Ein vielversprechendes Projekt

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Das 9-Euro – Ticket wird kommen. Allen Unkenrufen und Boykottierungssuchen seitens der Opposition zum Trotz können die Bürgerinnen und Bürger ab Juni für weniger als zehn Euro pro Monat deutschlandweit den öffentlichen Personennahverkehr nutzen. Die Maßnahme entlastet vor allem Menschen, die andernfalls unter den steigenden Spritpreisen zu leiden hätten. Das Ticket ist außerdem ein sinnvolles Werkzeug im Kampf gegen den Klimawandel. Auch wenn das Ampelprojekt nach drei Monate wieder ausläuft, ist es ein Schritt in die richtige Richtung. Euphorie hat es dennoch nicht ausgelöst.

Zwei Fliegen mit einer Klappe

Seit Monaten steigen die Preise an deutschen Zapfsäulen auf schwindelerregende Höhen. Auch wer in der letzten Zeit Heizöl bestellt hat, erlebte bei einem Blick auf die Rechnung ein böses Erwachen. Autofahren und Heizen sind so teuer wie nie. Der Krieg in der Ukraine und die verhängten Sanktionen gegen Russland treiben die Preise weiter an. Eine Entspannung der Lage ist nicht in Sicht. Viel eher befürchten Experten, dass es besonders in der kalten Jahreszeit noch einmal zu deutlichen Preissprüngen kommen kann.

An den meisten Menschen im Land geht diese Preisexplosion nicht spurlos vorbei. Sie müssen immer knapper haushalten, um die gestiegenen Kosten zu kompensieren. Für viele ist das inzwischen nicht mehr möglich. Die Bundesregierung begegnet dem rasanten Preisanstieg mit einer Reihe von Hilfsmaßnahmen, welche die Bürger entlasten sollen. Teil des Pakets ist auch das 9-Euro – Ticket, mit dem jeder Bundesbürger in den Sommermonaten deutschlandweit den öffentlichen Personennahverkehr nutzen kann.

Das Ticket wird seit Wochen heiß diskutiert, weil es ein nie dagewesenes Projekt ist. Es schlägt gleich zwei Fliegen mit einer Klappe: Es bedeutet große Mobilität für kleines Geld und schont dadurch den Geldbeutel der Bürgerinnen und Bürger. Auf der anderen Seite ist es ein Beitrag im Kampf gegen den Klimawandel. Der zeitlich begrenzte Umstieg vom Auto auf die Schiene ist gerade in den Metropolen Balsam für die Umwelt. Manche hätten sich noch etwas mehr gewünscht, aber: Das 9-Euro – Ticket ist die richtige Maßnahme zur richtigen Zeit.

Ernsthafte Bedenken

Das Vorhaben der Regierung wurde in der Bevölkerung ausgesprochen gut aufgenommen. Obwohl manche Menschen leer ausgehen, weil sie beispielsweise eine Monatskarte besitzen, stößt das Ticket durchaus auf große Sympathie.

Doch wo Licht ist, da ist auch Schatten, und so gibt es auch beim 9-Euro – Ticket den ein oder anderen ernsthaften Kritikpunkt. Befürchtet wird vor allem eine Überlastung des Nahverkehrs, weil der Fuhrpark der meisten Verkehrsunternehmen dem zu erwartenden Andrang nicht standhalten wird. Angesichts eines weiterhin grassierenden Virus sind diese Bedenken nicht von der Hand zu weisen.

Indische Verhältnisse?

Alle drei Regierungsparteien waren in den letzten zwanzig Jahren mit unterschiedlicher Durchschlagskraft an der Demontage des Schienennetzes beteiligt. Es ist gut, dass SPD, Grüne und FDP angesichts großer Herausforderungen nun einlenken und eine so sinnvolle Maßnahme auf den Weg bringen.

Besonders kritische Töne zum 9-Euro – Ticket kommen nun aber vom Oppositionsführer Union. Sie werfen der Regierung vor, kopflos an die Sache heranzugehen. Ihrer Meinung nach habe die Ampelkoalition nicht ausreichend im Blick, dass das Ticket zu einem großen Ansturm auf den öffentlichen Nahverkehr führen würde. Wenn nicht gleichzeitig mit einem Ausbau des Schienennetzes und engeren Takten regiert würde, drohten uns Verhältnisse wie in Indien.

