Volksparteien der Zukunft?

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Die Wahlen in Sachsen und Thüringen stellen die demokratischen Parteien auf eine harte Probe. In beiden Bundesländern zeichnen sich schwierige Regierungsbildungen ab. Brandenburg dürfte sich nach den Wahlen in knapp zwei Wochen dazugesellen. Klar dominante Kräfte gibt es nicht mehr, sehr unterschiedliche Parteien werden irgendwie zusammenkommen müssen. Aber hat die Volkspartei wirklich ausgedient? In den ostdeutschen Bundesländern sieht es eher so aus, als wären neue Parteien im Aufschwung, während die alten an Zustimmung verlieren. Dadurch entsteht eine momentane Balance zwischen den Akteuren, die das Koalieren deutlich erschwert. Ist diese Neujustierung des Parteiensystems ein rein ostdeutsches Phänomen oder blüht eine solche Entwicklung auch auf Bundesebene?

Stolz blickt EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) im Anschluss an die EU-Wahlen vom 9. Juni in die Kameras. Inbrünstig bedankt sie sich bei allen Unterstützern und lobt ihre Heimatpartei für einen engagierten und erfolgreichen Wahlkampf. Gerade ist ihre Partei in Deutschland stärkste Kraft geworden – mit 30 Prozent der Stimmen. Scheinbar ist es inzwischen üblich geworden, den ersten Platz zu feiern, egal, wie miserabel das Ergebnis eigentlich ist.

Volksparteien auf dem Abstellgleis?

Die CDU bildet sich ein, noch immer Volkspartei zu sein. Dabei konnte sie bei der EU-Wahl nicht einmal ein Drittel der Wähler mobilisieren. Der Trend hat mittlerweile Tradition: Auch die SPD feierte bei der letzten Wahl ihren ersten Platz – und übersah dabei offensichtlich, dass ihr Spitzenkandidat acht Jahre zuvor für das zahlengleiche Ergebnis so richtig rundgemacht wurde. Die Freude über das Ergebnis bei der Bundestagswahl 2021 will man der SPD dennoch nicht vergönnen. Im Gegensatz zum Schulz-Desaster war das tatsächlich ein fulminanter Erfolg.

Trotzdem scheinen CDU und SPD als Volksparteien ziemlich in die Jahre gekommen zu sein. Einst deckten sie ein breites Spektrum an Themen ab und hatten für quasi jeden was im Angebot. Als konservative und sozialdemokratische Kraft waren sie dennoch beide klar erkennbar. ´Mit Wahlergebnissen von unter 35 Prozent war in der Regel nicht zu rechnen.

Schon die Kommentatoren zur Bundestagswahl 2009 läuteten das verheißungsvolle Ende der Volksparteien ein. Die beiden Großen lagen ausgeblutet darnieder, die „Kleinen“ schnitten allesamt zweistellig ab. Der Abstand zwischen den ehemaligen Volksparteien und ihrer „Klientelkonkurrenz“ hat sich seitdem stetig verringert. Zwischen Zweit- und Drittplatzierten lagen bei der letzten Bundestagswahl keine zehn Prozent.

Die Halbstarken

Insbesondere im Osten der Republik kommt dafür mittlerweile die AfD den Werten der ehemaligen Volksparteien beachtlich nahe. In Thüringen reichte es für knapp 33 Prozent der Zweitstimmen und damit für die berüchtigte Sperrminorität. Der Aufstieg der AfD zeigt exemplarisch, dass die Volksparteien nicht zwangsläufig CDU oder SPD heißen müssen. Trotzdem greift auch in den ostdeutschen Bundesländern das Konzept der großen Volksparteien nicht.

