Schlechte politische Kinderstube

Vorschaubild: No-longer-here, pixabay, bearbeitet von Sven Rottner.

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Bei den Landtagswahlen in Sachsen-Anhalt zeichnet sich ein Showdown zwischen CDU und AfD ab. Beide Parteien haben gute Chancen, stärkste Kraft im nächsten Landtag zu werden. Für die einen mag es erfreulich sein, mit etwa 26 Prozent stärkste Fraktion zu werden. Für die anderen ist es ein Armutszeugnis. Währenddessen trägt der Ostbeauftragte der Bundesregierung kräftig dazu bei, Szenario 1 Wirklichkeit werden zu lassen. Mit seinen Äußerungen erreicht die Verachtung vieler ostdeutscher Wählerinnen und Wähler ein neues besorgniserregendes Niveau. Ein erfolgreicher Kampf gegen rechtsextreme Kräfte geht anders.

Ein Kopf-an-Kopf – Rennen

Sachsen-Anhalt wählt. Heute. Die Landtagswahl gilt als der letzte Stimmungstest im Superwahljahr vor der Bundestagswahl im Herbst. Schon jetzt der geheime Star der Wahl: die AfD. Denn in Sachsen-Anhalt zeichnet sich schon jetzt eine deutliche Trendwende ab. Während die Rechtspopulisten bei den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz deutlich an Stimmen einbüßten, holen sie in Sachsen-Anhalt weiter auf. Die anderen Parteien interessieren nur insofern, wie wenig oder wie viel Abstand ihr Wahlergebnis von dem der AfD aufweist. Tatsächlich zeichnet sich ein Kopf-an-Kopf – Rennen zwischen der regierungsführenden CDU und der Oppositionsführerin AfD ab.

Allein dieser Umstand bietet genug Anlass zur Sorge. Eine Partei, die sich besonders in den ostdeutschen Bundesländern immer stärker radikalisiert, könnte stärkste Kraft in einem Flächenland werden. Koalitionen mit der AfD schlossen zwar alle Parteien bislang aus, aber einen Wahlsieg macht das eben nicht wett. Und um den Wahlausgang noch spannender zu machen, ließ kürzlich der Ostbeauftragte der Bundesregierung einige Äußerungen vom Stapel, die sicher nicht zum Sexappeal seiner eigenen Partei beigetragen haben.

Ein offenes Wort

Da schwadronierte der CDU-Politiker Marco Wanderwitz allen Ernstes davon, dass ein beträchtlicher Teil der AfD-Wähler für die Demokratie für immer verloren sei. Dessen fragwürdige Entscheidung für die AfD begründete er damit, dass diese Menschen schließlich in einer Diktatur sozialisiert worden seien und das Gift des Faschismus wie Muttermilch aufgesogen hätten. Diese verzogenen Anti-Demokraten hätten doch gar keine andere Wahl als sich von den Allmachts- und Heimatfantasien der AfD mitreißen zu lassen.

Selbstverständlich kann man sich über Wanderwitz‘ Äußerungen blauärgern. Man kann ihm aber auch dankbar dafür sein, dass er unverblümt offengelegt hat, warum viele Menschen lieber der AfD ihre Stimme geben als seiner eigenen Partei. In gewisser Weise betätigte sich Marco Wanderwitz als politischer Irrwicht, der genau die Gestalt annahm, vor der sich die Wähler am meisten fürchten. Als er klipp und klar bestätigte, dass diese Wählerinnen und Wähler für ihn abgeschrieben seien, trat für die Wählerschaft genau das ein, wovor sie am meisten Angst haben. Sie sind uninteressant, minderwertig und nicht wert, dass für sie überhaupt Politik gemacht wird. Ihre Interessen zählen in der Politik nichts.

Wegen oder trotz?

Seit vielen Jahren bekommen gerade ostdeutsche Bürgerinnen und Bürger immer wieder solche Signale. Zwischen den Zeilen können sie schon lange herauslesen, dass ihre Bedürfnisse ganz weit hinten auf der Liste stehen. Die erfrischende Offenheit von Marco Wanderwitz erstaunt da doch ein wenig. Er hat sie als chronische Undemokraten verunglimpft, denen nichts daran liegt, demokratisch und in Frieden zusammenzuleben. Er hat ihnen sogar die Fähigkeit abgesprochen, sich überhaupt jemals auf dem Pfad der Demokratie zurechtzufinden. Wanderwitz hätte es besser wissen müssen: Noch nie hat die Beschimpfung als Nazi einen einzigen Wähler von der AfD zurückgewonnen.