Reine Willensfrage

Die Einwürfe aus der Opposition sind fadenscheinig und durchschaubar. Als regierungsführende Fraktion hat die Union schließlich ordentlich bei den Missständen mitgemischt, die sie nun kritisiert. Das Muster wiederholt sich immer wieder: Kaum hinter den Oppositionsbänken, da entdecken manche Parteien plötzlich ihre soziale Ader.

Trotzdem ist noch nicht bei allen Abgeordneten von CDU und CSU angekommen, dass sie keine regierungstragende Partei mehr sind. Ihre Aufgabe als Oppositionspartei besteht nicht darin, möglichst alle Vorhaben der Regierung zu kritisieren, sondern sinnvolle Alternativen aufzuzeigen. Mit ihrem Geplärre wegen des 9-Euro – Tickets sendet die Union aber ein fatales Signal an die Bürgerinnen und Bürger.

So berechtigt einige Kritikpunkte auch sein mögen – wenn man den Menschen im Land nun auch noch dieses Bonbon wieder wegnimmt, dann wird dabei weiteres Vertrauen flöten gehen. Seit vielen Jahren verweigert sich die Regierung einer bürgerfreundlichen Politik, welche die Zeichen der Zeit erkennt. Auf die Forderungen nach besser ausgestatteten Krankenhäusern, mehr Pflegepersonal oder qualifizierten Lehrkräften an Schulen folgt von manchen Politikern routiniert die Frage nach der Finanzierung. 100 Milliarden für den Verteidigungshaushalt erscheinen aber wie aus dem Nichts. Die Bürgerinnen und Bürger wissen, dass vieles keine Finanzierungs- sondern eine Willensfrage ist. Die Aussetzung des 9-Euro – Tickets bei dieser Vorentwicklung wäre aus demokratischer Sicht unverzeihlich.

Oppositionsfrust

Es ist eine Schande, dass viele Medien in diesen Chor aus schiefen Tönen und Disharmonien einstimmen. Sie schlachten die wenigen Ausnahmen über Gebühr aus und prophezeien schier anarchische Zustände in deutschen Bussen und Bahnen. Voller Dankbarkeit klammern sich manche Journalisten an diesen von der Union gereichten Strohhalm aus Frustration und Miesepeterei. Sie werden zu willigen Helfern in dem Unterfangen, ein Projekt madig zu machen, welches in Wirklichkeit das Potenzial hat, viel verlorengegangenes Vertrauen zurückzugewinnen.

Endlich beschließt die Regierung eine Maßnahme, die viele Bürgerinnen und Bürger spürbar entlastet, wenn auch nur für kurze Zeit. Ganz offensichtlich gibt es aber ein Kommunikationsproblem, denn die Euphorie über dieses Projekt blieb bislang aus. Manche haben es zwar wohlwollend zur Kenntnis genommen, als großer Wurf wird es aber nicht vermarktet.

Man merkt deutlich, dass die kritischen Töne in diesem Land inzwischen von einer Partei kommen, die zu lange regiert hat und jetzt ein ernsthaftes Problem damit hat, dass andere Parteien den Finger in die Wunde legen. Anstatt sich konstruktiv an der Beseitigung des selbstverursachten Scherbenhaufens zu beteiligen, krakelen die Abgeordneten in Söder’scher Manier lieber wild drauf los und tun die respektablen Vorhaben der Regierung als naive Tagträumereien ab.

Regierung ohne Wumms

Zugegeben: Die Ampelregierung macht es der Neuopposition mitunter ziemlich leicht, das Kartenhaus ins Wanken zu bringen. Eine selbstbewusste Regierung sieht anders aus. Das könnte aber an der Führungsschwäche des neuen Kanzlers liegen, der einige Gestalten in sein Kabinett aufgenommen hat, deren Stuhl schon wenige Monate nach Regierungsantritt wackelt.

Ein Kanzler mit Wumms müsste auf den Tisch hauen und die Erfolge einer angeblichen Fortschrittkoalition klar benennen. Gepaart mit dem erhöhten Mindestlohn ab Herbst ist das 9-Euro – Ticket ein Projekt, das sich zur Abwechslung endlich in Bürgernähe übt. Doch diese Botschaft kommt bei den Menschen nur unzureichend an. Bisher haben es die Entlastungspakete der Regierung nicht geschafft, die Menschen aus der politischen Passivität herauszuziehen.