Stattdessen zeichnet sich bei den Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg ein Modell mit mehreren Parteien zwischen 15 und 30 Prozent ab. Raum für kleinere Parteien scheint es kaum zu geben. Mit viel Glück zog die SPD in Sachsen und Thüringen in die Landtage ein, die Grünen waren nur halb so erfolgreich. Dieses Modell der „Mittelgroßen“ zeigt, wie zerrissen die Gesellschaft in politischen Fragen ist. Keiner der Parteien gelingt es mehr, einen Großteil der Wählerinnen und Wähler an sich zu binden. Das macht die Regierbarkeit umso schwieriger.

Denn höchstwahrscheinlich werden mindestens zwei dieser Halb-Volksparteien miteinander koalieren müssen. Das kann deshalb problematisch werden, weil keine dieser Parteien aus den Wahlergebnissen einen klaren Regierungsauftrag ziehen kann. AfD, CDU und BSW – und mancherorts auch SPD und Linke – sind zu stark, um reine Mehrheitsbeschaffer einer klar dominanten Partei zu sein. Sie sind andererseits aber auch zu schwach, um einen Führungsanspruch zu stellen. Harte Kompromisse werden nötig sein, um eine Koalition zu schmieden. Das kann eine Chance sein – oder so richtig in die Hose gehen.

Der Osten im Umbruch?

Zwei dieser Halbstarken treten besonders polarisierend auf. Sowohl AfD als auch BSW gerieren sich als die Kümmererparteien. Sie gefallen sich in ihren Rollen als Protestparteien. Im Gegensatz zu ihren Mitbewerbern haben sie ein klares Profil. Sie setzen viel stärker auf Emotionen als die anderen Parteien. Diese Methode zieht bei den Wählern. CDU, SPD und Linke werden sich vorsehen müssen, dass sie in dieser Stimmung des Protests nicht zerrieben werden. Denn möglicherweise befindet sich der Osten gerade nur in einer Phase des Umbruchs. Die neuen und die alten Volksparteien ringen um die Macht. Es ist durchaus denkbar, dass AfD und BSW die Volksparteien der Zukunft sind, während andere Parteien bei knapp über 5 Prozent zum Beiwerk verkümmern.

Die Bundesebene hat dieses Kräftemessen noch nicht erreicht – zumindest nicht so ganz. Zwar haben auch hier die ehemaligen Volksparteien CDU und SPD deutlich an Zustimmung eingebüßt, ihr Abstand zu den anderen Parteien ist aber noch relativ stabil. Wie schnell sich das ändern kann, haben wir schon um 2019 gesehen. Gestärkt durch die Proteste von Fridays von Future standen die Grünen mit teilweise über 20 Prozent in den Umfragen fast volksparteilich da.

Alles nur Trend?

In der politischen Debatte wird seit einiger Zeit gerne von der sogenannten Zeitenwende geredet. Ist der Niedergang der ehemaligen Volksparteien also auch nur das Produkt eines neuen politischen Zeitgeists? Sind die Volksparteien vielleicht einfach nur aus der Mode geraten? Wer das so sieht, macht es sich viel zu einfach.

Denn schon immer waren Veränderungen im Parteiensystem, insbesondere die Entstehung neuer politischer Kräfte, auf politische Entscheidungen zurückzuführen. Die Grünen haben sich gegründet, weil die Sorge der Menschen vor einer nuklearen Eskalation im Kalten Krieg von den übrigen Parteien nicht ernst genug genommen wurde. Die PDS konnte besonders im Osten des Landes so abräumen, weil sie sich erfolgreich als die Stimme des Ostens vermarktete. Der AfD wurde von Kanzlerin Merkel am rechten Rand bereitwillig Platz gemacht, weil ihre Agenda viele Konservative nicht mehr miteinband.

Zwischen Volksverrätern und Bürgernähe

Mehr politische Konkurrenz bedeutet natürlich auch Einbußen bei den eigenen Wahlergebnissen. Das schlechte Abschneiden der einstigen Volksparteien CDU und SPD ist aber auch auf ein weiteres Phänomen zurückzuführen. Seit Jahren ist nämlich eine wachsende Distanz zwischen Wählerinnen und Wählern auf der einen Seite und den Parteien auf der anderen Seite zu beobachten. Ihren krassesten Ausdruck findet diese Entwicklung auf Demonstrationen, wo führende Politiker unverhohlen zum Rücktritt aufgefordert oder sogar als „Volksverräter“ bezeichnet werden.

