Richtungsentscheidung

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Am 23. Oktober 2023 hatte die Hängepartie ein Ende: Sahra Wagenknecht und ihr Gefolge gaben die Gründung eines Vereins bekannt, aus dem Anfang kommenden Jahres eine neue Partei entstehen soll. Das enorme Medieninteresse dürfte nur von der Erleichterung der Linken getoppt worden sein. Die Einordnung der entstehenden Kraft war schnell geschehen: Es soll natürlich nach rechts gehen. Dass die Initiative von Menschen ausgeht, die teilweise sogar schon zu links waren, gilt heute wenig. Die nächsten Monate werden zeigen, ob es der neuen Partei gelingt, den politischen Begriff „links“ wieder mit Leben zu füllen.

Kurz bevor die wiederholten Ankündigungen zu nervig wurden, war es dann doch soweit: Die vielbeschworene Wagenknecht-Partei kommt. Trotz monatelanger Dauerpräsenz in den Medien schlug die Bekanntmachung des Vereins BSW – Für Vernunft und Gerechtigkeit e. V. medial hohe Wellen. Der Ansturm von Journalisten in der Bundespressekonferenz am 23. Oktober zeigte einerseits, wie hoch das Interesse an den Plänen von Sahra Wagenknecht und Anhang ist und andererseits, wie bitter nötig eine neue Partei in Deutschland offensichtlich ist.

Entscheidung mit Folgen

Auch wenn der Vereinsname etwas anderes vermuten lässt: Sahra Wagenknecht ist nicht allein. Neben ihr verließen neun weitere Bundestagsabgeordnete die Partei Die Linke. Zwei davon saßen bei der Bundespressekonferenz neben Wagenknecht, weil sie zum Vorstand des neugegründeten Vereins gehören. Der Parteiaustritt blieb nicht ohne Folgen. Es brach eine regelrechte Kampagne gegen die Abtrünnigen los, die sie vehement zur Rückgabe ihrer Mandate auffordert, um Fraktionsstatus und Arbeitsplätze von Fraktionsmitarbeitern zu sichern. Vieles ist in dieser Debatte nachvollziehbar, anderes wiederum an den Haaren herbeigezogen.

Der Verein um Sahra Wagenknecht war kaum eine Woche bekanntgegeben, da ließ sich das sonst seriöse Meinungsforschungsinstitut INSA dazu hinreißen, die noch nicht gegründete Partei in ihre Umfragewerte aufzunehmen. Aus dem Stand schafft es das Bündnis demnach auf 12 Prozent. Besonders die AfD schmiert ab. Es ist offensichtlich, dass für die neue Partei großes Wählerpotenzial vorhanden ist. Trotzdem sollten solche Umfragewerte mit Vorsicht genossen werden. Auf der einen Seite sind sie auch bei etablierten Parteien stets eine Momentaufnahme, auf der anderen Seite wird hier über eine Partei spekuliert, die es noch gar nicht gibt. Der BSW ist die Vorstufe einer Partei, die voraussichtlich im Januar gegründet werden soll. Dann wird man sehen, wie groß die theoretische Zustimmung zur Partei ist.

Was heißt hier Rand?

Das Bündnis wirbt in einem ersten Grundsatzprogramm für wirtschaftliche Vernunft, soziale Gerechtigkeit, persönliche Freiheit und für Frieden und Diplomatie. Obwohl eine politische Einordnung dieser neuen Kraft zunächst auf der Hand liegt, tun sich die Medien gerade damit sichtlich schwer. Sie konstatieren der kommenden Partei eine linke Sozialpolitik, die sich aber auch auf konservative Werte beruft, insbesondere wenn es um Migration geht. Sahra Wagenknecht selbst schürt diese Schwierigkeiten, indem sie das neue Label „linkskonservativ“ in den Raum wirft.

Der Vorwurf der Rechtsoffenheit ließ, wie bei allen Anstrengungen von Sahra Wagenknecht in den letzten Jahren, nicht lange auf sich warten. Dieses Mal wird ihr angekreidet, dass sie mit den eher konservativen Vorstellungen zur Einwanderungspolitik die potentiellen Wähler der AfD ansprechen will. Traut man der schon erwähnten INSA-Umfrage, gelingt ihr das auch ganz offensichtlich. Daraus jetzt aber den Vorwurf zu konstruieren, sie fische für diesen Erfolg am rechten Rand, ist absurd.