Das hat auch einen einfachen Grund. Viele Wählerinnen und Wähler der AfD wenden sich doch nur deshalb dieser Partei zu, weil sie hoffen, damit endlich wieder wahrgenommen zu werden. Man kann darüber streiten, ob sie die Rechtspopulisten wegen oder trotz ihrer rechtsextremen Tendenzen wählen. Beides ist vielleicht richtig. Wenn sie die AfD aber wegen dieser Tendenzen wählen, dann nicht, weil sie selbst solches Gedankengut teilen, sondern weil sie es inzwischen als den einzigen Weg sehen, den Fokus auf ihre Bedürfnisse zu richten. Wenn den Benachteiligten in einer Gesellschaft keine andere Möglichkeit mehr bleibt, als für rechtsextreme Parteien zu stimmen, dann haben die demokratischen Parteien in dieser Gesellschaft etwas grundlegend falschgemacht.

Eine geschichtliche Gewissheit

Anstatt das einzusehen und mögliche Fehler zu korrigieren, wirft der Ostbeauftragte Wanderwitz mit Belehrungen und Bevormundungen nur so um sich. Er spricht es einer großen Zahl an Menschen ab, jemals für demokratische Werte empfänglich gewesen zu sein, weil sie auf dem ehemaligen Staatsgebiet einer Diktatur großgeworden sind. Diese absurde Behauptung ist gleich aus mehreren Gründen falsch. Denn bezeichnenderweise hat ein Großteil der ostdeutschen AfD-Wählerinnen und -Wähler die DDR nie erlebt. Erhebungen zeigen seit Jahren, dass die Wählerschaft der Rechtsaußen-Partei hauptsächlich zwischen 30 und 50 Jahre alt sind. Dies entspricht einer Generation, in der durchaus einige in der ehemaligen DDR sozialisiert wurden. Die meisten unter ihnen kennen den sozialistischen Staat allerdings nur noch aus lange vergangenen Kindheitstagen.

Betrachtet man die Alterskohorte, welche die DDR viele Jahre lang miterlebt hat, so wird man schnell feststellen, dass unter diesen Menschen die Zustimmung zur AfD weitaus geringer ausfällt. In manchen Bundesländern wählen diese älteren Menschen sogar seltener AfD als die Unter – 30-Jährigen. Deren Zustimmung zur AfD ist besonders besorgniserregend. Schließlich wurde diese Gruppe ausschließlich in der Bundesrepublik sozialisiert.

Die Frage ist doch, weshalb so viele junge Menschen ihr Kreuz bei der AfD machen. Das hat maßgeblich mit der wirtschaftlichen Entwicklung der ostdeutschen Bundesländer seit der Wiedervereinigung zu tun. Natürlich gab es in den letzten 30 Jahren einige wirtschaftliche Erfolge in den neuen Bundesländern. Im großen und ganzen zeichnete sich jedoch schnell der Trend ab, dass die ostdeutschen Bundesländer wirtschaftlich hinten runterfallen. Und dass es eine Demokratie sehr schwer hat, wenn sie unter wirtschaftlich ungünstigen Voraussetzungen startet, das sollte die deutsche Geschichte ausreichend bewiesen haben.

Geschlossen gegen die Diktatur

Es war nicht zuletzt die gefestigte und stabile West-Demokratie, die den Laden im Osten über Jahre am Laufen hielt. Natürlich bemühten sich die meisten, in der neuen Demokratie Fuß zu fassen. Im Westen hatte das schließlich nach dem Krieg auch geklappt. Im Westen hatte es aber auch einen raschen wirtschaftlichen Aufschwung gegeben, ohne den auch die BRD nicht lange hätte bestehen können.