Hier spielt der vorherrschende politische Stil eine wichtige Rolle. Zwar ist man seit einiger Zeit darum bemüht, wieder als besonders volksnah wahrgenommen zu werden, gelingen will das aber keiner der etablierten Parteien so richtig. Viel eher gewinnt man den Eindruck, die Wähler würden mit Samthandschuhen angefasst werden. Bei den Wählern kommt indes eine andere Botschaft an: Ihr seid uns egal, unsere politische Agenda ist uns wichtiger als eure Bedürfnisse.

So entsteht ein toxischer Nährboden, auf dem besonders populistische Parteien gut gedeihen. Seitdem die AfD die politische Manege betreten hat, ist der Ton zweifelsohne rauer geworden. Vieles, was lange Zeit als unsagbar galt, ist heute wieder salonfähig. Je länger die Populisten und Extremisten die Debatte mitbestimmen, desto tiefer sickert ihr Gift in die Mitte unserer Gesellschaft. Es beschleicht einen das Gefühl, dass heute das laute Argument mehr zählt als das vernünftige. Die etablierten Parteien können sich noch so abmühen – ihre sachorientierten Lösungsansätze interessieren immer weniger Menschen.


Die AfD hat nachhaltig Eindruck hinterlassen. Vieles was sie zerstört hat, ist möglicherweise irreversibel. Ob man sie wieder ganz loswird, ist eine schwierige Frage. Aber sie hat eines völlig klargemacht: Die Menschen fühlen sich nicht mehr mitgenommen. Bevor die etablierten Parteien mit den faktenbasiertesten und am besten durchdachten Lösungen daherkommen, sollten sie sich ernsthaft überlegen, ob es vielleicht weniger an den Inhalten, sondern eher ihrer Ansprache liegt, dass sie heute stehen, wo sie stehen.


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Realitätsverweigerung terminalis

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Freifahrtschein ins Establishment

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Bei der EU-Wahl vom 9. Juni erlebte Die Linke eine herbe Klatsche. Mit weniger als 3 Prozent an Zustimmung kratzt sie an der politischen Bedeutungslosigkeit. Der Weg nach unten zeichnete sich lange ab: personelle Querelen, eine Abspaltung und die schiere Hilflosigkeit gegenüber der AfD begleiteten die Partei bei ihrem kontinuierlichen Abstieg. Die Bemühungen, den linken Parteiflügel der Grünen zu ersetzen, waren das Eintrittsticket der einstigen Protestpartei ins Establishment.

“Die Linke als sozialistische Partei steht für Alternativen, für eine bessere Zukunft.“ So beginnt das bis heute gültige Erfurter Programm der Linken. Selten hat ein Programm dem Test der Zeit so wenig standgehalten wie das Grundsatzprogramm dieser einst stolzen Protestpartei. Nicht nur die Wahlergebnisse gingen seit 2011 fast kontinuierlich in den Keller, auch inhaltlich haben die Ex-Sozialisten einen bemerkenswerten Wandel vollzogen.

Der „Schön wär’s“-Wahlkampf

Gerade im Wahlkampf begegnet man vielen pointierten Losungen wie „Mieten runter“, „Waffen schaffen keinen Frieden“ oder „Gegen Hass und rechte Hetze“. Währenddessen machen sechsarmige Krankenschwestern auf die unmenschliche Belastung in Pflegeberufen aufmerksam. Die Umfrageergebnisse der Linken geben trotzdem nicht viel her.

