine von Sahra Wagenknecht gegründete Partei zu wählen.

Aus der AfD gab es zunächst keine offizielle Stellungnahme zur Gründung der PSG. Trotzdem haben die Rechtspopulisten eindeutig Konkurrenz bekommen: In einer neuen INSA-Umfrage zum Wahlverhalten bei der Bundestagswahl fiel die AfD von vormals 20 auf nun nur noch 13 Prozent. PSG – Co-Chef De Masi hat dafür eine einfache Erklärung: „Diese Menschen sind keine Rechtsextremen. Wenn man ihnen ein vernünftiges und ehrliches politisches Angebot macht, dann hören sie auch zu.“


*Der Abgeordnete erhielt dafür ein weiteres Ordnungsgeld.

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Im Rechtsstaat nicht möglich

Lesedauer: 9 Minuten

Wir leben in Zeiten, in denen die Politik regelmäßig über den Schutz der Demokratie diskutiert. Angesichts der Entwicklungen in den letzten Jahren sind solche Debatten leider dringend notwendig. Allerdings lauert die Gefahr nicht nur auf der Straße. Die Feinde der Demokratie tragen heute nicht nur Springerstiefel oder marschieren in Schals vermummt bei Wirtschaftsgipfeln auf. Immer öfter schüren auch die Abgeordneten selbst eine Stimmung, die Gift ist für Rechtsstaat und Demokratie. Die angedrohte Impfpflicht ist dabei nur die jüngste Eskalationsstufe.

Kein leichter Start

Demokratien entstehen oft aus Notsituationen heraus. Die deutsche Geschichte liefert dafür gleich mehrere Beispiele. Nach zwei Weltkriegen war man sich sicher, dass die bisherigen Regierungsformen unweigerlich ins Unglück führten. Eine bessere und gerechtere Regierung musste her. Nach den schlechten Erfahrungen mit der ersten deutschen Demokratie schärften die Gründungsmütter und -väter die Leitplanken des neuen Deutschlands spürbar nach: Nie wieder sollte sich die Katastrophe des Dritten Reichs wiederholen.

Demokratien werden aber auch häufig blutig errungen. Obwohl das Jahr 1989 mit der friedlichen Revolution in der DDR assoziiert wird, gingen dem Mauerfall zahllose Gewalttaten voraus, die die angeblich demokratische ostdeutsche Republik als Unrechtsstaat entlarvten. Andernorts kämpften die Revolutionäre noch heftiger für eine demokratische Ordnung. In vielen afrikanischen Staaten ging der Demokratie ein brutales Blutvergießen voraus. Mit Waffengewalt machen die Taliban derzeit die wenigen zaghaften Schritte in Richtung Demokratie mit unerbittlicher Grausamkeit nieder.

Schutzlos ausgeliefert

Wir können in Deutschland also froh sein, in einer stabilen Demokratie zu leben. Es ist allerdings der größte Verrat an der Demokratie, sich auf den Errungenschaften auszuruhen. Demokratien leben von aktiven Demokraten und nicht von der Erkenntnis, dass es anderswo schlechter läuft. Und obwohl die meisten Demokratien aus aussichtlosen Krisen entstanden, bedeuten ähnliche Krisen oft das Ende der Demokratie.

Zweifellos ist die Covid-19 – Pandemie eine solche Krise. Die meisten Menschen verlieren den Glauben an die Demokratie, wenn sie sich zu lange in einem solchen Staat ungerecht behandelt fühlen. Sie wählen dann entweder extrem oder überhaupt nicht mehr. Die wachsende soziale Ungleichheit ist einer der Hauptgründe, weswegen die Wahlbeteiligung in der Bundesrepublik seit Jahrzehnten eher rückläufig ist.

Haben die Menschen dann zusätzlich das Gefühl, die Verfassung schütze sie nicht ausreichend vor einem übergriffigen Staat, kann das gefährliche Folgen haben. Eine Radikalisierung eines Teiles der Bevölkerung scheint dann unabwendbar. Die Erfahrung eines übergriffigen Staats macht derzeit eine penetrant überrepräsentierte Minderheit in unserem Land: die Ungeimpften.

