Weniger Sitze, weniger Repräsentanz

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Der Bundestag wächst von Wahl zu Wahl. Seit Jahren liegen verschiedene Vorschläge auf dem Tisch, wie der XXL-Bundestag wieder auf eine nachvollziehbare Größe geschrumpft werden kann. Die Regierungen der letzten Jahre waren allesamt nicht in der Lage, auch nur eines der Konzepte umzusetzen. Die Ampelkoalition hat nun eine konkrete Reform vorgelegt. Die Pläne sind mehrheitsfähig und werden den Bundestag wahrscheinlich auch verkleinern. Mit einer repräsentativen Demokratie sind sie nicht vereinbar.

In der laufenden Wahlperiode beherbergt die Reichstagskuppel 736 Abgeordnete – so viele wie nie zuvor. Die Zahl an sich ist absurd hoch. Indessen wird auch den Abgeordneten das Problem immer klarer, weil ihnen allmählich der Platz ausgeht. Zu den Sitzen im Plenarsaal kommen nämlich auch die Büros, die den Volksvertretern zustehen. Die GroKo hat echte Anstrengungen zur Verkleinerung des Parlaments eher blockiert als aktiv daran mitgewirkt. Nun will die Ampelregierung ihr Glück versuchen und eine wirksame Wahlrechtsreform zustandebringen. Als Grüne und FDP noch in der Opposition waren, klangen ihre Ideen zumindest vielversprechend.

Schwarzer Peter für die CSU

Davon geblieben ist kaum etwas. Die vorgelegte Reform benachteiligt eine Partei ganz besonders und ist nicht dazu geeignet, das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Bundestags zu stärken. Denn im Kern wollen die Regierungsfraktionen sämtliche Überhangmandate abschaffen. Wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, soll sie fortan auf die Zusatzmandate verzichten. Ausgleichsmandate erübrigen sich bei dieser Sitzezuteilung.

Den schwarzen Peter zieht dabei die CSU. Es verwundert daher kaum, dass gerade diese Partei gegen die Pläne von SPD, Grünen und FDP auf die Barrikaden geht. Es ist fraglich, ob sie das auch tun würde, wenn einer anderen Partei so übel mitgespielt würde. Dennoch ist der Protest der bayrischen Volkspartei berechtigt.

Die Abschaffung der Überhangmandate bedeutet im Zweifel nämlich, dass nicht mehr der stimmenstärkste Kandidat eines Wahlkreises in den Bundestag einzieht. Ein starkes Erststimmenergebnis wäre fortan keine Eintrittskarte ins Parlament mehr. In einem mittlerweile so diversifizierten Spektrum von Parteien, die Aussichten auf einen Einzug in den Bundestag haben, ist diese Entscheidung völlig verfehlt. Manche Wahlkreise gelten schon bei Ergebnissen von um die 20 Prozent als gewonnen. Mit der vorgelegten Reform könnten sogar Kandidaten mit noch niedrigerem Ergebnis als Gewinner hervorgehen, obwohl sie das eigentlich gar nicht sind. Repräsentanz kann man so etwas dann nicht mehr nennen.

Das Ende der zwei Stimmen?

Einerseits bringt diese Methode das Gleichgewicht von Erst- und Zweitstimme aus der Balance. Andererseits nimmt sie potenziell Einfluss auf die Wahlentscheidung des Einzelnen. Künftig werden sich die Wählerinnen und Wähler genauer überlegen, ob sie dem Kandidaten ihres Vertrauens die Stimme geben oder lieber dem Vertreter einer anderen Partei, weil ihre erste Wahl wahrscheinlich sowieso nicht in den Bundestag einziehen wird.

Die aktuelle Wahlrechtsreform ist daher unvollständig. Die Abgeordneten in Berlin sollten sich ehrlichmachen und in diesem Zuge das Zwei-Stimmen – Wahlsystem komplett über Bord werfen. Damit würde die Repräsentanz des Wahlergebnisses wiederhergestellt werden, weil der Kandidat der stärksten Partei aus einem Wahlkreis wahrscheinlich in den Bundestag einziehen würde.