Dass die Bürgerinnen und Bürger der DDR die Demokratie trotz angeblicher Diktatursozialisierung wollten, daran lässt der Fall der Mauer keinen Zweifel zu. Es waren die Ostdeutschen, die die Mauer zum Einsturz brachten und sich ihren Weg in die Demokratie friedlich, aber energisch erkämpft haben. Diesen Menschen nun pauschal vorzuwerfen, sie könnten mit der Demokratie nichts anfangen, ist eine Geschichtsverfälschung, für die man sich als echter Demokrat nur schämen kann.

Demokratisches Potenzial

Genau so falsch ist es, den Aufstieg der AfD zu einem rein ostdeutschen Problem zu verklären. Auch in westdeutschen Bundesländern erzielte die AfD deutlich zweistellige Wahlergebnisse. Will man jetzt auch den Baden-Württembergern und Hessen die Demokratiewürde absprechen, weil die AfD dort um die 15 Prozent geholt hat? Es ist richtig, dass die AfD in den neuen Ländern stärker abgesahnt hat. Das liegt aber nicht daran, dass dort mehr Undemokraten leben.

Auch die sinkenden Zustimmungswerte für Rechtsaußen in den westlichen Bundesländern sind kein Grund zur Entwarnung. Viele der Wählerinnen und Wähler verabschieden sich ins Nichtwählerlager. Sie sind scheinbar weniger dazu geneigt, ihrem Frust durch ein Kreuz bei der AfD Luft zu machen als es die Menschen in Sachsen-Anhalt & Co. sind.

Im übrigen mobilisierte auch die Ost-AfD viele Nichtwähler. Sie ermutigte sie dazu, an den Wahlen wieder teilzunehmen. Ihre Wahlentscheidung kann man sicher kritisieren. Mit offener Verachtung erreicht man aber das Gegenteil von dem, was man eigentlich erreichen will. Wer nicht möchte, dass die Wählerinnen und Wähler, egal ob in Ost oder West, der Demokratie für immer den Rücken kehren, der muss die Überheblichkeit gegenüber diesen Menschen endlich abstreifen. Die AfD ist eine ernstzunehmende Gefahr für die Demokratie. Paradoxerweise zeigt sie aber, wie viel den Menschen an einer funktionierenden Demokratie liegt. Diese Menschen sind nicht verloren. Mit ernsthafter Politik auf Augenhöhe sind sie zurückzugewinnen. Marco Wanderwitz hat das nicht verstanden.


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Die Frustkescher

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Im Osten nichts Neues

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Deutschland ist seit 30 Jahren ein geeintes Land – zumindest auf der Landkarte. Politisch und ökonomisch klaffen noch immer oder wieder tiefe Gräben zwischen Ost und West. Die Gründe dafür sind vielfältig. Trotzdem versuchen viele, die schwierigen Verhältnisse im Osten mit eindimensionalen Erklärungsmustern zu vermitteln. Die Planwirtschaft mag der Grund für eine komplizierte Ausgangslage sein. Sie ist aber immer weniger für deren Fortbestehen verantwortlich.

Ein Leben mit dem System

Am 2. Oktober debattierte der Bundestag bereits zum 30. mal über die deutsche Einheit. Die Politikerinnen und Politiker sprachen von den Erfolgen und den Errungenschaften, die gerade im Osten erzielt worden waren. Sie redeten aber auch über Probleme beim Einheitsprozess und über Herausforderungen, die es nach wie vor zu meistern gilt. So beklagten viele Rednerinnen und Redner das Lohngefälle zwischen Ost und West, das zwar näher zusammengerückt ist, aber immer noch zu wünschen übriglässt. Diese Differenz zwischen den Reallöhnen sorgt letztendlich für deutliche Unterschiede bei der Altersrente.

Für diese Schwierigkeiten haben die verschiedenen Parteien ihre eigenen Erklärungen parat. Die Union moniert beispielsweise, dass die geringere Wirtschaftskraft der ostdeutschen Bundesländer vom Versagen des Sozialismus und seiner Planwirtschaft herrührt. Die Führung der DDR hat es meisterlich verstanden, eine Volkswirtschaft im Laufe der Jahre zu Grunde zu richten. Als die Bürgerinnen und Bürger der DDR die Mauer überwanden, hinterließ die Staatsführung einen ökonomischen Scherbenhaufen.