Die AfD erzielte in den letzten Monaten Umfragewerte von 20 Prozent oder mehr auf Bundesebene. Ein Fünftel der Befragten konnte sich also vorstellen, der Rechtsaußen-Partei die Stimme zu geben. Bei einer solchen Dimension an Zustimmung ist es hanebüchen, vom rechten Rand zu sprechen. Würde sich eine Partei tatsächlich nur auf einen der beiden politischen Ränder einschießen, würde sie maximal 2 Prozent erreichen. Das ist der Rand.

Mittlerweile haben aber weitaus mehr Menschen das Gefühl, dass außer der AfD keine andere Partei mehr ihre wirklichen Probleme anspricht. Natürlich lädt die AfD diesen Frust mit ihrer rechten Hetze auf, doch ist das keine Sackgasse. Wenn die Menschen das Gefühl haben, eine demokratische Alternative nimmt sich ihrer an und liefert dazu noch plausible Lösungsansätze, dann kehren sie der AfD den Rücken. Genau darauf weist auch die INSA-Umfrage hin.

Für immer rechts?

Doch es wie Perlen vor die Säue zu werfen: Seit ihrer umstrittenen Äußerungen zum Umgang mit straffälligen Asylbewerben 2016 haftet an Sahra Wagenknecht das Label Rechts. Auch das Podium bei der Bundespressekonferenz konnte dem wenig entgegensetzen, dabei waren neben der einstigen Linken-Ikone mindestens zwei weitere Personen platziert, die unumstritten immer auf der linken Seite des politischen Spektrums gekämpft haben.

Mit dem deutlichen Augenmerk auf soziale Gerechtigkeit, eine wohlstandssichernde Wirtschaftspolitik und eine auf Entspannung ausgerichtete Außenpolitik greift der neue Verein Ideen auf, welche sich die traditionelle Linke schon immer auf die Fahnen geschrieben hat. Als identitätsstiftendes Merkmal für die neue politische Kraft stürzen sich aber sogleich alle auf die Positionen zur Migration und geißeln diese als rechts.

Internationale Solidarität 2.0

Es ist richtig, dass der Gedanke der internationalen Solidarität schon immer einer der Grundpfeiler linker Strömungen war. Diese Überlegungen sind jedoch zu einer Zeit entstanden, als der Nationalstaat einen weitaus höheren Status hatte als heute. Die Globalisierung und die weltweite Mobilität spielten damals noch kaum eine Rolle. Das ist heute anders. Die Welt ist enger zusammengewachsen und viele Grenzen sind – zum Glück – überwindbar geworden.

Wer heute von echter internationaler Solidarität spricht, meint etwas anderes als vor 150 Jahren. Der Ruf nach offenen Grenzen ist heute nicht mehr realitätstauglich. Wer sich im Jahre 2023 wirklich international solidarisch zeigen will, dem muss daran gelegen sein, die wirtschaftlichen und militärischen Verwerfungen in den Herkunftsländern der Geflüchteten anzugehen und solche Nationen beim Wiederaufbau zu unterstützen. Mit dem Credo zum Abbau von Einreiseanreizen und der Beseitigung von Fluchtursachen vor Ort erweist sich die von Sahra Wagenknecht geplante Partei demnach als fortschrittlichere Kraft als ihre ärgsten Gegner im linken Spektrum.

Die Mischung macht‘s

Bildung und Aufbau der groß angekündigten Partei sollen überlegt und geordnet erfolgen. Spätestens zu den drei Wahlen in den ostdeutschen Bundesländern in einem Jahr müssen aber entsprechende Landesverbände gegründet sein. Sahra Wagenknecht selbst hat angekündigt, dass sie Verschwörungstheoretiker und Extremisten von der Partei fernhalten will, um das auf Vernunft basierte Projekt nicht zu gefährden. Das wird vermutlich eine schwierige Aufgabe werden.