Doch auch zwischen den Wahlen legen sich die Linken mächtig ins Zeug. Die letzten Monate des Jahres 2022 sollten als der „heiße Herbst“ in die Geschichtsbücher eingehen. Massenproteste, Streiks und Demonstrationen waren aber fast nirgends zu sehen. Die niederschmetternden Wahlergebnisse und die ausbleibende Mobilisierung sind auch überhaupt kein Wunder. Die Menschen vertrauen dieser Partei nicht mehr. Sie empfinden ihr angebliches Angebot nicht mehr als glaubwürdig. In der Folge wandern sie ab.

Klare Prioritäten

Überraschend ist das nicht. Obwohl viele Wahlslogans in bekannter linkspopulistischer Manier daherkommen, waren es vor allem personelle Entscheidungen, die den Niedergang der Linken eingeläutet haben. Indem man Chiffren wie Carola Rackete, Katja Kipping, Bernd Riexinger und andere in Spitzenpositionen hievte, vollzog man auch einen thematischen Kurswechsel. Tonangebend in der Partei sind heute Leute, die soziale Gerechtigkeit zwar toll finden, deren Verwirklichung aber vor Zielen wie Gendergerechtigkeit, offenen Grenzen und einer möglichst vielfältigen Gesellschaft zurücktreten muss.

Einige Genossinnen und Genossen haben das im Laufe ihrer Parteilaufbahn begriffen und früher oder später das Weite gesucht. Manche davon haben zwischenzeitlich einen eigenen Laden aufgemacht. Andere hingegen kommen von der Partei nicht los – wer könnte es ihnen nach teils jahrzehntelangem Engagement verdenken? Ehrenwerte Persönlichkeiten wie Gesine Lötzsch und Gregor Gysi werden sich aber noch umschauen.

Protest von gestern

Der einstige Erfolg der Linken war keineswegs selbstverständlich. Nach dem Verlust des Fraktionsstatus‘ nach der Bundestagswahl 2002 war davon auszugehen, dass die damalige PDS wieder auf das Niveau einer ostdeutschen Protestpartei zusammenschrumpft. Dann kamen Hartz IV und der Zusammenschluss von PDS und WASG. Eine neue starke linke Kraft war geboren. Sie bot den etablierten Parteien Paroli und verfehlte ihre Wirkung insbesondere in den Anfangsjahren nicht. Die Kommentierung der Parteifusion war teils polemisch und von einer Abneigung gegen einst politische Weggefährten geprägt. Heute freilich wurde Die Linke als die Angstfigur auf der politischen Bühne von anderen abgelöst.

Die Krone der tonangebenden Gegenmeinung hat Die Linke auf ihrem Weg ins Establishment nur allzu bereitwillig abgegeben. Um als mögliche Regierungspartei mitmischen zu können, hat sie sich inzwischen gut im immer enger werdenden geduldeten Meinungsspektrum eingerichtet. Sie ist die nervige Cousine, neben der niemand bei der Geburtstagsfeier sitzen möchte, aber die trotzdem irgendwie dazugehört. Selbst Finanzminister Christian Lindner (FDP) riet bei einer Bürgerveranstaltung Wahl der Linken, wenn man mit der herrschenden Politik nicht einverstanden sei. Vom Vorsitzenden der Reichenpartei zur Zweckopposition geadelt – noch tiefer kann man als angeblich sozialistische Partei nicht sinken.

Willkommen im Establishment!

Der Parteispitze der Linken ist das indes egal. In der Hoffnung, irgendwann einmal in den Genuss von Ministerposten auf Bundesebene zu kommen, führt sie weiter ein vermeintlich richtiges Leben im falschen. Anstatt sich der realen Gefahr bewusst zu werden, nach der nächsten Bundestagswahl nicht einmal mehr gewöhnliche Abgeordnetensitze abstauben zu können, zelebriert die Partei unbehelligt ihre Aufnahme ins Establishment.