Kleine Parteien im Nachteil

Doch ein Wahlsystem mit nur einer Stimme ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Zwar würde weiterhin die Parteienstimme die Sitzverteilung im Bundestag bestimmen und auch die Zustimmung in den jeweiligen Wahlkreisen für die Abgeordneten eine Rolle spielen, unter der Methodik würde aber die Bindung zwischen Wähler und Mandatsträger leiden. Als „Gewählte“ könnte man die Abgeordneten dann nur noch mit zwei zugedrückten Augen bezeichnen, immerhin standen sie persönlich nie zur Wahl. Sie profitieren andererseits auch indirekt von der Zustimmung zu ihrer Partei aus anderen Wahlkreisen. Läuft eine Partei in einem Wahlkreis mit einem besonders beliebten Politiker auf und wählen dort überdurchschnittlich viele Menschen diese Partei, dann hat das auch Auswirkungen auf mögliche Abgeordnete in weit entfernten Wahlkreisen.

Auch wenn das Ein-Stimmen – Wahlrecht die Repräsentanz im Bundestag weniger verzerren würde als die vorgelegte Wahlrechtsreform, hat es noch einen weiteren nicht zu unterschätzenden Makel. Es würde nämlich besonders die kleineren Parteien benachteiligen. Die Linke beispielsweise profitiert von jeher von einer hohen Zustimmung in einzelnen Wahlkreisen. Mehr als einmal hat die Grundmandatsklausel der Partei den Einzug in den Bundestag gesichert. Solche Parteien hätten es künftig schwerer, authentische Kandidaten aufzustellen, wenn ein Einzug in den Bundestag unwahrscheinlich ist.

Symptombekämpfung

Will die Regierung die repräsentative Demokratie nachhaltig erhalten, so wird ihr nichts anderes übrigbleiben als über einen Neuzuschnitt der Wahlkreise nachzudenken. Zugegeben platzen viele Wahlkreise schon heute aus allen Nähten, aber zumindest ließe sich auf diese Weise am ehesten die Repräsentanz im Bundestag beibehalten. Sicher ist, dass die Zahl der Abgeordneten bei einer Vergrößerung der Wahlkreise zwangsläufig zurückginge, weil weniger Wahlkreise vertreten werden müssten. Gleichzeitig ließe sich so das Problem mit den Überhang- und Ausgleichsmandaten lösen: Wenn es weniger Wahlkreise zu gewinnen gibt, können auch weniger von ihnen zusätzliche Mandate erzeugen.

Das Herumdoktern an Wahlrechtssystemen ist und bleibt aber reine Symptombekämpfung. Die Politiker in Berlin sollten sich lieber darauf konzentrieren, die weitere Diversifizierung des Parteienspektrums zu bremsen. Es ist nämlich maßgeblich die steigende Zahl der im Bundestag vertretenen Parteien, die das stetige Anwachsen des Parlaments maßgeblich begünstigen. Sahnt eine Partei regional ab, könnte ihr die bittere Konkurrenz mit einer anderen Partei in anderen Wahlkreisen schwer auf die Füße fallen.


Die Pluralität von Meinungen ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft. Solange die Regierung aber keine Politik aus einem Guss liefert, werden sich manche Menschen immer benachteiligt fühlen. Grenzt man bestimmte Sichtweisen zusätzlich aus, schafft man neue Parteien, deren Bestehen auf mehreren Ebenen schädlich für die Demokratie ist. Es gibt einen Grund dafür, warum es in der Bundesrepublik über Jahrzehnte nur drei Fraktionen im Deutschen Bundestag gab. Keiner will in die 60er oder 70er Jahre zurück. Aber vielleicht täte uns ein politischer Stil ganz gut, der an die erfolgreichsten Jahre der zweiten deutschen Demokratie angelehnt ist.