Die Landtagswahl in NRW ist ein Indiz für die politische Stimmung im Land. Als einzige Ampelpartei konnten die Grünen dazugewinnen, SPD und FDP sind abgeschmiert. Sicher, im Saarland holten die Sozen vor kurzem die absolute Mehrheit und die AfD muss in mehreren Bundesländern um den Fraktionsstatus bangen. Das alles zeigt, dass sich die etablierten Parteien weiter durchsetzen. Es zeigt aber nicht, dass die Menschen mit der Politik zufrieden sind. Die Wählerwanderung, gerade von der AfD ausgehend, zeigt deutlich, dass sich viele zu den Nichtwählern gesellt haben.


Das 9-Euro – Ticket ist ein Schritt in die richtige Richtung, aber es darf ab September nicht wieder Schluss sein mit Bürgernähe. Im nächsten Schritt muss die Schiene wiederbelebt werden, damit viele auch in Zeiten ohne das günstige Ticket eine Alternative zum Auto haben und von den explodierenden Spritkosten verschont bleiben. Vertrauen gewinnt man nicht durch einzelne Maßnahmen zurück. Der Gesamtkurs muss stimmen. Die Regierung muss standhaft bleiben und darf sich nicht bei Gegenwind aus der Opposition wegducken. Gute Politik macht man nicht für die Opposition, sondern für die Menschen im Land.

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Präsidiales Dilemma

Lesedauer: 7 Minuten

Als die AfD vor knapp zwei Jahren den FDP-Politiker Thomas Kemmerich ins Amt des thüringischen Ministerpräsidenten hob, löste sie damit einen medienträchtigen politischen Skandal aus. Zur anstehenden Wahl des Bundespräsidenten geht die Rechtsaußen-Partei noch einen Schritt weiter. Mit Max Otte nominierte sie dieses Mal sogar einen Kandidaten, welcher der AfD nicht angehört. Mit der Kandidatur treibt die AfD den groß angekündigten Spaltpilz in die CDU. Die ehemalige Volkspartei muss sich entscheiden, ob sie die Intrigen der AfD mitmacht oder ob sie unbeirrt am demokratischen Weg festhält.

Inszenierung mit Ansage

Bei der Wahl des Bundespräsidenten 2017 wollte Die Linke mit der Nominierung des Armutsforschers Christoph Butterwegge ein wenig Spannung in die Angelegenheit bringen. Damals war klar, dass GroKo-Kandidat Frank-Walter Steinmeier mit nahezu 100 Prozent der Stimmen gewählt werden würde, wenn keine halbwegs wählbare Alternative anträte. Die übrigen Kandidaten waren so oder so zum Scheitern verurteilt. Auch Christoph Butterwegge scheiterte grandios am Konsenskandidaten. Trotzdem gelang es den Linken, den übrigen Mitgliedern der Bundesversammlung wenigstens ein paar Stimmen für ihren Kandidaten abzuluchsen.

Um Spannung im Wahlkampf geht es der AfD fünf Jahre später sicher nicht. Die Nominierung von Max Otte bei der anstehenden Wahl des Bundespräsidenten ist der aussichtsreiche Versuch der Rechtspopulisten, den groß angekündigten Spaltpilz in die CDU zu treiben. Die Personalie Otte ist der Rechtsaußen-Partei egal, entscheidend ist, dass er CDU-Mitglied ist.

Bekanntes Muster

Mit der Aufstellung des abtrünnigen CDU-Mannes setzt sich ein bekanntes und vielfach erprobtes Muster der AfD fort. Bereits 2016, mitten in der Flüchtlingskrise, sonderte sich Erika „The Joker“ Steinbach durch äußerst umstrittene Äußerungen von ihrer Partei ab. Letztendlich verließ sie die CDU und gehörte die letzten Monate ihrer Bundestagskarriere dem hohen Haus als fraktionslose Abgeordnete an. Danach machte sie als Vorsitzende der AfD-nahen Desiderius-Erasmus – Stiftung von sich reden.

Ein weiteres Sorgenkind der CDU wäre vor wenigen Monaten beinahe in den Bundestag eingezogen. Hans-Georg Maaßen fiel bereits als Chef des Verfassungsschutzes negativ auf, weil er die Hetzjagden in Chemnitz relativierte und sich wiederholt wohlwollend zur AfD äußerte. Auch eine Koalition mit den Rechten schloss er nicht aus. Mit ihm wäre faktisch ein AfD-Mann mehr in den Bundestag eingezogen. Das haben die Wählerinnen und Wähler aus seinem Wahlkreis aber mehrheitlich verhindert.