Hate Speech live

Über fehlende Sichtbarkeit können sich diese Menschen tatsächlich nicht beschweren. Aus keiner Berichterstattung zur Pandemie sind sie inzwischen wegzudenken. Bei den neuesten Beschlüssen der Bund-Länder – Runde spielten sie erneut die Hauptrolle. Diese Omnipräsenz nutzen Politik und Medien immer stärker dazu, eine toxische Stimmung gegen diese Menschen zu schüren. Sie allein sollen schuld daran sein, dass die Pandemie noch nicht ausgerottet wurde. Sie allein tragen die Verantwortung für die hoffnungslos überlasteten Intensivstationen. Es ist ihr Verdienst, dass wir es seit kurzem mit einer noch infektiöseren Virusmutation zu tun haben. Wissenschaftliche Fakten, die auch andere Gründe für diese Entwicklungen ins Feld führen, gehen beinahe sang- und klanglos in unwichtigen Nebensätzen unter.

Den bisherigen Gipfel in dieser feindseligen Stimmung gegen Ungeimpfte brachte am 19. November die MDR-Redakteurin Sarah Frühauf in ihrem Kommentar zur aktuellen Lage. Unverblümt schob sie den Ungeimpften erneut die Schuld für die Dramen auf deutschen Intensivstationen in die Schuhe. In unerträglicher Weise verpackte sie ihre Hassbotschaften in einem zynischen Dankeschön an all diejenigen, die sich einer Impfung bislang verweigerten. Die öffentlich-rechtlichen vermarkteten diese Hetze als „Meinung“. In Wirklichkeit handelte es sich bei Frühaufs Beitrag aber um Hate Speech vom feinsten.

Besorgniserregende Entwicklung

Frühaufs Worte zeigen eindrücklich in welch besorgniserregendem Zustand sich unser Rechtsstaat mittlerweile befindet. Ersetzt man den Begriff „Ungeimpfte“ durch „Flüchtlinge“ und tauscht die überfüllten Intensivstationen mit gekürzten Sozialleistungen, erhält man eine Ansprache, die 2015 nicht denkbar gewesen wäre. Eine absolut heterogene Personengruppe wird auf das übelste diffamiert und angefeindet. Sarah Frühauf steht symbolisch für den Niedergang von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit in Deutschland.

Sie ist dabei keine Einzelkämpferin. Immer wieder poppen hässliche Wortfratzen auf wie eine angebliche „Pandemie der Ungeimpften“ oder eine „Tyrannei“ derselbigen. Dass die katastrophale Situation auch damit zusammenhängt, dass seit Beginn der Pandemie rund 6.000 Intensivbetten aus den Krankenhäusern verschwanden und die unzumutbaren Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen unzählige Pflegekräfte vergraulen, davon erzählen diese rhetorischen Hetzer nichts. Stattdessen geißelt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach in einem Kommentar auf Twitter alle Ungeimpften pauschal als unvorsichtig. Im Angesicht von 2G – Superspreader-Events ist das der blanke Hohn.

Mit dem Rechtsstaat nicht zu machen

Die Politik wartet währenddessen mit ihrer neuen Wunderwaffe gegen diese Unbelehrbarkeit auf: Die Impfpflicht soll es nun richten. Weite Teile aller demokratischen Parteien sprechen sich inzwischen für die staatlich verordnete Impfung aus. Das wird vermutlich besonders denen nicht schmecken, die sich bewusst und aus unterschiedlichen Gründen gegen eine Impfung entschieden haben. Sie nun faktisch zu einer Impfung zu zwingen und alle Ungeimpften zu kriminalisieren, ist keine demokratiefördernde Maßnahme. Die Betroffenen werden sich nun noch entschlossener von der Politik abwenden.

Sicher kann man über die medizinische Sinnhaftigkeit einer allgemeinen Impfpflicht diskutieren. Führt man eine solche Pflichtimpfung ein, muss man sich aber darüber im klaren sein, dass sie in letzter Konsequenz nicht mit rechtsstaatlichen Methoden durchsetzbar sein wird. Hartgesottene Impfgegner werden sich durch Androhung von Geldstrafen oder Freiheitsentzug nicht zu einer Impfung bewegen lassen. Nach Verbüßung der Strafe sind sie weiterhin ungeimpft und somit ein Risiko. Dem Impffortschritt erweist man durch die Schaffung solcher Impfmärtyrer einen Bärendienst.