Laut Union ist es überhaupt kein Wunder, dass dieses wirtschaftliche Schlachtfeld nicht innerhalb weniger Jahre zusammengekehrt werden konnte. In den Augen der Regierungspartei sind die Menschen aus der DDR die Opfer falscher politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen. Dem ist nichts entgegenzusetzen. Die DDR war eine Diktatur und die allermeisten Menschen dort hatten keine andere Wahl, als sich den Verhältnissen um sie herum zu fügen. In 40 Jahren DDR arrangierten sich die meisten mit dem System. Anders als in den zwölf Jahren Nazi-Diktatur brachte der ostdeutsche Staat mehr als eine Generation hervor.

Freispruch in allen Punkten?

Die sozialistische Planwirtschaft war der sozialen Marktwirtschaft schon immer unterlegen. Unverschuldet bekamen das Millionen Menschen in der DDR viele Jahre lang zu spüren. An den Verfehlungen und Missständen der Planwirtschaft haben viele bis heute zu knabbern. Die Lebensumstände in den neuen Bundesländern auf rein wirtschaftliche Gegebenheiten zu reduzieren, greift allerdings zu kurz. Die DDR war mehr als wirtschaftliches Versagen auf ganzer Linie. In vier Jahrzehnten haben sich die Menschen Existenzen aufgebaut, die weit über das ökonomische Bestehen hinausgingen. Viele Existenzen wurden durch einen harten Bruch zur Wendezeit zerstört. Das mit ausschließlich wirtschaftlichen Faktoren zu begründen, überzeugt die Menschen nicht.

Es überzeugt die Menschen vor allem deshalb nicht, weil Reden und Handeln der Regierung in krassem Gegensatz zueinander stehen. Der Lohnunterschied zwischen West und Ost ist weiterhin immens und auch zwischen den Renten klafft eine Lücke, die da nicht sein müsste. Man billigt den Menschen zu, für die schwierige wirtschaftliche Ausgangslage in den neuen Bundesländern nichts zu können. Gleichzeitig verweigert man ihnen aber nach 30 Jahren im goldenen Westen weiterhin eine vergleichbare Vergütung für die gleiche Arbeit wie in westdeutschen Bundesländern. Natürlich hinterlässt man bei diesen Erwerbstätigen das Gefühl, dass sie an der prekären Wirtschaftslage doch mitschuld sind. Wäre es nicht so, dann spräche nichts dagegen, dass sie im geeinten Deutschland in der gleichen Arbeitszeit für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhielten.

Stattdessen speist man sie mit Löhnen und Gehältern ab, die hinter dem westdeutschen Durchschnitt zurückbleiben. Zwar hat sich die durchschnittliche Arbeitsvergütung in den letzten Jahren angehnähert, ein Unterschied ist aber nach wie vor nicht von der Hand zu weisen. Das begünstigt ein Unterlegenheitsgefühl des Ostens gegenüber dem Westen, welches viele sicher an die wirtschaftlich prekäre Lage im Sozialismus erinnert. Der Vergleich mag zwar an der ein oder anderen Stelle hinken, aber der viel zu langsame Abbau des Lohngefälles erschüttert das Vertrauen in den Staat und letztendlich in die Demokratie. Es kann kein Zufall sein, dass die AfD gerade in den ostdeutschen Bundesländern großen Zulauf erfährt, wenn sie von einer Rückkehr zur DDR und einer Wiedereinführung des Sozialismus spricht.

(K)eine Leistungsgesellschaft

Das ist natürlich Quatsch. Wir befinden uns in keiner Diktatur und sind auch nicht auf dem Weg dorthin. Die versprochenen blühenden Landschaften waren aber trotzdem von Anfang an eine Lüge. Es war eine Illusion anzunehmen, dass die wirtschaftspolitische Erfolgsgeschichte des Westens 1:1 auf den Osten anwendbar ist. Die Voraussetzungen waren nämlich grundsätzlich anders. Die Wirtschaftspolitik der alten Bundesländer war außerdem auf ein Szenario ausgerichtet, in dem wirtschaftliche Not kein großes Thema war. Nach den zahlreichen Fabrikschließungen und dem Treuhandskandal in den ostdeutschen Bundesländern war die wirtschaftliche Lage dort aber äußerst prekär.