Das Podium bei der Bundespressekonferenz am 23. Oktober war jedenfalls ausschließlich mit Akademikern besetzt. Das ist grundsätzlich kein Problem, sollte aber nicht als Blaupause für die entstehende Partei dienen. Es ist elementar wichtig, dass keine Bewegung von oben entsteht, sondern eine authentische politische Kraft, die nicht nur über die Benachteiligten in der Gesellschaft spricht, sondern diese aktiv zu Wort kommen lässt.

Es gibt im Land sicher genügend Gestalten am linken Rand, die nur darauf gewartet haben, dass eine solche Partei entsteht, um dadurch ihre linken Ideologien zu verwirklichen. Auch ideologiegetriebene Politiker sind für eine Partei wichtig, sie dürfen aber nicht die Überhand gewinnen. Bestes Negativbeispiel dafür ist die SPD. Einst eine Partei aus Arbeitern, entwickelte sie sich zunächst zu einer Partei für die Arbeiter und ist heute nichts weiter als ein links angehauchter Verein aus Akademikern, die den Bezug zu den Wählern schon lange verloren haben. Die Wahlergebnisse der letzten Jahre sprechen hier Bände.

Das beste Mittel gegen diese politische Abgehobenheit ist die garantierte Einbindung von Menschen von der Basis. Es reicht nicht aus, nur über Menschen mit geringem Einkommen zu sprechen oder darüber zu diskutieren, wie man dem Pflegepersonal bessere Arbeitsbedingungen verschafft. Ebensolche Persönlichkeiten müssen in einer neuen Partei repräsentiert werden, sonst besteht die Gefahr, dass sie in wenigen Jahren ebenfalls zu den Etablierten zählt und als Teil der Elite wahrgenommen wird. Profitieren würde davon abermals die Rechte.


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Es gibt in Deutschland eine rechtsextreme Partei, die inzwischen bei jedem fünften Wähler Anklang findet. Was vor einigen Jahren noch völlig unvorstellbar schien, ist heute bittere Realität. Oft genug ist es der AfD gelungen, sich an die Spitze von Protestbewegungen zu stellen – die etablierten Parteien stattdessen hatten immer wieder Angst vor der eigenen Courage. Die 20 Prozent der potenziellen Rechtsaußen-Wähler vertrauen heute nur noch der AfD. Ein überzeugendes und authentisches Gegenangebot könnte sie aber in den demokratischen Diskurs zurückholen.

Rechts angekommen

20 Prozent. So viele Wählerinnen und Wähler können sich nach übereinstimmenden Angaben verschiedener Meinungsforschungsinstitute mittlerweile vorstellen, AfD zu wählen – und das ungebrochen seit Wochen. Die hohen Zustimmungswerte müssen endlich als schrilles Alarmsignal wahrgenommen werden. Es reicht nicht mehr aus, die Aussagekraft solcher Umfragen zum kurzfristigen Stimmungsbild zu relativieren. Ein Fünftel der deutschen Bevölkerung hat die Absicht erklärt, bei einer anstehenden Wahl eine Partei zu wählen, in der sich inzwischen die rechtsextremen Kräfte in weiten Teilen durchgesetzt haben.

Die AfD selbst bekennt sich zwischenzeitlich zu dieser Einordnung. Treten Abgeordnete anderer Parteien im Bundestag ans Redepult und begrüßen die Kollegen aus den „demokratischen Fraktionen“, ist schon lange kein empörter Aufschrei mehr von der rechten Seite zu hören. Offenbar haben sich die die vielen Männer und die wenigen Frauen aus der Rechtsaußen-Fraktion endgültig mit der Tatsache abgefunden, einer rechtsextremen Partei anzugehören.

Zehn Jahre nach ihrer Gründung ist die AfD nämlich nicht mehr das, was sie einst war. Was heute bei anderen Gelegenheiten oft als „Rechtsoffenheit“ kritisiert wird, war bei der AfD von Anfang an vorhanden. Diese Öffnung nach rechts machte es möglich, dass inzwischen Personen wie Bernd Höcke den Ton angeben. Was einst als eurokritische Partei unter Bernd Lucke begonnen hatte und von Frauke Petry immer wieder als „demokratisches Korrektiv“ betitelt wurde, ist heute nichts anderes als ein Sammelbecken für empörte und frustrierte Menschen, die von den anderen Parteien im Stich gelassen wurden.