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Politische Leerstelle

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In den letzten Jahren hat sich eine regelrechte Euphorie für politische Umfragen entwickelt. Beinahe fetischhaft verfolgen manche, wie es um die Gunst der Parteien bei den Wählerinnen und Wählern steht. Am Wahlabend erlebten sie dann so manche Überraschung. Doch Umfragewerte und Wahlergebnisse haben ein Problem: Sie werden von immer weniger Menschen gemacht. Viele Bürgerinnen und Bürger gehen entweder überhaupt nicht mehr zur Wahl oder sie wählen eine Partei, um eine andere Partei zu blockieren. Sie haben schlicht keine politische Vertretung mehr. Seit Jahren wächst diese Gruppe an politisch Verwahrlosten stetig an. Für die Demokratie ist das ein ernsthaftes Problem.

Überraschender Sieg

Der SPD ist bei der Bundestagswahl 2021 etwas gelungen, wovon sie viele Jahre nur träumen konnte: Sie wurde stärkste Kraft im Parlament. Altkanzler Schröder verfrachtete die Partei durch Sozialabbau und Hartz-Reformen für viele in die Unwählbarkeit. Angela Merkel trieb die Sozialdemokraten in insgesamt drei Großen Koalitionen vor sich her und hielt sie an der kurzen Leine. Durch den selbstgewählten Abtritt der ewigen Kanzlerin schöpfte die SPD neuen Mut und ging zögerlich, dann aber immer selbstbewusster in den Wahlkampf.

Am 26. September 2021 war die SPD die große Siegerin des Abends. Auch bei der Landtagswahl im Saarland im März 2022 triumphierte die SPD und holte sich sogar die absolute Mehrheit. Auch die Grünen treiben seit Jahren auf einem Hoch. Bei der Bundestagswahl 2021 schnitt die Partei sogar noch besser ab als beim Erdrutschsieg der FDP 2009.

Blinder Fleck

Der Erfolg der Parteien lässt sich spielend einfach an den Balken am Wahlabend ablesen. Nicht nur der Stimmanteil der Parteien wird dadurch wiedergegeben, auch die Gewinne und Verluste lassen sich mit der bewährten Methode darstellen. Doch seit Jahren verliert die klassische Lesart des Wahlergebnisses an Schlagkraft. Korkenknallen angesichts des Ergebnisses bei der Bundestagswahl gab es bestenfalls in der Parteizentrale. Eine echte Wechselstimmung wie nach der Abwahl von Helmut Kohl gab es unter den Bürgerinnen und Bürgern nicht.

Dabei sind die Gewinne und Verluste der Parteien mitunter beträchtlich. Die Euphorie im Volk bleibt trotzdem aus. Es gibt bei den Balken und Tortendiagrammen am Wahlabend einen immer größer werdenden blinden Fleck: die Nichtwähler und solche Wähler, die ihr Kreuz zufällig vergeben haben.

Zum Nichtwähler gemacht

Betrachtet man nämlich die Wählerwanderung, stellt man schnell fest, dass die etablierten Parteien gar nicht so sehr in Konkurrenz zueinander stehen, wie sonst immer beschworen wird. Es gibt Abwanderungen von einer Partei zur anderen, doch die zahlenstärksten Verluste müssen die meisten Parteien schon lange ans Lager der Nichtwähler abdrücken. Auf Landes- und Kommunalebene wiegt dieser demokratische Verlust besonders schwer: Bei der Landtagswahl in NRW am 15. Mai blieb fast die Hälfte der Wahlberechtigten den Wahllokalen fern.

Solch demokratieschädlichen Zustände als Erfolg für einzelne Parteien oder gar die parlamentarische Demokratie zu feiern, grenzt an Realitätsverweigerung. Wenn fast 50 Prozent der Bevölkerung nicht zur Wahl geht, steht am Ende die Hälfte ohne politische Vertretung da. Reflexartig reagieren manche da mit Häme und verbieten den unglückseligen Vertretungslosen zu jammern. Immerhin haben sie ihr Schicksal selbst so gewählt, als sie nicht an der Wahl teilnahmen.