Die getroffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen waren schlicht und ergreifend nicht passgenau und konnten ihre volle Wirkung nie entfalten. Diese Politik geht nämlich davon aus, dass Leistung stets belohnt wird. Wer sich genug anstrengt, der wird aufsteigen und ein schönes Leben führen. So zumindest das Versprechen. In der Realität ist es aber mehrheitlich anders. Viele können sich noch so abrackern und bleiben trotzdem unten. Die zahlreichen Betriebsschließungen und der erschwerte Zugang zu Kultur und Kunst taten ihr übriges. Obwohl politisch vieles besser wurde, die Menschen konnten offen ihre Meinung sagen und sich parteilich und gewerkschaftlich organisieren, hatten viele eher das Gefühl, ihr Leben war nicht besser, sondern viel mehr schwerer geworden.

Der Westen ist spät dran

Lange Jahre blieben diese Menschen unerhört. Nach Jahren der politischen Isolation gab ihnen die AfD erstmals wieder das Gefühl, ernstgenommen zu werden. Zum ersten Mal nach langer Zeit konnten sie sich politisch wieder Gehör verschaffen. Doch die AfD ist kein ostdeutsches Phänomen geblieben. Auch in den alten Bundesländern erfreut sie sich weiterhin hoher Beliebtheit. Und das ganz ohne Stasi-Vergangenheit.

Immer offener tritt zutage: Der Weg, den die Politik im Bereich Wirtschaft eingeschlagen ist, ist ein falscher. Im Osten der Republik wurde das nur deshalb schneller und dramatischer sichtbar, weil die Ausgangslage viel ungünstiger war. Dort zumindest hatte die Politik immer die Möglichkeit, auf das wirtschaftliche Fiasko der Planwirtschaft zu verweisen. Im Westen hat sie das nicht.  Und trotzdem bekommen auch im vielgepriesenen goldenen Westen immer mehr Menschen zu spüren, was es heißt, auf der Seite der Verlierer zu stehen. Denn auch Pfandflaschensammler sind kein ostdeutsches Phänomen. Die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik ist sicher nicht schuld am ökonomischen Hirntod der DDR. Sie kann aber auch nur wenig hilfreiche Konzepte anbieten, dieses Trauma zu bewältigen.


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Einigkeit und Recht und Freiheit

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Heute ist Tag der Deutschen Einheit. Seit nunmehr 30 Jahren ist Deutschland formell wiedervereinigt. Die Mauer ist weg, die Menschen können gehen, wohin sie wollen, sie können sagen, was ihnen nicht passt und sie wählen ihre Repräsentanten in freien Wahlen. Recht und Freiheit gilt heute für alle Menschen in Deutschland gleichermaßen. In Einigkeit leben wir Deutschen aber nur bedingt.

Kein leichtes Projekt

„Jetzt wächst zusammen, was zusammengehört.“ Mit diesem Zitat von Willy Brandt (SPD) wird Mauerfall und deutsche Wiedervereinigung oft zusammengefasst. Nach vier Jahrzehnten Trennung voneinander gingen Westdeutschland und die ehemalige DDR in die Gesamt-Bundesrepublik auf. 28 Jahre davon trennte die Mauer die beiden Deutschlands. Nach dem 9. November 1989 war es tatsächlich nur noch eine Frage der Zeit bis es zur Wiedervereinigung kam.

So kam es dann auch. Im Sommer 1990 unterzeichneten Wolfgang Schäuble (CDU) und Günther Krause (DDR-Staatssekretär) die Verträge, die die wiedererlangte Einheit besiegelten. Doch wie bei so vielem war hier der Wunsch Vater des Gedankens. Eine so lange Zeit der Trennung hatte bei beiden Seiten deutliche Spuren hinterlassen. War die Wiedervereinigung also von Anfang an zum Scheitern verurteilt? Ganz bestimmt nicht. Aber es wurden einige schwerwiegende Fehler gemacht, 1990 wie in den Jahren danach.