Der immer wieder aufkommende Applaus aus den Reihen der CDU ist das beste, was der AfD passieren kann, um ihre politischen Ziele zu erreichen. Der Partei geht es nicht um Spannung im Wahlkampf oder darum, einen besonders geeigneten Kandidaten aufzustellen. Der AfD geht es einzig darum, im Gespräch zu bleiben und den Parlamentsbetrieb und die Verfassung insgesamt lächerlich zu machen.

Parlamentarische Bühne

Die Nominierung Ottes reiht sich nahtlos ein in eine Serie aus ähnlichen durchsichtigen Inszenierungen. In der zurückliegenden Wahlperiode machten sich die Abgeordneten der AfD einen Heidenspaß daraus, Hammelsprünge noch und nöcher zu provozieren. In auffallender Regelmäßigkeit zweifelte sie zu später Stunde die Beschlussfähigkeit des Hauses an. In der Folge mussten alle Abgeordnete zur Zählung den Plenarsaal verlassen, was die Sitzung künstlich in die Länge zog. Konnte selbst die AfD die mehrheitliche Anwesenheit der Abgeordneten nicht ernsthaft in Zweifel ziehen, zog die Fraktion gerne mal spontan aus dem Plenarsaal, um eine unliebsame Abstimmung zu torpedieren. Dieses beinahe kindische Schmierentheater am 14. Dezember 2018 scheiterte am Zusammenhalt der demokratischen Fraktionen.

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14. Dezember 2018: Die AfD missbraucht das Parlament erneut als Bühne für ihre Inszenierungen.

Ein Fall für die Geschichtsbücher ist auch die Wahl des Ministerpräsidenten von Thüringen am 5. Februar 2020. Die Höcke-Fraktion lockte ihre willigen Helfer aus CDU und FDP geschickt in eine Falle, um die Wiederwahl des beliebten Ministerpräsidenten Bodo Ramelow (Die Linke) zu verhindern. Spätestens nach diesem Vorfall war klar, dass es viel zu kurzsichtig ist, der AfD lediglich ein paar dumme rassistische Zwischenrufe und Interviewsequenzen zuzutrauen. Diese Partei spaltet mit ihren Parolen nicht nur die Gesellschaft, sie greift mit ihren Inszenierungen das Parlament als die Herzkammer der Demokratie direkt an.

Präsidiales Dilemma

Natürlich könnte man jetzt den Wähler dafür verantwortlich machen, dass die AfD so stark in den Parlamenten vertreten ist, dass ihre Darbietungen dort nachhaltigen Schaden verursachen. Aber auch das wäre viel zu kurz gegriffen. Es ist einer fehlgeleiteten Politik zu verdanken, die sich viel zu selten am Interesse der Bevölkerung orientiert, dass die AfD heute dort ist, wo sie ist. Es war der Politikstil der letzten Jahre, der die Menschen zuerst abspenstig und dann wütend gemacht hat. Von der aktuellen Situation kann die AfD nur profitieren – egal, wer sich wie angestrengt von Otte distanziert oder es bleibenlässt.

Die CDU könnte natürlich einen eigenen Kandidaten zur Bundespräsidentenwahl aufstellen. Das käme einem Rausschmiss Ottes gleich, den sich die Mehrheit der Partei zwischenzeitlich sowieso wünscht. Ein solcher Schritt würde aber viele besonders konservative Wählerinnen und Wähler zur AfD treiben. Die CDU steckt dadurch in einem echten Dilemma, weil sie natürlich nicht leichtfertig Wähler verprellen will.

Die CDU könnte aber auch das machen, was sie unter Angela Merkels Führung gelernt hat – nämlich gar nichts. Die Partei könnte die Lage aussitzen und sich bei der Bundesversammlung enthalten. Dann müsste die Union aber mit dem Stempel der Drückeberger leben, was sie politisch sicher nicht voranbringen wird.

Die CDU könnte es aber auch so machen wie schon vor fünf Jahren: Steinmeier wählen. Was dann passieren wird, ist seit Thüringen aber leider auch vorprogrammiert. Die AfD wird sich auf die CDU stürzen und ihr vorwerfen, den Kandidaten aus den eigenen Reihen für den populäreren amtierenden Bundespräsidenten geopfert zu haben. Der Rückenwind, den die CDU für diesen Schritt von den demokratischen Parteien zweifellos erhalten wird, vollendet dann die Intrige der Rechtspopulisten. Sie werden monieren, dass plötzlich akzeptabel ist, wofür sie 2020 heftigst kritisiert wurden.