Fragwürdiger Post: Mit Vollkaracho in die Bedeutungslosigkeit (Quelle: X)

So machte der thüringische Landesverband der Partei in den sozialen Medien allen Ernstes Stimmung gegen die „Putinfreunde[…] von AfD und BSW“. Sie stieg damit unreflektiert in den Kanon des Mainstreams ein, der sich mittlerweile bei seinen Diffamierungen und Verunglimpfungen gegen Andersdenkende immer aggressiver zu überbieten versucht. Perverser kann man nicht zur Schau stellen, dass man verlernt hat, unbequem zu sein.

Die Alarmsignale wurden nicht gehört. Die Linke verliert seit Jahren eine Wahl nach der anderen. Der Erfolg in Thüringen ist ein Ausreißer nach oben und einzig und allein dem Sympathieträger Bodo Ramelow zu verdanken. Bei der gerade zurückliegenden EU-Wahl halbierte die Partei ihr blamables Ergebnis von 2019 sogar noch einmal. Auch wenn die Parteifunktionäre auf Biegen und Brechen etwas anderes beschwören: In solchen Wahlergebnissen liegt die Zukunft dieser Partei.

Satellit der Grünen

Die Partei Die Linke ist heute nichts weiter als der verlängerte Arm des linken Parteiflügels der Grünen. Dieser findet in seiner eigenen Partei schon lange kein Gehör mehr und muss sich des ehemals sozialistischen Satelliten bedienen. Erfolgreich sind die Linken damit besonders in den westdeutschen Bundesländern. Gerade in Großstädten ist sie beliebt wie selten. Sie holt dort ebenjenes hippe Milieu ab, das sich immer mehr von den Grünen abwendet. Dazu passt, dass sie einzig von den Grünen Stimmengewinne für sich beanspruchen kann.

Solange die eher bürgerlichen Kräfte bei den Grünen so stark wie jetzt sind, stehen die Chancen gut, dass die Linken bei künftigen Wahlen zumindest einen eigenen Balken bekommen. Zögen die Grünen allerdings aus dem Desaster vom 9. Juni den Schluss, wieder eine soziale Agenda zu fahren, sieht es für Wissler, Schirdewan und Co. düster aus. Dann dürfte selbst der hart errungene neue Posten in Gefahr sein: die Stärkste unter den Schwächsten.

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Politischer Neustart gesucht

Lesedauer: 7 Minuten

Die Demos gegen Rechts reißen nicht ab. Woche für Woche gehen zigtausende Menschen auf die Straße, um klare Kante zu zeigen gegen rechte Hetze, Radikalismus und Deportationsfantasien. Die Demos stellen eindrucksvoll unter Beweis, wie stark sich weite Teile der Bevölkerung mit Demokratie und Rechtsstaatlichkeit identifizieren. Die Umfragewerte der AfD berührt das bisher nur peripher. Trotz der bekanntgewordenen Pläne zur sogenannten „Remigration“ von Menschen halten viele der AfD weiterhin die Stange. Hoffnung setzen viele in das neu gegründete Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW). Ob die neue Partei die extreme Rechte wirklich schwächen kann, hängt davon ab, wie überzeugend sie ihr Programm und ihren neuen politischen Stil insbesondere gegenüber den Nichtwählern vertritt.

Die AfD halbieren?

Seit Monaten wird darüber spekuliert, was das neue BSW politisch in Deutschland bewirken kann. Wird es einen Politikwechsel geben? Schließt sich die Repräsentationslücke? Halbiert das Bündnis die AfD? Besonders ans letzterer Frage scheiden sich die Geister. Während manche in der Wagenknechtpartei nichts weiter sehen als neuen populistischen Ballast, glauben manche in der einstigen Linken-Ikone eine politische Heilsbringerin zu erkennen.