Andersrum wird ein Schuh daraus: Das fehlende politische Angebot, die häufigen Enttäuschungen mit Politikern und das Gefühl, von der Politik nicht ernstgenommen zu werden, trieb viele dieser Menschen zu ihrer Entscheidung, am Wahlsonntag nicht das Haus zu verlassen. Die fehlende politische Repräsentanz dieser Leute ging ihrer verpassten Stimmabgabe voraus.

Verengtes Spektrum

Verluste fahren seit Jahren vor allem zwei Parteien ein – selbst unter denen, die noch zur Wahl gehen. Den beiden ehemaligen Volksparteien CDU und SPD laufen die Wähler davon. Die beiden „Großen“ verlieren besonders viele Wähler ans Nichtwählerlager. Die Klientel anderer Parteien ist hingegen relativ stabil, wenn nicht sogar im Aufschwung. Grüne und FDP durften sich bei den letzten Wahlen über das Krönchen der Königsmacher freuen, weil ohne sie keine Regierung zustandekam.

Doch das Spektrum von Grünen bis AfD reicht bei weitem nicht aus, um das vielfältige Meinungsspektrum im Land abzubilden. Die sogenannten Klientelparteien können gar nicht allen Menschen eine politische Heimat bieten, das ist auch gar nicht ihre Aufgabe. Doch die beiden Volksparteien sind mittlerweile so beliebig und profillos geworden, dass es für viele Menschen überhaupt keinen Unterschied mehr macht, wen sie wählen. Diese Erkenntnis ist meist der erste Schritt zu den Nichtwählern. Wenn meine Stimme sowieso keinen Unterschied macht, dann kann ich es auch gleich bleiben lassen.

Personalfragen

Die Festung, die CDU und SPD einst bildeten, bröckelt. Nach Jahren der beinahe zwanghaften Kooperation befinden sich beide Parteien in einem desolaten Zustand. Immer weniger werden diese Parteien wegen ihres Programms gewählt, dafür gibt es Grüne und FDP. Stattdessen versuchen viele Wählerinnen und Wähler durch die Wahl von CDU und SPD potenzielle Koalitionen zu ermöglichen oder auszuschließen. Im Fokus des Wahlkampfes 2021 stand nicht, ob CDU oder SPD die Wahl gewinnen. Im Fokus stand, mit wem Baerbock und Lindner regieren werden.

Mit solchen Personalfragen können die meisten Menschen nichts anfangen. Für sie ist nicht entscheidend, wer an der Spitze steht, sondern ob Politik in ihrem Sinne gemacht wird. Sie haben in den letzten Jahren immer wieder erfahren, dass ihre Bedürfnisse und Probleme die Entscheidungsträger in Bund und Land immer weniger interessieren. Sie können mit einem Tempolimit auf der Autobahn nichts anfangen, weil sie darin eine Beeinträchtigung ihres Lebensstils erkennen – und zwar ausschließlich das. Gendern und vielfältige Sprache empfinden sie als Bevormundung, nicht als Bereicherung. Und wenn ein Cem Özdemir (Grüne) die Ramschpreise für Obst und Gemüse abschaffen will, dann gibt es für sie Tütensuppe.

Viel Gerede um nichts

Geht doch einmal die Wundertüte um, sind viele bestenfalls Zaungäste, während andere beherzt hineingreifen. Der Pflegebonus und die Grundrente sind gute Ideen, von denen aber viel zu viele Menschen ausgeschlossen sind. Für viele macht es nach 40 Beitragsjahren unter’m Strich kaum einen Unterschied, ob sie die reguläre Mickrigrente oder die viel gepriesene Grundrente bekommen. Geredet wird über solche Pläne lange und ausgiebig, bei rum kommt dafür viel zu wenig.