Der Zug hält nur bei Bedarf

Noch heute macht es nämlich einen himmelweiten Unterschied, ob man in Stuttgart oder in Magdeburg in eine Bahn steigt. Den Menschen in der schwäbischen Metropole geht es gerade wirtschaftlich besser als den Menschen in der sachsen-anhaltinischen Landeshauptstadt. Und das sieht man. Gerade dort, wo Menschen aus unterschiedlichen Schichten zusammenkommen, kann man die Unterschiede zwischen ihnen am deutlichsten erkennen. Wo geht das besser als im öffentlichen Nahverkehr? In Stuttgart sehen die Menschen irgendwie gleich aus. Nur in wenigen Fällen erkennt man, wer aus welcher sozialen Schicht kommt. In den neuen Bundesländern ist das anders. Hier ist das Gefälle deutlich steiler – und die Unterschiede somit offensichtlicher.

Mit Einheit hat das wenig zu tun. Immerhin suggeriert dieser Begriff, man sei eins. Wie kann es dann sein, dass manche Bundesländer wirtschaftlich so viel besser dastehen als andere? Nicht immer ist das mit natürlichen oder geographischen Gegebenheiten erklärbar. Gut, am Kaiserstuhl wächst besserer Wein als in der Lausitz. Aber einem Automobilzulieferer kann es doch im Grunde egal sein, ob er sein Werk in Stuttgart oder in Erfurt hat. Ist es ihm aber anscheinend nicht.

Die alten Bundesländer scheinen für große Konzerne so attraktiv zu sein, dass es keinen einzigen DAX-Konzern in den Osten verschlagen hat. In der westlichen Bundesrepublik konnten sie schließlich auch über viele Jahre wachsen, im Osten hätten sie damit von vorne beginnen müssen.

Fairer Lohn für gleiche Arbeit?

Vor allem in den neuen Ländern kam es unmittelbar nach der Wiedervereinigung aber auch zu einer Reihe an Betriebsschließungen, die vielen Menschen die Existenz raubten. Der vielversprochene wirtschaftliche Aufschwung für die ehemalige DDR lässt bis heute auf sich warten. Denn nach wie vor ist das Lohngefälle zwischen Ost und West immens. Das hat natürlich direkte Folgen für den dortigen Arbeitsmarkt, aber es trifft auch jeden individuell. Ein niedriger Arbeitslohn bedeutet nämlich auch immer eine niedrige Rente. Und weil die Westalgiker immer so gerne die unterschiedlichen Lebenshaltungskosten ins Feld führen: Gerade dieser unterschiedliche Lebensstandard verhindert doch, dass Menschen aus dem Osten in den Westen gehen können. Andersrum gibt es für eingefleischte Wessis keinen Anlass, nach Sachsen oder Mecklenburg-Vorpommern zu ziehen. Und so soll Gleichheit und Einheit aussehen?

Für die Betroffenen bedeutet es das eben nicht. Sie fühlen sich in ihrer Tätigkeit und Lebensleistung geringschätzt. Es macht einfach keinen Sinn, warum die Arbeitsjahre in der DDR weniger zählen sollen als die in der alten Bundesrepublik. Man hat zwar weniger in den Rententopf eingezahlt, aber wozu gab es dann bitte den gerade erst abgeschafften Solidaritätszuschlag?

Zu viel der Ostalgie

Was die Herren Schäuble und Krause 1990 auf dem Papier beschlossen, blieb teilweise auch auf dem Papier. Bereits nach wenigen Jahren verabschiedeten sich vor allem viele Ostdeutsche von der Vision, am goldenen Westen teilzuhaben. In unterschiedlichem Ausmaß wünschen sich einige auch heute noch nach die gute alte DDR-Zeit zurück. Die Ostalgie ist dabei ein verräterisches Phänomen. Jede Form der Nostalgie bezieht sich nämlich auf etwas vergangenes, auf etwas abgeschlossenes. Vieles wurde in der DDR aber zu abrupt abgeschlossen. Der Verlust der knackigen Spreewaldgurke und des heißgeliebten Trabis signalisierte die wirtschaftliche Unterlegenheit des Ostens. Der Appetit auf die Gurke von drüben kam in den Folgejahren zwar langsam wieder auf, aber von vielen anderen Dingen mussten sich die Ex-Ossis für immer verabschieden. Oder weiß heute ernsthaft noch jemand, was ein Subbotnik ist?