Die Umfragewerte der neuen Partei können sich jedenfalls sehen lassen. Schon seit letztem Sommer kursieren Stimmungswerte, die dem Bündnis teilweise mehr als 20 Prozent an Wählerzustimmung attestieren. Das ist insoweit fraglich, da vor einem guten halben Jahr noch nicht einmal feststand, ob die neue Partei überhaupt kommt. Klar wurde dadurch nur: Es gibt Bedarf an einer neuen politischen Akteurin.

Ein realistisches Bild

Seit Gründung des Vorgängervereins und schließlich der Partei ist die Lage nicht mehr so klar. Zwar gibt es immer noch Umfragen, die der Partei eine Zustimmung im deutlich zweistelligen Bereich bescheinigen, andererseits setzt allmählich eine Ernüchterung ein. Für die Thüringen-Wahl im nächsten Herbst beispielsweise klaffen die Prognosen besonders weit auseinander. Während manche Umfragen auf BSW-Werte von 17 Prozent kommen, schafft es die neue Partei in anderen Befragungen nicht einmal über die 5-Prozent – Hürde.

Auch auf Bundesebene scheint sich die Einstelligkeit zu verfestigen. Die Erfolgsaussichten des BSW schmälert das nur bedingt. Die Ergebnisse sind nach dem Gründungsparteitag und dem Bekanntwerden konkreter programmatischer Punkte lediglich realistischer geworden. Dass eine Partei aus dem Stand ein Fünftel der Wähler anspricht, wäre unglaubwürdig und wenig demokratisch gewesen. Für die Umfragewerte gilt vermutlich das gleiche wie für die Partei selbst: Sie wachsen langsam.

Abgestempelt

Obwohl viele von den EU-Wahlen im Juni sprechen, ist es bis dahin noch mehr als drei Monate hin. Sobald die Wahlen noch näherrücken und der Wahlkampf so richtig an Fahrt aufgenommen hat, wird es wahrscheinlich spürbare Veränderungen bei den Zustimmungswerten geben. Bislang zumindest ist von einer Halbierung der AfD durch das BSW wenig zu spüren. Viele sprechen von einer Stammwählerschaft, die für demokratische Alternativen nicht mehr zu gewinnen ist.

Auch hier wird die Zeit zeigen, was in der neuen Partei und vor allem in den bisherigen AfD-Wählern steckt. Denn durch brillante Ideen und großartige Inhalte hat sich die AfD bisweilen nicht hervorgetan. Stattdessen bietet sie ein Forum für verständliche Unzufriedenheit und Verärgerung auf die etablierten Parteien. Ihre Wähler als unrettbar verloren und ewig rechts zu geißeln, ist vermessen und viel zu kurzsichtig. Es ist diese Vorverurteilung, die sie von der selbsterklärten demokratischen Mitte immer weiter wegtreibt.

Eine demokratische Tragödie

Darum ändern auch die zahlreichen Demos gegen Rechts kaum etwas an den Umfragewerten für die AfD.  Wer heute AfD wählt, fühlt sich von den Protesten nicht angesprochen, weil solche Wähler natürlich nicht für die Deportation von Menschen stehen. Es ist eine demokratische Tragödie, dass sie so viele Jahre der AfD überlassen wurden und der einzige Weg zurück zu einem völligen Gesichtsverlust führt, weil man sich eingestehen muss, dass man einer Partei gefolgt ist, die Menschen in Lager stecken will.

Die meisten heutigen AfD-Wähler werden sich bestimmt nicht die Blöße geben, nun doch wieder etabliert zu wählen. Eher noch gehen sie dahin zurück, wo sie herkamen: zu den Nichtwählern. Und tatsächlich befinden wir uns in Deutschland mittlerweile in einer Situation, wo man um jeden dankbar sein muss, der lieber nicht wählt, statt zur AfD überzulaufen. Mehr Politikversagen geht kaum.