Die Friseurin, die knapp zwei Jahre nach dem ersten Lockdown dringend darum gebeten wird, die zu viel gezahlten Coronahilfen unverzüglich und am besten auf einen Schlag zurückzuzahlen, dürfte eher zerknirscht sein, wenn sich große Konzerne großzügig vom Staat durch die Krise hieven lassen, gleichzeitig aber Rekordgewinne verzeichnen und fleißig Dividenden ausschütten. Eine solche Ungleichbehandlung zerstört das Vertrauen in einen durchsetzungsstarken und bürgernahen Staat. Denn Entlassungen gab es in solchen Konzernen trotzdem.

Premiere in der Bundesrepublik

Für solche Schicksale und Ungerechtigkeiten gibt es aktuell keine ernstzunehmende Kraft im deutschen Parteiensystem. Eine Zeit lang hofften einige Menschen, bei der AfD eine neue politische Heimat gefunden zu haben. Doch alsbald mussten sie feststellen, dass diese Partei überhaupt keine Chance hat, das Zepter zu übernehmen, doch nicht so treusorgend ist, wie sie sich immer geriert oder sie aufgrund innerparteilicher Querelen in diesem Leben nicht mehr aus dem Quark kommt. Wer nicht davor schon Nichtwähler war, der ist es dafür heute.

Einzig Die Linke würde gemäß ihrem Parteiprogramm eine politische Vertretung für diese Menschen sein. Sie ist es aber nicht. Viel lieber begnügen sich die demokratischen Sozialisten damit, die sozialeren Grünen zu sein. Seit sie in der Regierung sitzen, ist es bei den Grünen mit sozialen Vorhaben nämlich auch nicht mehr weit her. Und so erlebt die Bundesrepublik gerade etwas, was in ihrer Geschichte noch nicht vorkam: Eine Partei gibt sich komplett auf.

Eine exklusive Demokratie

Die sozialen Forderungen der Linken sind zwischenzeitlich nur noch Beiwerk einer Partei, die sich mit bestimmten personellen Entscheidungen längst mit der Rolle als Steigbügelhalter der Grünen abgefunden hat. Dieser Verrat an den Grundwerten und der Stammwählerschaft der Partei schlägt sich auch in deren Wahlergebnissen nieder. Die Linke kann sich anstrengen, wie sie will: Sie wird von den Wählerinnen und Wählern nicht mehr als die soziale Opposition wahrgenommen.

Dem vorausgegangen ist ein jahrelanger Kraftakt des politischen Zerstörungswillens, um das einzureißen, was andere über lange Zeit aufgebaut hatten. Man überließ manche Politikfelder komplett den Rechten und schlug den Wählern damit sprichwörtlich ins Gesicht. Wenn sich eine Partei so verhält, beschädigt sie die Demokratie enorm. Sie lässt es sehenden Auges zu, dass ein großer Teil der Bevölkerung ohne politische Vertretung im Parlament bleibt oder zwingt diese Menschen regelrecht, sich Parteien zuzuwenden, die ganz sicher nicht in ihrem Sinne agieren.

Seit Jahren ist Die Linke fleißig damit beschäftigt, ihrer Parteigeschichte einen Sargnagel nach dem anderen zu verpassen. Die SPD hat sich mal wieder in einer Regierung verheddert, in der sie viele sinnvolle Ziele nicht umsetzen kann. Mit der FDP auf den Regierungsbänken wird es keinen sozialen Aufschwung in unserem Land geben. Es scheint allmählich Normalität zu werden, dass manche Menschen politisch den Kürzeren ziehen. Eine Demokratie darf sich so etwas nicht erlauben. Die Bundesrepublik Deutschland darf kein Land werden, indem sich nur noch die Bessergestellten einbringen und eine Stimme haben.


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An der Realität vorbei

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Seit vielen Jahren ist eine Gruppe im Deutschen Bundestag hoffnungslos überrepräsentiert: die Akademiker. Abgeordnete, die zuvor als Arbeiter oder Angestellte tätig waren, werden im Parlament immer seltener. Doch selbst die Gelehrten unter den Abgeordneten arbeiten an einer Scheinwelt. Immer wieder kommen sie wegen erschlichener Doktortitel in die Schlagzeilen – zuletzt Ex-Familienministerin Franziska Giffey. Eine Repräsentanz der Bevölkerung außerhalb des Reichstagsgebäudes ist schon lange nicht mehr gegeben. Direktdemokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten könnten dieses Problem beheben.