Die Impfung kann an solchen Menschen nur durch körperlichen Zwang vollstreckt werden. Sie lediglich vom öffentlichen Leben auszuschließen und ihnen die Arbeitserlaubnis zu entziehen, ändert an ihrem Impfstatus nichts. Wenn der einzige Ausweg aus der Pandemie tatsächlich die Impfung ist und man gewillt ist, den Status der Vollimpfung zu erreichen, müssten solche Maßnahmen letztendlich an den wenigen verbliebenen Impfunwilligen vorgenommen werden.

Kein normaler Regelbruch

Vielen Befürwortern der allgemeinen Impfpflicht dürfte diese Tragweite der Maßnahme nicht bewusst sein. Sie übersehen, dass Gebote immer schwerer umzusetzen sind als Verbote. Wer eine Straftat begeht, hat den Regelbruch begangen, bevor er die Strafe zu spüren bekommt. Eine Impfpflicht ruft die Menschen aber zum aktiven Handeln auf. Menschenrechtskonforme Sanktionen bewirken hier nicht bei allen Verweigerern ein Einlenken.

Daher ist eine Impfpflicht grundsätzlich nur in Teilbereichen rechtsstaatlich umsetzbar. Auch die Impfpflicht im Pflegebereich ist eine medizinisch fragwürdige Entscheidung. Die Konsequenz aber ist klar: Wer nicht geimpft ist, darf in diesem Beruf nicht arbeiten. Aber was wäre die Konsequenz einer allgemeinen Impfpflicht? Wer nicht geimpft ist, darf nicht in diesem Land leben? Solche Absurditäten tragen allenfalls zu einer Radikalisierung auf den Straßen bei, nicht aber zur Eindämmung einer gefährlichen Krankheit. Österreich und die Niederlande sind traurige Beispiel dafür.

Methoden von rechts

Die meisten Politiker reagieren auf diesen offensichtlichen Zusammenhang nicht. Stattdessen verfallen sie in einen Politikstil, der der Demokratie weiter schadet. Unter einem Tweet der Linken-Politikerin Sarah Wagenknecht bekräftigte Karl Lauterbach (SPD) erneut, dass er die Position seiner Parlamentskollegin zur Impfung nicht teilte. In seinem Kommentar bezichtigte er außerdem alle Ungeimpften, generell unvorsichtig zu sein. Er schreibt damit allen Menschen, auf die dieser Impfstatus zutrifft, eine bestimmte Charaktereigenschaft zu. Er setzt sie alle gleich.

Eine solche Pauschalisierung ist natürlich nicht besonders intelligent. Die Ungeimpften eint nichts weiter als ihr Impfstatus. Unter ihnen sind Frauen und Männer, Lesben und Schwule, Linke, Bürgerliche und Rechte, große Menschen und kleine Menschen, manche mögen Zwiebeln, andere verabscheuen sie. Sie nun alle in einen Topf zu werfen, ist brandgefährlich. Diese Menschen sind keine Interessensgemeinschaft, bei der das bedingt funktionieren kann.

Lauterbach aber schreibt diesen ungeimpften Menschen nicht nur das Attribut „unvorsichtig“ zu. Er grenzt sie ganz bewusst als „die Bösen“ aus. Damit schürt er eine Stimmung, die sehr leicht außer Kontrolle geraten kann. Lauterbachs Tweet und Frühaufs Kommentar im Fernsehen zeigen eindrücklich, wie salonfähig das Instrumentarium der extremen Rechten mittlerweile geworden ist.

Mit solchen Beispielen entfernen wir uns jeden Tag einen Schritt weiter von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Die Menschen sind teilweise schon entzweit. Freundschaften zerbrechen an der Impffrage, Politiker hetzen offen gegen Andersdenkende, ein Heer von Querdenkern bedroht die sächsische Gesundheitsministerin vor ihrem Haus. Nicht nur im Kampf gegen die Pandemie ist es 5 vor 12. Auch die Demokratie ist in höchster Gefahr.


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