Auf ein Neues

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Erneuerung kann die SPD. Zumindest auf den ersten Blick. Mit der Wahl von Bärbel Bas und Lars Klingbeil zu den beiden Parteivorsitzenden hat es die Partei mal wieder erfolgreich geschafft, die Realität zu verdrängen und eine Runde länger auf dem sinkenden Schiff zu drehen. Denn der Beschluss zum AfD-Verbot und die erschreckende Reaktion auf das Friedensmanifest haben deutlich gezeigt, welchem Kurs die einst stolze Volkspartei treubleibt.

Gewinner und Verlierer

Die SPD hat sich mal wieder eine neue Parteichefin zugelegt. Mit überwältigender Mehrheit von 95 Prozent haben die Genossinnen und Genossen am 27. Juni die ehemalige Bundestagspräsidentin Bärbel Bas zu einer ihrer Vorsitzenden gewählt (https://www.tagesschau.de/inland/innenpolitik/spd-doppelspitze-bas-klingbeil-100.html). Dass die Duisburgerin nach höherem strebt als ein stinknormales Bundestagsmandat, zeichnete sich schon während der Koalitionsverhandlungen ab. Ihr Name war für verschiedene Ministerien im Gespräch. Letztendlich wurde sie Arbeitsministerin. On top gab es jetzt noch das Krönchen der Obergenossin.

Viel interessanter als Frau Bas erschien den Medien aber wer anders: Im Zentrum der Berichterstattung stand nicht die strahlende Siegerin, sondern Vizekanzler Lars Klingbeil, dem die Delegierten mit weniger als zwei Dritteln der Stimmen eine böse Schlappe bescherten. Vom einstigen frischen Wind ist bei Klingbeil nicht mehr viel zu spüren. Das mag zum Teil an seiner politischen Bilanz liegen. Entscheidend ist aber, wer neben ihm steht.

Neustart, der wievielte?

Denn die SPD hat ein ausgesprochen großes Talent dafür, die größten Hoffnungsträger oder die größten Nieten zu ihren Vorsitzenden zu machen. Manchmal schaffen sie auch beides gleichzeitig, seinerzeit bei Martin Schulz sogar mit nur einer Person. Beim letzten Parteitag wählten die Delegierten wieder die Methode „Guter Soze, schlechter Soze“. Jedenfalls hat Lars Klingbeil die Vorgängerin von Bärbel Bas als glücklose Pappfigur würdig beerbt.

Doch die Strategie geht auf: Auch mit dem neuen Duo ist es der SPD gelungen, einen parteipolitischen Neubeginn herbeizuzaubern. Und so verkündet die neue Parteichefin mit viel Getöse, dass das deutsche Rentensystem chronisch ungerecht sei und Beamte doch bitte ihren fairen Anteil am Rententopf leisten sollen. Ein Glück ist die SPD wieder in einer Koalition mit der Union, welche den aufrührerischen Juniorpartner sogleich auf den Boden der Tatsachen zurückholt.

Die große Rentenreform ist einkassiert, aber wenigstens haben die Sozen es versucht. Auf ihren Koalitionspartner können sie sich eben verlassen: Immer wenn sie in der Regierung etwas bewegen wollen, funkt die böse CDU dazwischen. Klingt langweilig und ausgelutscht, funktioniert aber immer wieder. So stolpert die SPD von Neustart zu Neustart und hältst wenigstens ihre treue Stammwählerschaft bei der Stange.

Eine historische Aufgabe

Das Zeug zur Volkspartei hat sie indes nicht mehr. An der ein oder anderen Stelle wurde auf ihrem Parteitag sicher auch über soziale Gerechtigkeit gesprochen, ein anderes Thema hatte für die SPD aber Priorität: das langersehnte AfD-Verbot. Immer wieder hatte sich die Partei vor einer eindeutigen Positionierung zu den Plänen gedrückt. Am letzten Tag des Parteitags gab es aber keine Ausrede mehr. Schließlich geht es um die Verteidigung der Demokratie.

Oberste Parteiräson ist es nun, den juristischen Weg gegen die AfD zu beschreiten. Die SPD hat begriffen, dass sie mit durchschaubaren Schaufensteranträge und billigen Taschenspielertricks zwar der Einstelligkeit entfliehen kann, Traumwerte von 20 Prozent und mehr mit einer so starken AfD aber nicht drin sind.

Ein Manifest als Feigenblatt

Wieder einmal beschäftigt sich die SPD lieber mit sich selbst als mit der Lebenswirklichkeit der Menschen im Land. Statt zu hinterfragen, wie eine rechtsextreme Partei so stark werden konnte und ob eine Partei, die seit 1998 fast ununterbrochen an der Regierung beteiligt war, möglicherweise eine Mitschuld daran trägt, erklärt die SPD die AfD und alle ihre Wähler lieber pauschal zu Nazis, die es mit aller Härte zu bekämpfen gilt. Wie sehr sie damit 10 Millionen Wählerinnen und Wähler vor den Kopf stößt, ist der SPD egal. Die Genossinnen und Genossen vermarkten einen derart bürgerfernen und abgehobenen Beschluss sogar als das Beste, was sie auf ihrem Parteitag zustandegebracht haben.