Nach der erneuten Überprüfung ihrer Doktorarbeit zeichnet sich für Franziska Giffey ab, dass sie ihren Doktortitel verlieren wird. Um einer noch größeren öffentlichen Schmach zu entgehen, trat sie daher vor einigen Tagen von ihrem Amt als Bundesfamilienministerin zurück. Das Ressort für Familie, Frauen, Senioren und Jugend übernimmt bis zur Bundestagswahl kommissarisch die amtierende Justizministerin Christine Lambrecht. Mit der freiwilligen Abgabe ihres Doktortitels versuchte sich die ehemalige Familienministerin noch vor einigen Monaten aus der Schusslinie zu ziehen. Auch auf eine Kandidatur als Parteivorsitzende verzichtete sie mit Blick auf die Plagiatsaffäre. Ganz schön viel Verzicht und ganz schön viel Reue, könnte man da meinen. Auf ihre Kandidatur als SPD-Spitzenkandidatin für das Berliner Abgeordnetenhaus möchte die falsche Doktorin aber nicht verzichten.

Ein Skandal nach dem anderen

Wieder einmal wurde eine hochrangige Politikerin der Täuschung und des Betrugs überführt. Und wieder einmal klebt sie an der Macht. Mit ihrem Rücktritt als Ministerin wenige Monate vor der Bundestagswahl kann Franziska Giffey da auch nicht mehr viel retten. Aus dem Bundestag kann die 43-jährige nicht ausscheiden, dem hat sie nie angehört. Und erneut kommt die Überführte aus den Reihen der regierungstragenden Parteien. Mit Franziska Giffey holt die SPD gegenüber der Union sogar etwas auf. Immerhin sind die letzten falschen Doktortitel allesamt der CDU oder der CSU anzulasten.

Aber schon lange beschränken sich die Betrügereien von Politikern nicht mehr auf akademische Titel. In den letzten Monaten reihte sich eine schamlose persönliche Bereicherung an die nächste. Da waren die dubiosen Beratertätigkeiten des Philipp Amthor, der plötzliche Gedächtnisverlust von Vizekanzler Olaf Scholz oder die Maskendeals um den früheren CSU-Abgeordneten Georg Nüßlein.

Ein Parlament mit vielen Defiziten

Wer sich im Bundestag auf die Suche nach ehrlichen und rechtschaffenen Abgeordneten begibt, der sieht einer immer größeren Herausforderung entgegen. Der Spruch „Die haben doch alle Dreck am Stecken“ wird durch alle diese aufgedeckten Skandale ein wenig lauter. Aber noch etwas fällt erneut bei der Plagiatsaffäre um Franziska Giffey auf: Beachtlich viele Abgeordnete tragen einen Doktortitel – zumindest noch. Offenbar gibt es im Bundestag eine deutliche Überrepräsentanz von Menschen, die über einen höheren Bildungsabschluss verfügen. Fast drängt sich der Verdacht auf, man käme nur mit einem Universitätsabschluss ins Parlament. Und um besonders gut dazustehen, legen viele noch einen Doktor obendrauf. Ob der echt ist oder nicht – zweitrangig.

Aber nicht nur in Sachen Bildung wird der Bundestag seiner wichtigen Aufgabe, die Bevölkerung widerzuspiegeln, schon lange nicht mehr gerecht. Die Süddeutsche Zeitung hat die Besetzung des Bundestags auf mehrere Aspekte hin untersucht und kam in fast allen Bereichen zu einem ernüchternden Ergebnis. Die Defizite zeigen sich am deutlichsten bei der Geschlechterverteilung, in den Alterskohorten, bei der Herkunft der Abgeordneten und nicht zuletzt auch bei Bildung und Beruf.