Fähnchen im Wind

Um die hohe Gunst der Wähler aufrechtzuerhalten, erwies sich die AfD als überaus flexibel in der Positionierung zu bestimmten Themen. Dass sie sich an einigen Stellen sogar selbst widerspricht, ist zweitrangig. Die Menschen sind weniger an Tatsachen interessiert, sondern eher daran, dass ihnen zugehört wird. Dabei wird sich durch die AfD nichts für die meisten ihrer Wähler ändern – zumindest nicht zum Positiven. Denn obwohl sie sich gerne als die Partei für die kleinen Leute geriert, würde sie das Bürgergeld am liebsten gleich wieder abschaffen und Erwerblose schlimmer drangsalieren als Hartz IV es ermöglicht hat. Armut per Gesetz – für die AfD offenbar kein Problem.

Auch in ihrer Außenpolitik zeichnet Rechtsaußen alles andere als ein kohärentes Bild. So verurteilt sie einerseits die militärische Unterstützung für die Ukraine, bemängelt an anderer Stelle aber die unzureichende Ausrüstung der deutschen Bundeswehr. Pazifismus und Diplomatie spielen für die AfD wohl nur dann eine Rolle, wenn die deutschen Bürger wirtschaftliche Nachteile von Aufrüstung und Krieg zu befürchten haben. Standhafte Friedensliebe sieht wahrlich anders aus.

Ein Meisterstück an Opportunismus und Wendehalsigkeit hat die AfD jedoch im Frühjahr 2020 zum Besten gegeben. Während sie nach Bekanntwerden der ersten Coronafälle in Deutschland lautstark nach einem kompletten Shutdown verlangte, wollte sie einige Wochen später von diesem resoluten Vorgehen gegen das Virus nichts mehr wissen. Seitdem wird die Partei nicht müde, die Bundesregierung für ebendiese Maßnahme zu kritisieren und wirft ihr vor, sie hätte die Gesellschaft dadurch massiv wirtschaftlich geschädigt und die Bürger ihrer Freiheit beraubt. Jedes herkömmliche Fähnchen wäre bei solchen orkanartigen Umschwüngen längst gerissen.

Ganz vorne dabei

Es ist inzwischen zur politischen Gewissheit geworden: Lauert eine Krise, ist die AfD nicht weit. Die Partei hat mittlerweile einiges an Übung daran, sich an die Spitze von Protestbewegungen zu stellen. Geschickt nutzte sie die Sorge vieler Bürger aus und kaperte die Pegida-Bewegung. Sie trug nichts dazu bei, die selbsternannten Wutbürger wieder in den demokratischen Diskurs einzubinden, sondern stachelte deren Ängste systematisch weiter an, um daraus Profit in Form von Wählerstimmen zu gewinnen.

Ihr erster großer Coup gelang der AfD dann im Spätsommer 2015, als hunderttausende Flüchtlinge aus Syrien nach Deutschland strömten. Sie setzte dabei auf die desolate soziale Lage vieler Menschen und spielte sie gegen die Schutzsuchenden aus. Vielleicht wäre die AfD ohne die Flüchtlingskrise 2015 heute schon längst Geschichte.

Doch der Siegeszug der Rechtsextremen setzte sich fort. Als die ersten Menschen auf den damaligen Hygienedemos gegen die harten Maßnahmen zum Schutz vor dem Coronavirus aufbegehrten, erschlossen sich die Rechten auch diesen Protest. Dies gipfelte schließlich in der Querdenkerbewegung, auf welche die AfD leider ein Patent hält.