Egal, wie man es dreht und wendet, die AfD wird aus der Misere als Siegerin hervorgehen. Selbst wenn sich die anderen Parteien absolut fair und demokratisch verhalten – sie haben zugelassen, dass eine antidemokratische Partei Macht und Einfluss erhält. Bei der anstehenden Bundespräsidentenwahl muss es der CDU um Schadensbegrenzung gehen. Auf keinen Fall darf die ehemalige Volkspartei zulassen, dass die AfD den Spaltpilz in ihre Mitte treibt. Macht sie die Spielchen der AfD jedoch mit, riskiert sie weitaus mehr als die eigene Bedeutungsstärke in der Bundesrepublik. Sie stärkt dadurch die Feinde der Demokratie und arbeitet gegen das, was sie vor über 70 Jahren aufgebaut hat.


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Auf wackeligen Beinen

Nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Juni waren lange Koalitionsverhandlungen vorprogrammiert. Die Mehrheit aus CDU und SPD war so knapp, dass Rainer Haseloff sein Kabinett um die FDP erweiterte. Der Preis für so viel Kompromissbereitschaft ließ nicht lange auf sich warten: Haseloff gelang es erst im zweiten Wahlgang, sich zum Ministerpräsidenten wiederwählen zu lassen. Der Weg des neuen alten Regierungschefs ist nicht alternativlos: Eine Bündelung der demokratischen Kräfte wäre auch anders denkbar gewesen.

Munteres Zahlenspiel

Seit vergangenem Donnerstag ist es offiziell: Das Land Sachsen-Anhalt hat eine neue Regierung. Ministerpräsident bleibt Rainer Haseloff von der CDU. Er führt das Land fortan mit einer Deutschlandkoalition mit SPD und FDP. Wie bereits in Thüringen vor anderthalb Jahren zeichnete sich bereits am Wahlabend am 6. Juni ab, dass es zu langen Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen kommen würde. Klarer Wahlsieger war zwar Haseloffs CDU, doch gestaltete es sich schwierig, die Bedürfnisse aller Koalitionspartner unter einen Hut zu bringen.

Umso erstaunlicher ist nun, dass es Ministerpräsident Haseloff gelungen ist, sich aus drei unterschiedlichen Lagern zum Regierungschef wählen zu lassen – wenn auch erst beim zweiten Anlauf. Immerhin ist die Regierungsbeteiligung der FDP rein rechnerisch überhaupt nicht vonnöten. Die CDU in Sachsen-Anhalt käme auch allein mit der SPD auf eine absolute Mehrheit. Die beiden Parteien stellen im Magdeburger Landtag derzeit 49 von 97 Sitzen, also genau die Anzahl an Mandaten, die für eine Mehrheitsbildung nötig ist.

Alles für die Mehrheit

Die Liberalen wurden als reiner Stabilitätsfaktor mit ins Boot geholt. Der erste Wahlgang vom Donnerstag zeigte, dass dieser Puffer eine gute Investition für Rainer Haseloff war. Selbst mit dieser breiten Mehrheit gelang es ihm zunächst nicht, auf die absolute Mehrheit zu kommen. Wie wäre der Wahlgang wohl ausgegangen, wenn die FDP nicht gewesen wäre?

Vermutlich hätte Haseloff eine noch herbere Niederlage einstecken müssen. Trotzdem ist es durchaus bedenklich, dass die rechnerische Mehrheit zulasten der Opposition erweitert wird. Rainer Haseloff mag die Landtagswahl zwar haushoch gewonnen haben, trotzdem verteilten sich abweichende Meinungen auf insgesamt fünf Parteien. Es ist nicht demokratisch, diese Vielfalt an Widerspruch durch Mehrheitsbeschaffungsmaßnahmen ungerecht kleinzuhalten.

Weniger Opposition, mehr AfD

Es ist nämlich einerseits keine Selbstverständlichkeit für die FDP, überhaupt in den Landtag eines ostdeutschen Bundeslands gewählt worden zu sein. Seit der Wiedervereinigung hatten es die Liberalen eher schwer, in diese Parlamente einzuziehen. Das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler nun dazu zu nutzen, um auf Teufel komm‘ raus in der Regierung zu sitzen – das ist für die FDP schon einmal nach hinten losgegangen.

Diese Schwächung der Opposition hat aber noch einen anderen Effekt. Die Oppositionsführerin AfD hat nach der Fahnenflucht der FDP nun noch mehr Gewicht. Mit einem Konkurrenten weniger in der Opposition wird es ihr noch leichter fallen, sich als einzige wählbare Alternative zu gerieren.