Mittelalt, weiß und männlich

So besteht der Bundestag mit aktuell 219 weiblichen Abgeordneten nicht einmal ganz zu einem Drittel aus Frauen. Das ist insofern problematisch, da sich der Anteil von Männern und Frauen in der Gesamtbevölkerung ungefähr die Waage hält. Überrepräsentiert im Bundestag ist auch die Altersgruppe zwischen 30 und 60 Jahren. Besonders jüngere Abgeordnete sucht man meist mit der Lupe.

Auch die Anzahl von Abgeordneten mit nicht-deutschen Wurzeln spiegeln bei weitem nicht die Realität wider. Besonders krass ist dabei die Diskrepanz bei Parlamentariern, die dem muslimischen Glauben angehören. Unter allen Abgeordneten finden sich gerade einmal zwei davon. Mit der Realität außerhalb des Plenarsaals hat das wenig zu tun.

Die neue Arbeiterpartei?

Dieser Trend der mangelnden Repräsentanz lässt sich schon lange beobachten. Bereits 2013 bemängelte der SPD-Politiker Rolf Mützenich, dass der Bundestag „fast vollständig ein Akademikerparlament“ geworden sei. Die meisten der Abgeordneten seien inzwischen Juristen. Arbeiter seien im Bundestag fast gar nicht mehr vertreten. Für eine Demokratie wird das auf Dauer zum Problem. Immerhin neigt ein Akademikerparlament dazu, Politik für Akademiker und Bessergebildete zu machen und nicht für Menschen, die einer einfachen Tätigkeit nachgehen und vielleicht über ein geringes Einkommen verfügen. Dieser Verdruss über die fehlende Interessensvertretung führt viele zur AfD. Und siehe da: Die meisten Wähler der AfD sind Arbeiter – also genau jene Gruppe, die im Bundestag so kläglich unterrepräsentiert ist.

Ist die AfD also die neue Arbeiterpartei? Momentan scheint sie das tatsächlich zu sein, auch wenn sie ganz sicher nicht deren Interessen vertritt. Der Schlüssel zur Lösung dieses Problems liegt tatsächlich darin, die Menschen stärker in die politischen Entscheidungen einzubeziehen. Anderenfalls werden Berufspolitiker den Ruf nicht los, ständig nur gute Politik für sich selbst zu machen. Eine nicht ausreichende Kontrolle durch das Volk führt fast zwangsläufig zu einem latent zügellosen Machtstreben bei Mandatsträgern. Das mag für die Mehrheit der Abgeordneten nicht gelten. Trotzdem schlagen besonders die Ausreißer unter ihnen zu Buche.

Näher an der Bevölkerung

Haben die Menschen im Land die Möglichkeit, auf wichtige politische Weichenstellungen Einfluss zu nehmen, so erhöht das in jedem Fall die Identifikation mit dem Beschlossenen. Selbst diejenigen, die dagegen gestimmt haben, werden eher bereit dazu sein, die Entscheidung der Mehrheit zu akzeptieren. Ganz entscheidend ist dabei das Instrument des Volksbegehrens. Bei entsprechendem Quorum können die Bürgerinnen und Bürger ihre Wünsche direkt ins Parlament einstreuen. Die Abgeordneten wären dazu verpflichtet, sich mit dem Thema zu befassen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Belange der gesamten Bevölkerung in der Politik wieder Gehör finden.

Die Abgeordneten wiederum würden sich wieder eher wieder mit ihren Wählerinnen und Wählern verbunden fühlen. Mit ihren Programmen würden sie verstärkt versuchen, möglichst alle Wählerschichten anzusprechen. Denn nur zufriedene Wähler machen ihr Kreuz bei der nächsten Wahl an der gleichen Stelle. Ermutigt durch die stärkeren Einflussmöglichkeiten würden sich außerdem Berufsgruppen zur Wahl aufstellen lassen, die bislang im Bundestag wenig bis kaum repräsentiert sind. So würde wieder ein Gleichgewicht zwischen Bevölkerung und Bundestag zustandekommen, welches dem Parlament in den letzten Jahren deutlich abhandengekommen ist.


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