Immer wieder gelang es der AfD, ohne Programmatik und ohne echte Vision politische Lücken zu füllen. Sie bewies zuverlässig ein gutes Gespür dafür, welche Ängste die Menschen umtrieben und war als erstes zur Stelle, um den Unmut politisch abzubilden. Selten steckten dahinter geniale Einfälle und strategische Meisterleistungen: Die übrigen Parteien hatten inzwischen derart große Angst vor dem Frust der Bürger, dass sie sich stets von solchen Erhebungen fernhielten. Sicher spielte dabei in manchen Fällen auch das schlechte Gewissen eine Rolle, waren die etablierten Parteien doch häufig für die Misere der Bürger mitverantwortlich.

Prinzip „AfD“

In Wahlergebnissen erreicht die AfD ungeahnte Höhen. Als Partei hat sie längst aufgehört zu existieren, sollte es sie jemals in dieser Form gegeben haben. Viel eher ähnelt sie einem Schwamm, der sich zwangsläufig mit Wasser vollsaugt, wenn man ihm Gelegenheit dazu gibt. Ein System steckt nicht dahinter. Die AfD ist stattdessen Spielball der extremen Rechten, der sie einst so generös Zutritt gewährt hat. Bei der Positionierung zu bestimmten Themen ist die AfD außerordentlich dynamisch, als Partei ist sie erstaunlich statisch.

Gerade deshalb ist der Vorwurf, manche Positionen seien AfD-nah, in den meisten Fällen völlig haltlos. Es gibt keine AfD-nahen Positionen. Die AfD nähert sich stattdessen solchen Positionen, welche die anderen Parteien bereitwillig außer Acht lassen. AfD-nah sind Politiker nur, wenn sie bei diesem perfiden Spiel mitmachen. Sie lassen sich von den Rechtsextremen einen Politikstil aufzwingen, der so gar nicht förderlich ist für unsere Demokratie.

Weil die AfD so erfolgreich ein Themenfeld nach dem anderen mit ihrem rechtsextremen Gedankengut kontaminiert, verengt sich der geduldete Meinungskorridor immer weiter. Die Rechten haben es auf diese Weise zunehmend leicht, die übrigen Parteien vor sich herzutreiben – oder zu „jagen“, wie es Alexander Gauland einst bezeichnete. Dieser Politikstil der erzwungenen Eindimensionalität wird besonders von den Grünen eifrig kopiert. Sie machen das inzwischen so routiniert und kaltschnäuzig, dass man sich ernsthaft fragt, wer hier Meister und wer hier Schüler ist.

Ein besseres Angebot?

Die gute Nachricht ist: Einmal AfD heißt nicht immer AfD. Nur wenige Menschen wählen die AfD trotz ihrer rechtsextremen Tendenzen. Wähler, die bereitwillig über diese Offensichtlichkeit hinwegsehen, haben andere Interessen als Menschen, welche die AfD aus Enttäuschung und Frust wählen. Wer die AfD aus rein wirtschaftsliberalen, konservativen oder eurokritischen Motiven wählt, gehört zu einer Minderheit in der Wählerschaft der Partei. Dieses Potenzial liegt bei maximal 5 bis 6 Prozent. Die übrigen 15 Prozent der potenziellen AfD-Wähler hat in der AfD keine neue politische Heimat gefunden. Sie verharren mit den Rechtsextremen, weil sie keinen anderen Ausweg mehr sehen. Zu oft haben die demokratischen Parteien sie enttäuscht. Ihre Abkehr von diesen Parteien ist daher durchaus verständlich.

Außer der extremen Rechten gab es leider kein anderes Ventil für diese Wähler. Nun müssen sie sich seit Jahren anhören, dass es durch und durch schlecht ist, die AfD zu wählen. Kein einziger Wähler wird so zurückgewonnen. Überzeugende Argumente für die anderen Parteien hören diese Menschen nicht, dabei wären sie anderen Konzepten gegenüber sicher aufgeschlossen.

Ihr demokratisches Potenzial ist bei der AfD in gewisser Weise nur zwischengeparkt. Nur die AfD gibt ihnen momentan das Gefühl, ernstgenommen zu werden. Sobald irgendein anderer politischer Akteur ihnen ein besseres Angebot macht, wandern sie ab. Natürlich wird dieses Unterfangen mit voranschreitender Zeit schwieriger und wahrscheinlich haben die etablierten Parteien gar nicht mehr die Kraft, diese Anstrengung zu meistern. Neue politische Projekte sind daher gefragt, um solche Wähler abzubilden, die letzten Endes nur eines wollen: gehört werden.