Dabei hat das Friedensmanifest von Rolf Mützenich, Ralf Stegner und Konsorten doch eindrücklich gezeigt, dass in der ältesten Partei Deutschlands noch ein bisschen Sozialdemokratie drinsteckt. Dass dieser kurze Anflug vernunftorientierter Politik von der Konkurrenz sogleich zerrissen wird, war zu erwarten. Erschreckend war, mit welcher Leichtfertigkeit hochrangige Mitglieder der SPD das Manifest in Grund und Boden schmähten.

Ein Parteiausschlussverfahren blieb den Friedensbegeisterten nur deshalb erspart, weil sie sich hervorragend als linkes Aushängeschild für eine Partei eignen, deren Rückgrat nach Jahren der Regierungsbeteiligung völlig ausgeleiert ist. Die Bosse in der SPD wissen: Nur die Duldung von Mützenich, Stegner und Co. verhindert, dass noch mehr Wähler zum BSW oder gar zur AfD abwandern. Die Unterzeichner des Manifests sollten sich dringend überlegen, ob sie sich dazu missbrauchen lassen.


Der SPD droht ein trostloses Schicksal: Bis zur Einstelligkeit ist es noch ein langer Weg, aber bedeutend mehr als die mageren 16 Prozent bei der letzten Bundestagswahl werden sie lange Zeit nicht mehr holen. Beim Parteitag Ende Juni wurden die Weichen für diese Stagnation gestellt. Der Job von Bärbel Bas und Lars Klingbeil wird sein, die SPD im Gespräch zu halten, um sie vor einem weiteren Absacken zu bewahren. Auch sie werden auf dem politischen Friedhof gescheiterter Parteivorsitzender landen. Der nächste Neustart der SPD steht schon ins Haus.

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Zeit für Beteiligung

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Seit knapp einem Monat diskutieren Menschen unterschiedlichen Alters, sozialer Herkunft und Biographie zum Thema Ernährung. Der erste vom Bundestag bestellte Bürgerrat ist ein Meilenstein in der Geschichte der deutschen Demokratie. Zum ersten Mal haben Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, selbst konkrete Konzepte und Vorschläge zu erarbeiten, mit denen sich der Bundestag befassen muss. Der Bürgerrat ist nur eines unter vielen Beispielen, wie viel demokratisches Potenzial in der Bevölkerung steckt. Trotz Bürgerrat wird dieses Potenzial in jüngerer Zeit an wenigen anderen Stellen genutzt oder ausgebaut. In Zeiten chronischer Krisen und gesellschaftlicher Spaltung ist eine solche Blockade besonders fatal.

Demokratischer Meilenstein

Seit dem 29. September wird in Berlin Demokratiegeschichte geschrieben. 160 zufällig ausgeloste Bürgerinnen und Bürger arbeiten seit diesem Tag im ersten vom Bundestag bestellten Bürgerrat zusammen. An drei Präsenzwochenenden und in sechs Online-Sitzungen treffen Menschen unterschiedlichen Alters und Herkunft, mit vielfältigen Meinungen und Interessen und mit unterschiedlichen Bildungsabschlüssen und Erfahrungen aufeinander. Sie alle werden bis Anfang des kommenden Jahres ein Gutachten erarbeiten, das im Anschluss dem Bundestag vorgelegt und verschiedene parlamentarische Prozesse durchlaufen wird. Dies kann dann dazu führen, dass sich Vorschläge aus dem Bürgerrat in künftigen Gesetzen niederschlagen werden.

Das Prinzip des Bürgerrats ist nicht neu. Irland führt ein ähnliches Modell schon seit Jahren erfolgreich durch und auch in Deutschland hat es bereits Bürgerräte gegeben. Im Gegensatz zum jetzigen Bürgerrat „Ernährung“ waren diese jedoch nicht offiziell vom Bundestag in Auftrag gegeben, sondern kamen durch das leidenschaftliche Engagement von Verbänden, Vereinen und NGOs zustande. Sie zeigten eindrucksvoll, dass sich die Bürgerinnen und Bürger mehr direkte politische Beteiligung wünschen und im Ernstfall kluge und verantwortungsvolle Entscheidungen treffen können. Es ist ein gutes und ermutigendes Zeichen, dass Bundestagspräsidentin Bärbel Bas die Schirmherrschaft des ersten offiziellen bundesweiten Bürgerrats übernommen hat.

Lust auf Demokratie

In dieser Rolle betont die politisch mächtigste Frau im Land, dass der Bürgerrat keine Konkurrenzveranstaltung zum bewährten Parlamentarismus sei. Die vom Bürgerrat erarbeiteten Vorschläge sind nicht bindend, obwohl mit ihnen natürlich eine große politische Verantwortung und Erwartungshaltung einhergehe.