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Die hohen Umfragewerte der AfD entsetzen viele deshalb, weil sie lange Zeit einem gewaltigen Irrtum aufsaßen. Wenn die SPD bei der letzten Bundestagswahl rund 26 Prozent erzielt, dann steht dieses Ergebnis immer in Relation zu allen abgegebenen Stimmen. Nichtwähler werden nicht berücksichtigt. Und ebenso wie sie bei den Wahlen aus dem Raster fallen, so hat man sie auch gesellschaftlich viel zu lange aus dem Blick verloren. Keinen scherte es, dass teilweise deutlich über 20 Prozent der Wahlberechtigten zu Hause blieb. Dieses enorme demokratische Potenzial ist von den etablierten Parteien kaum noch zu erreichen – dafür aber von Protestparteien wie der AfD.

Es gibt keinen besseren Zeitpunkt, die Menschen von der AfD zurückzugewinnen als jetzt. Wenn allen Ernstes über die Deportation von Migranten diskutiert wird, ist eine Grenze erreicht. Die etablierten Parteien bringen’s nicht, darum könnte das BSW als neue politische Kraft gute Chancen haben, Enttäuschte und Frustrierte wieder in den demokratischen Diskurs einzubinden. Das bisherige Gebaren der neuen Partei lässt zumindest hoffen, dass sie für einen grundsätzlich anderen Politikstil steht.

Aber das BSW ist mehr als nur eine Anhäufung von Versprechen, die den Nichtwählern schon so oft gemacht wurden. Der Gründungsparteitag am 27. Januar hat gezeigt, dass die neue Partei alles andere ist als ein Sammelbecken gescheiterter Politiker. Im BSW engagieren sich erstaunlich viele Quereinsteiger, die mit Politik bislang wenig am Hut hatten. Das sendet ein wichtiges Signal an solche Menschen, die den Wahlen sonst fernblieben. Anders als die AfD verharrt das BSW nicht in der Empörung. Es steht viel mehr für einen politischen Neustart und weckt Hoffnung in den Menschen, dass auch sie die Kraft haben, etwas zu verändern.

Ein Schritt nach dem anderen

Das BSW ist noch keine zwei Monate alt, da beherrschen schon Koalitionsfragen die Debatte. Überraschend ist das nicht: 2024 stehen wichtige Wahlen an. Im Juni wird das EU-Parlament gewählt und im Herbst finden gleich drei Landtagswahlen in Ostdeutschland statt. Natürlich ist es interessant, welche Ambitionen die neue Partei bei diesen Wahlen hat.

Die Signale aus den anderen Parteien sind jedoch alles andere als hoffnungsvoll. Es wird also erst einmal auf die Oppositionsrolle hinauslaufen. Je stärker das BSW in der Opposition abschneidet umso besser. Denn insbesondere eine starke Opposition kann den Diskurs im Land verändern – die AfD ist ein beeindruckendes Negativbeispiel dafür.

Und auch wenn die Medienberichte anderes vermuten lassen: Sahra Wagenknecht steht nicht für jede beliebige Koalition zur Verfügung. Gedankenspiele zur Zusammenarbeit mit der CDU sind rein hypothetischer Natur und belegen stattdessen: Nur Inhalte übereinander legen reicht nicht aus. Viel wichtiger ist es, dass in den etablierten Parteien ein Sinneswandel zustandekommt. Wenn sie ihre Positionen und Ideen wieder so ausrichten, dass sie der Breite der Bevölkerung zugutekommen, ist der Zeitpunkt gekommen, um über Koalitionen zu sprechen.

Eines darf man nicht vergessen: Das BWS findet besonderen Anklang bei Menschen, die von der Politik enttäuscht sind oder sich schon abgewendet haben. Deren Interessen sind bei möglichen Koalitionen unbedingt zu beachten. Sollten sie die neue Partei wählen, ist ihr Vertrauen ein ganz besonders wertvolles Gut. Munteres Koalieren um jeden Preis wird solche Wähler wieder verprellen und sie noch weiter von der Parteiendemokratie entfremden. Nur den extremistischen Kräften wäre damit gedient.


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