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Unreif, uneinig und gefährlich

Lesedauer: 10 Minuten

Tritt ein Mitglied der AfD an das Redepult im Parlament, so ist Inhalt selten zu erwarten. Die Rechtspopulisten gebrauchen die Öffentlichkeit der politischen Debatte viel lieber dazu, um Stunk zu machen und sich zu inszenieren. Ihre Parlamentsmandate waren ihr Eintrittsticket zur politischen Manege, wo sie keine Gelegenheit auslassen, den parlamentarischen Betrieb zu blockieren oder lächerlich zu machen. Die Partei von rechts-außen hat es inzwischen leider geschafft, tief in den politischen und gesellschaftlichen Diskurs vorzudringen. Ihr ist es gelungen, Sprache umzudeuten und durch geschickte Stimmungsmache darüber hinwegzutäuschen, dass sie in Wahrheit nie aufgehört hat, eine politische Bewegung zu sein.

Extrawurst von rechts

Die Corona-Krise stellt uns gleich vor mehrere große Herausforderungen. Natürlich ist da zu allererst die medizinische Versorgung der Erkrankten und die Prävention vor Ansteckungen. Immer lauter wird aber auch die Frage nach den wirtschaftlichen Konsequenzen. Die strengen Maßnahmen, die bis vor wenigen Wochen galten, stellen viele Betriebe vor schier unlösbare Probleme. Viele bewegen sich am Rande des Existenzverlusts und nehmen die staatlichen Hilfen nur zu gern in Anspruch. Eine heftige Rezession wird das allerdings kaum abwenden dürfen, zu lange blieb schlicht die Nachfrage aus.

Völlig zurecht debattierte der Bundestag daher bereits Ende Mai über die Frage, wie die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie am besten abgefedert werden könnten. Die Zahl der Neuinfektionen war zu diesem Zeitpunkt bereits leicht rückläufig; der wirtschaftliche Aspekt gewann an Relevanz. Die vorgestellten Lösungsansätze waren dabei wahrscheinlich so vielfältig, wie es sich für ein Sechs-Fraktionen – Parlament gehört. Leider schoss dabei eine Fraktion wieder einmal quer. Man braucht keine Glaskugel, um zu ahnen, welche das war.

Der AfD-Abgeordnete redete zunächst starke fünf Minuten über das Thema, wirklichen Inhalt lieferte er wenig überraschend trotzdem nicht. Dann allerdings machte er in seinem letzten Satz eine Bemerkung, die durchaus als Highlight seiner viel zu drögen Rede bezeichnet werden kann. Er meinte, dass Deutschland viel mehr direkte Demokratie bräuchte.

Reden wir über Parteifinanzierung

Beinahe ist man verleitet, ihm einerseits recht zu geben und zu argumentieren, dass alle vier Jahre Kreuzchen-Machen eben nicht ausreicht. Andererseits könnte man ihm entgegnen, dass es in unserem Land ausreichend Beteiligungsmöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger gibt. Wesentlich nervenschonender ist es allerdings, wenn man zur Kenntnis nimmt, dass der gute Mann mit seinem letzten Wort zwar die Aufmerksamkeit zurückgewann, aber leider zielgenau das Thema verfehlte. Das Thema der Debatte waren die wirtschaftlichen Folgen der Pandemie und nicht die Notwendigkeit irgendwelcher plebiszitären Experimente. Es ist entlarvend, dass der AfD-Mann gerade dann Inhalt lieferte, als er so konsequent das Thema ignorierte.

Mit dieser Taktik steht er nicht alleine da in seiner Fraktion. Dass öffentliche Wortbeiträge im Plenum regelmäßig von der AfD dazu missbraucht werden, um den Zuhörern Themen unterzujubeln, die gerade gar nicht zur Debatte stehen, verwundert zwischenzeitlich keinen mehr. „Flüchtlinge raus“ und Forderungen nach dem Rücktritt der Bundeskanzlerin sind von der AfD selbst dann zu hören, wenn das eigentliche Thema meilenweit davon entfernt ist. Oder wer könnte den legendären Auftritt von Alice Weidel im Jahr 2018 vergessen, als ihr in der Debatte um den Bundeshaushalt nichts besseres einfiel, als die politische Planlosigkeit ihrer Partei mit dem Thema Spendenskandale zu übertünchen?