Aber Auto hin, Gurke her, inzwischen hat die Ostalgie bei manchen ein nicht zu unterschätzendes Ausmaß erreicht. Die maßlose Enttäuschung über die ausgebliebenen blühenden Landschaften trieben manche sogar so weit, sich die Mauer zurückzuwünschen. Sie wünschen sich allerdings nicht die permanente Stasi-Bespitzelung und staatliche Bevormundung zurück. Sie sehnen sich nach Sicherheit. In der DDR kannte jeder den Feind. Auch wenn die Stasi hinterhältig und verlogen war – jeder wusste, wie er sich verhalten musste, um nicht in ihr Visier zu geraten. Im vereinten Deutschland sehen das viele anders. Der plötzliche Verlust des Arbeitsplatzes und damit der wirtschaftlichen Existenz kann jeden treffen, egal wie sehr er sich vorher angestrengt hat.

Drei Steine obendrauf

Aber nicht genug damit, dass sich so mancher unverbesserliche Ossi das steinerne Gefängnis zurückwünscht. Auch in Westdeutschland grassierte bereits einige Jahre nach der Wiedervereinigung der Wunsch, die Mauer möge zurückkommen. Laut gesagt wird das natürlich bis heute nicht, das wäre ja ein Schlag ins Gesicht gegen die beinahe liebgewonnenen Ossis. Denn durch den schwer zu vermarktenden Soli und weiterer Scherereien mit dem Osten wussten einige die Mauer erst zu schätzen. Das klingt schlimm. Ist es auch. Aber leider kein Einzelfall.

Zugegeben, ich habe nie einen Unterschied zwischen Ost- und Westdeutschen gemacht. Das war für mich nie real. In den Talkshows der 90er-Jahre war oft von diesem Unterschied die Rede, immerhin lag der Fall der Mauer erst einige Jahre zurück. Verstanden habe ich es nie so wirklich. So geht es bestimmt nicht nur mir. Vielen weiteren Kindern der 90er ist es wurschd, ob jemand aus München oder aus Gotha kommt. Das ist gut so. Aber die Generationen davor? Die sehen das unter Umständen anders. Es kann nicht sein, dass man sich darauf ausruht, dass die Nachmaurer gut aufgewachsen sind. Die Sorgen und Nöte derer nicht ernstzunehmen, die mit der gesamtdeutschen Politik nicht zurechtkommen, ist der Fehler, der viele von ihnen bereits in die Arme der Demokratiefeinde getrieben hat.

Die Gründe dafür sind vielfältig. Und ganz bestimmt nicht nur mit dem Lohngefälle und der Rentenungleichheit zu erklären. Manche Ursachen liegen tiefer. So war die Verfassung der alten Bundesrepublik von Beginn an darauf ausgerichtet, eines schönen Tages von einer neuen, gesamtdeutschen Verfassung ersetzt zu werden. Das ist bis heute nicht passiert. Stattdessen ist die ehemalige DDR der BRD lediglich beigetreten. Eine neue Verfassung kam nicht zustande.

Mauer im Kopf

Dabei wäre die Erarbeitung eines neuen Grundgesetzes tiefer Ausdruck des Respekts vor dem Rechtsstaat und den Menschen aus der DDR gewesen. Die Menschen aus dem Osten konnten nie über die Verfassung abstimmen, deren Geltungsbereich sie beitraten. So gut und durchdacht unsere Verfassung auch sein mag – es war der Kardinalfehler, 1990 nicht über eine neue Verfassung abzustimmen.

Zwangsläufig fühlten sich viele aus der DDR vom Westen bevormundet, auch wenn die Erleichterung über den Wegfall der Mauer sie die ersten Jahre beschwichtigte. Geographisch haben die beiden Deutschlands vor dreißig Jahren tatsächlich zusammengefunden. Kulturell haben sie sich im Laufe der Jahre zumindest angenähert. Wirtschaftlich klafft weiterhin ein tiefer Graben zwischen Ost und West. Und auch drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall ist die Mauer aus den Köpfen vieler noch nicht verschwunden…


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