Dokumentierte Treue

Über ihren vermeintlichen Wahlsieg im Juni kann sich die CDU also nach wie vor nicht freuen. Der Abstand zur AfD ist zwar größer als erwartet, doch besonders in der CDU brodelt ein Richtungsstreit, der Haseloff einige Stimmen gekostet hat. Großes Streitthema in der Fraktion ist der Umgang mit der AfD. Haseloffs Brandmauerpolitik gefällt nicht jedem. Dieser Zwist wird einer der Gründe dafür sein, warum Haseloff im ersten Wahlgang insgesamt acht Stimmen abhandengekommen sind.

Um sich keinem falschen Verdacht auszusetzen, sah sich mindestens ein Abgeordneter der CDU beim zweiten Wahlgang dazu genötigt, seinen Stimmzettel mit dem Kreuz für Rainer Haseloff zu fotografieren. Diesen fragwürdigen Treueschwur nutzen die Grünen nun dazu, um gegen die Wahl vorzugehen. In jedem Fall verdeutlicht dieser Vorgang den Riss, der durch die CDU-Fraktion in Sachsen-Anhalt geht.

Auf wackeligen Beinen

Die wackelige Mehrheit, auf die sich Rainer Haseloff beruft, ist kein neues Phänomen. Seit Jahren verlieren rechnerische Mehrheiten nach Parlamentswahlen an Bedeutung. Immer wieder mussten gestandene Politiker erleben, wie sie von Gefährten aus den eigenen Reihen zu Fall gebracht wurden. Erinnert sei hier nur an den traurigen Fall von Heide Simonis (SPD). Einer der ihren verweigerte ihr in insgesamt vier Wahlgängen die Unterstützung und führte damit die ehemalige Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein vor.

Auch die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel musste die Erfahrung machen, dass ihre Koalition nicht geschlossen hinter ihr steht. Bei ihrer Wiederwahl zur deutschen Bundeskanzlerin am 14. März 2018 fehlten ihr insgesamt 35 Stimmen. Selbst bei einer Großen Koalition ist diese Differenz bemerkenswert.

Eine Regierung für alle?

Diese unsteten Mehrheiten zeigen, dass es den Parteien zunehmend schwerfällt, die politischen Kräfte in klassischen Mehrheitskoalitionen zu bündeln. Oft wird in diesem Atemzug die AfD genannt, die die politische Ordnung durcheinanderbringt. Man rechtfertigt übergroße Koalitionen wie in Sachsen-Anhalt damit, dass sich die demokratischen Parteien gegen die AfD zusammenschließen müssten.

Die Verteidigung der Demokratie ist durchaus eine wichtige Aufgabe aller demokratischen Parteien. Eine Regierung sollte aber nicht nur den Kampf gegen die Undemokraten in einer Gesellschaft im Blick haben, sondern vor allem die Bedürfnisse der breiten Mehrheit. Bei zu großen Regierungskoalitionen schauen viele Menschen schnell in die Röhre. Unter dem Vorzeichen des Kompromisses ist es der Politik dann nicht mehr möglich, der politische Vielfalt in der Bevölkerung angemessen Rechnung zu tragen.

Angewandte Demokratie

Im übrigen könnten die Parteien der AfD auch ohne künstlich erzeugte Mehrheiten etwas entgegensetzen. Jenseits von Regierungsmehrheiten ist ein Zusammenschluss in Einzelfragen durchaus möglich. Das Stichwort ist hier „Toleranz“. Diese Toleranz kann sogar so weit gehen, dass die Parteien eine Regierung akzeptieren, die auf keine parlamentarische Mehrheit kommt. In Sachsen-Anhalt könnte davon besonders die FDP profitieren, die weiterhin keine Abstriche aus Rücksicht auf eine Koalition nehmen müsste.

Solche Minderheitsregierungen würden dem Wunsch vieler Menschen im Volk entsprechen. Die Parteien müssten wieder echte Überzeugungsarbeit leisten. Es würde wieder eine lebendige Diskussion stattfinden. Die Hetzer von rechts hätten es schwerer, vom politischen Einheitsbrei zu faseln. In Zeiten, in denen es immer schwerer wird, stabile Mehrheiten zu bilden, wäre eine solche Lösung ein wahrer Gewinn für die Demokratie. Dieser Weg wäre ausdrücklich kein Einknicken vor der AfD. Viel eher würde man den Wunsch in der Bevölkerung nach Unterscheidbarkeit der Parteien ernstnehmen. Im Kampf für die Demokratie helfen keine Machtdemonstrationen. Es braucht Demokratiedemonstrationen.

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