Doch politischer Analphabetismus und Inhaltslosigkeit ist nicht das einzige, wovon diese Reden zeugen. Noch viel deutlicher ist daraus eine tiefe Abneigung gegen den Parlamentarismus zu lesen. Enrico Komning von der AfD mag mehr direkte Demokratie gefordert haben, gemeint hat er allerdings weniger parlamentarische Demokratie. Der Rechtsaußen-Partei sind die Spielregeln des Parlaments wurschd. Sie sind davon überzeugt, dass ihr Bundestagsmandat gleichbedeutend damit ist, dass sie über die Tagesordnung bestimmen dürfen, wie sie wollen.

Diese Verachtung des parlamentarischen Systems macht die AfD quasi jeden Tag in den Ausschüssen deutlich. Im Plenum erreicht sie wenigstens ausreichend Klickzahlen und Likes für ihre abstrusen Thesen. Was im Ausschuss vor sich geht, interessiert doch sowieso keinen, schon gar nicht die Rechtspopulisten. Viel mehr Aufmerksamkeit bringt es doch, wenn man den parlamentarischen Betrieb bei jeder Gelegenheit so richtig aufmischt. Die Debatten im Bundestag wurden seit Einzug der AfD spürbar hitziger. Es kann auch vorkommen, dass die Partei komplett aus dem Parlament auszieht, wenn ihr was nicht passt. Das Plenum ist die Bühne der AfD, nur dort fühlt sie sich wohl. Und nur dort lässt sie sich zu teils widerlichen Aktionen hinreißen wie beispielsweise der inszenierten Schweigeminute 2018.

Weniger ist mehr

Doch nicht nur die Tagesordnung des Bundestags wird von der AfD nach Belieben erweitert oder geändert. Auch die Bedeutung mancher Begrifflichkeit hat sich verändert, seit Rechtsaußen sein düsteres Comeback feiert. Nie seit Pegida Montag um Montag auf die Straße ging, wurden Begriffe wie Meinungsfreiheit, Demokratie und Rechtsstaat so oft verwendet, wie es seitdem der Fall ist. Immer wieder wurden diese Begriffe bemüht. Angeblich wollen die sogenannten Wutbürger diesen Themen wieder neuen Glanz verleihen. Aber genau das Gegenteil ist eingetreten: Seitdem diese Begriffe so häufig und so sorglos in jede beliebige Debatte eingeworfen werden, haben die Ideen dahinter erheblichen Schaden genommen.

Denn mit der Sprache ist es wie mit dem Geld: Bei Inflation verliert beides an Wert. Die AfD redet oft und gerne von Sozialismus und Planwirtschaft. Da reicht es schon aus, wenn die FDP den Grünen in einem einzigen Punkt entgegenkommt. Mit echtem staatsverordnetem Sozialismus wie es ihn noch zu DDR-Zeiten gab, hat das rein gar nichts zu tun. Letztendlich ist dieser inflationäre Gebrauch einzelner Begriffe ein probates Mittel, um diesen Worten entweder den Schrecken zu nehmen oder das positive, was dahintersteckt. Danach kann die Bedeutung des Worts nach Belieben uminterpretiert werden. Manchmal machen es die anderen Parteien der AfD aber auch viel zu leicht. Auch Begriffe wie Nazi oder Faschismus wurden nach meinem Empfinden in den letzten Jahren viel zu häufig und viel zu unreflektiert verwendet.