Dieses Schicksal teilt sich der erste offizielle Bürgerrat mit anderen bisherigen direktdemokratischen Bemühungen in der Bundesrepublik. Seit vielen Jahren versuchen verschiedene Organisationen und Initiativen, mehr Bürgerbeteiligung in Deutschland durchzusetzen. Mehr Demokratie e. V. führte beispielsweise kürzlich die zweite selbstorganisierte bundesweite Volksabstimmung zu kontroversen Themen durch. Die ungebrochen hohe Beteiligung an diesem Projekt zeigt deutlich, wie groß das Interesse in der Bevölkerung ist, stärker an wichtigen politischen Entscheidungen mitzuwirken.

Leuchtendes Beispiel

Die Schweiz gilt als Paradebeispiel für gelebte und funktionierende direkte Demokratie. Dort können die Menschen regelmäßig zu ausgewählten Themen abstimmen. Viele sehen in dem Alpenstaat ein leuchtendes Vorbild, wenn es um Bürgerbeteiligung geht. Andererseits ist die Schweiz viel kleiner als Deutschland. Sie ist politisch, wirtschaftlich und räumlich anders geprägt als die Bundesrepublik. Ein direkter Vergleich ist daher nur begrenzt möglich.

Trotzdem wäre ein stärkerer Einfluss der Bürgerinnen und Bürger auf die Gesetzgebung auch hierzulande wünschenswert. Entsprechende Instrumente müssen dabei über die reine Abstimmung hinausgehen. Natürlich sollten die Menschen im Land bei strittigen Themen die Möglichkeit haben, ihre Meinung dazu zu sagen. Doch auch wenn kontroverse Gesetze vom Parlament beschlossen werden, darf der Einfluss der Bürger nicht enden. Neben der klassischen Volksabstimmung und dem Volksbegehren, das Gesetzesinitiativen anstößt, sollte auch der Volkseinwand eine zentrale Rolle spielen, mit dem sich Gesetze nachträglich überprüfen lassen. Selbstverständlich muss all das an klare Regularien und strikte Quoren gebunden sein, um Missbrauch auszuschließen und Gesetzgebungsverfahren nicht zu kompliziert und langwierig zu machen.

Gewinn für’s Parlament

Das vielbemühte Schreckensbild einer drohenden Paralleldemokratie und einer Schwächung und Unterwanderung des Parlaments gilt übrigens nicht. Viel eher sind direktdemokratische Elemente auf Bundesebene eine Bereicherung für die bestehenden parlamentarischen Strukturen, weil sie ihnen neues Futter geben. Mit Volksabstimmungen und Co. lassen sich die Stimmungen in der Bevölkerung viel leichter einfangen. Auch in der laufenden Legislaturperiode erhalten die Abgeordneten auf diese Weise ein klares Stimmungsbild, nach dem sie ihre Politik ausrichten können.

Auf der anderen Seite haben die Bürgerinnen und Bürger die Möglichkeit, sich mit wichtigen politischen Themen intensiver auseinanderzusetzen als es jetzt der Fall ist. Wenn die Bürgerinnen und Bürger direkt an der Gesetzgebung mitwirken, stärkt das die Identifikation mit und den Zusammenhalt von Staat und Gesellschaft. Die direkte Demokratie ist die beste Medizin gegen chronisches „Die da oben“, weil daraus ein „Mit uns allen“ wird.

Fatale Zeichen

Leider will die aktuelle Bundesregierung davon nichts wissen. Obwohl mittlerweile gleich drei Parteien an der Macht sind, die mehr Bürgerbeteiligung immer offen gegenüberstanden, blockieren sie demokratische Mitbestimmung, statt sie zu fördern. Jüngstes Meisterstück an Demokratieabbau ist die im vergangenen März beschlossene Wahlrechtsreform. Diese entwertet die Erststimme bei Bundestagswahlen, weil Direktmandate weniger zählen und im Zweifelsfall nicht mehr ausschlaggebend sind für die parlamentarische Existenz kleiner Parteien. Auf diese Weise werden nicht nur regionale politische Strömungen missachtet, sondern der Wille vieler Bürgerinnen und Bürger insgesamt.

Die im Frühjahr beschlossene Wahlrechtsreform behindert demokratischen Fortschritt und zementiert die eigene Macht. Dieser Anschlag auf unser Wahlrecht ist ein denkbar schlechtes Vorzeichen für mehr direkte Demokratie. In einer Zeit der wachsenden gesellschaftlichen Polarisierung war dies der ungünstigste Schritt, um die Wogen zu glätten. Mit einer Regierung, die grundsätzlich davon ausgeht, die Moral für sich gepachtet zu haben, und der Missachtung eines Teils der Wählerstimmen wird auch in Zukunft ein bürgernahes Regieren kaum möglich sein. In Anbetracht der zahlreichen Herausforderungen ist aber sicher nicht die Abschottung von den Bürgerinnen und Bürgern das Gebot der Stunde, sondern deren Einbindung.

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