Eindimensional und reaktionär

Diese Umwertung von Sprache ist der AfD in manchen Fällen fast vollständig gelungen. Erklärte Gegner der AfD sind aus Sicht der Rechten fast automatisch Grüne und damit Gutbürger. Wie es der AfD gelungen ist, das Wort „gut“ binnen kürzester Zeit zum Wort „schlecht“ umzudeuten, wird wohl auf ewig ihr Geheimnis bleiben. Aber es ist wie es ist: Gutbürger sind genau so wenig schlecht wie selbsternannte besorgte Bürger sich tatsächlich Sorgen machen. Diese Menschen machen sich keine Sorgen, sie haben Angst. Und diese Angst nutzt die AfD, um mehr und mehr von ihnen auf ihre Seite zu ziehen.

Aber im Grunde passt das zu einer Partei, die es mit fehlender politischer Kompetenz und einem Faible für Monothematik ins Bundesparlament geschafft hat. Seit Jahren hangelt sich die AfD von Thema zu Thema, welches sie, eines nach dem anderen, abarbeitet und ihm seinen Stempel aufdrückt. Mit mehreren Themen gleichzeitig wäre diese rein reaktionäre Partei auch heillos überfordert. Denn die AfD ist eine Partei, die vom Impuls lebt. Immer wieder muss sie neue Impulse geben, um im Gespräch zu bleiben. Sie dehnt die Grenzen aus, zum Beispiel die des sagbaren, und hält sich so über Wasser.

Wahnsinn mit Partei

Doch die Halbwertszeit von reaktionären Parteien und Bewegungen ist in der Regel ziemlich gering. Auch die AfD bekommt das immer wieder vor Augen geführt. Seitdem sie sich im Bundestag als Fraktion formiert hat, sind insgesamt fünf Mitglieder ausgetreten und gehen dem Rest des Parlaments seitdem als Fraktionslose nicht mehr ganz so oft auf die Nerven. Immer wieder betont die Fraktionsspitze, solche Entwicklungen seien in einer solch jungen Partei nicht weiter verwunderlich. Sie verweisen darauf, dass es gerade zu Beginn einer Parteigeschichte immer wieder zu Kurskorrekturen und abtrünnigen käme, das sei völlig normal. Man fragt sich allerdings schon, warum die AfD dann überhaupt zur Bundestagswahl angetreten ist, wenn der Parteiformierungsprozess offensichtlich noch nicht abgeschlossen ist.

Die Antwort darauf ist eigentlich ziemlich simpel. Die AfD hat sich aus der Not heraus zu einer Partei formiert. Einige Monate vor der Bundestagswahl 2013 war sie auf einmal da und mischte bereits diese Wahl auf. Sie scheiterte damals zwar noch knapp an der Fünf-Prozent – Hürde, beachtlich war ihr Wahlergebnis nach so kurzer Zeit aber allemal. Ihren Erfolg verdankte die AfD seitdem vor allen Dingen der Bewegung Pegida. Doch eine Bewegung kann nicht in den Bundestag einziehen. Wie praktisch, dass es da die AfD gab. Es ist sicher keine Übertreibung, wenn man sagt, dass die AfD der verlängerte Arm von Pegida im Bundestag ist.

Und dann?

Als Partei gibt die AfD übrigens ein ziemlich schlechtes Bild ab. Der Riss innerhalb der Partei geht immer tiefer. Lange ist klar, dass sich die wirtschaftsliberalen Kräfte immer weiter von den nationalistischen entfernen. Das ist auch überhaupt kein Wunder, schaut man sich die Forderungen der AfD etwas genauer an. Die meisten von ihnen sind von sehr kurzfristiger Natur. Sie sind auch sehr einfach gehalten, denn „Merkel muss weg“ und „Flüchtlinge raus“ kann nun wirklich ein jeder folgen.

Diese Forderungen sind allerdings viel zu kurzfristig, als dass sie ernsthaft als Haftmittel für die Partei taugen könnten. Hört man sich die Forderungen der AfD an, setzt fast automatisch der Reflex ein: „Und dann?“ Denn genau das ist die große Frage. Was kommt denn, wenn Merkel weg ist? Was soll sich an den sozialen Missständen im Land denn ändern, wenn alle Asylbewerber abgeschoben sind? Bisher hat die AfD darauf noch keine Antwort gefunden. Sie ist eine Partei, der es vor allem an politischer Reife mangelt. Leider aber nicht an Wählergunst…


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