Schwarzer Tag für Berlin

Lesedauer: 7 Minuten

Den meisten Parteien im Berliner Abgeordnetenhaus dürfte es nicht gepasst haben, dass die Wahl von 2021 wiederholt werden musste. Das Wahlergebnis vom 12. Februar dürfte ihren Argwohn noch vergrößert haben: Die FDP fliegt aus dem Parlament, Rot-Grün-Rot ist schwach wie selten und der Regierungsauftrag liegt klar bei der CDU. Ein Grund zum Jubeln ist der Ausgang der Wahl sicher nicht, erst recht nicht, wenn man sich die erschreckend geringe Wahlbeteiligung ansieht. Weniger als zwei Drittel der Berlinerinnen und Berliner haben ihr Recht auf Mitbestimmung wahrgenommen. Das Vertrauen in die Politik ist an einem neuen Tiefpunkt angekommen. Berlin steuert auf ungewisse Zeiten zu.

The same procedure…

Berlin hat gewählt. Mal wieder. Nachdem es bei der letzten Wahl zum Abgeordnetenhaus zu beschämenden Pannen kam, musste der komplette Vorgang wiederholt werden. Auch die damals gleichzeitig stattgefundene Bundestagswahl wird zumindest in einigen Wahlbezirken noch einmal stattfinden. Das Ergebnis der Wiederholungswahl vom 12. Februar könnte eindeutiger nicht sein: Die Berlinerinnen und Berliner haben keine Lust mehr auf den rot-grün-roten Senat.

Dramatisch verloren hat bei der Wahl wahrlich keine der drei Parteien. Entscheidend ist, wer gewonnen hat. Mit einem Zugewinn von etwa 10 Prozent hat die CDU den Wahlsonntag klar für sich entschieden. Auch wenn es der noch amtierenden Ersten Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD) nicht passen dürfte: Der Auftrag eine Regierung zu bilden, ging an die CDU und nicht an ihre Partei.

Immerhin haben die Sozialdemokraten gerade das mieseste Ergebnis zu verkraften, das sie bei einer Berliner Wahl seit der Wiedervereinigung erreicht haben. Mit ihren mickrigen 18 Prozent haben sie so gar nichts erreicht. Sie taugen weder zur Volkspartei noch als Splitteranhängsel einer Koalition aus stärkeren Parteien. Man fragt sich: Ist das Opposition oder kann das weg?

Ruhmreiche Verlierer

Theoretisch ist eine rot-grün-rote Mehrheit gegeben. Nach dem ersten Versuch der Wahl konnten sich die drei Koalitionäre noch damit brüsten, dass es keine Partei im Abgeordnetenhaus gab, die ein deutlich besseres Ergebnis eingefahren hätte als sie selbst. Die große Wählergunst der Grünen legitimierte dann schließlich die Regierung aus SPD, Grünen und Linken.

Knapp anderthalb Jahre später sieht das ganz anders aus. Die CDU ist der zweitplatzierten SPD haushoch überlegen, eine Regierung gegen die Konservativen grenzte an Wählerbetrug. Außerdem würde es in dem Dreierbündnis sicher schnell zu Reibereien kommen, weil sich SPD und Grüne über ihre jeweiligen Rollen und ihren Einfluss nicht so einfach einig werden könnten. Die Sozen haben immerhin gerade einmal 105 Stimmen mehr eingefahren als die Grünen.

Eine Fülle an Möglichkeiten

Das Wahldrama von Berlin ist mit dem 12. Februar lange nicht ausgestanden. Es zeichnet sich eine zähe Regierungsbildung ab, weil alle möglichen Bündnisse unrealistisch erscheinen. Die Wahlsiegerin CDU hätte es besonders schwer, Koalitionspartner für sich zu gewinnen. Theoretisch denkbar wäre eine Zusammenarbeit mit den Grünen. Da diese allerdings gerade aus einer linksgerichteten Regierung kommen, würden sie viele ihrer Wähler vor den Kopf stoßen, wenn sie nun mit der CDU koalierten.

Grundsätzlich möglich wäre auch eine Große Koalition mit der SPD. Dann jedoch würde Bürgermeisterin Giffey das Schröder-Schicksal ereilen: Eine Koalition mit der Union vehement ausschließen und dann über den Mehrheitsbeschluss der eigenen Partei stolpern. Wem wäre damit gedient?

Zum Glück muss die SPD ihre Vorreiterrolle in einer Fortsetzung der jetzigen Regierung nicht an die Grünen abgeben. Der Gesichtsverlust für die noch amtierende Erste Bürgermeisterin wäre unvorstellbar, Reibereien scheinen vorprogrammiert. In letzter Konsequenz mündete diese ungünstige Konstellation in der Ausrufung von Neuwahlen. Es wäre nachvollziehbar, wenn sich die Bürger in diesem Falle verschaukelt fühlten.

Die kleine Mehrheit

Verschaukelt fühlten sich viele offensichtlich schon vor der Wiederholungswahl. Die Wahlbeteiligung liegt mit 63 Prozent beschämend niedrig. Die im nächsten Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien haben aber noch mehr Wählerinnen und Wähler verloren. Denn sowohl die FDP als auch die sonstigen Parteien haben erheblichen Einfluss auf die Mehrheitsbildung im neuen Parlament. Mit rund 14 Prozent der abgegebenen Stimmen erreichen sie in der Summe ein beachtliches Ergebnis – sind aber im Abgeordnetenhaus nicht vertreten. Wer diese Parteien wählte, bleibt die nächsten Jahre ohne politische Vertretung in der Hauptstadt – und das sind ziemlich viele Menschen.

Durch den hohen Anteil an Stimmen, die keine politische Abbildung finden, verschiebt sich das Mehrheitsverhältnis sehr zugunsten der fraktionsfähigen Parteien. Die absolute Mehrheit können sich die unterschiedlichen Bündnisse schon mit etwas mehr als 40 Prozent sichern. Allein dieser Umstand dürfte die Legitimierung einer wie auch immer gearteten Koalition in Zweifel ziehen.

Die Umfragen zu möglichen Zusammenarbeiten fallen umso vernichtender aus. Keine der denkbaren Koalitionen findet starken Rückhalt unter den Wahlberechtigten in Berlin. Eine von der CDU angeführte Regierung ist ebenso unbeliebt wie eine Fortführung der rot-grün-roten Koalition. Es kann dafür nur eine Erklärung geben: Die Wählerinnen und Wähler haben das aus ihrer Sicht kleinste Übel gewählt. Zu keiner der zur Wahl stehenden aussichtsreichen Parteien haben sie Vertrauen. Zu oft wurden sie dafür enttäuscht.

Pleiten, Pech und Pannen

Neuwahlen würden dieses Problem nicht lösen. Es ist sogar zu erwarten, dass die Wahlbeteiligung bei einem dritten Wahlgang noch geringer läge. Das Wahlverhalten am 12. Februar ist vor allem ein Zeugnis von Enttäuschung und Resignation unter den Wählerinnen und Wählern.

Nicht nur die schlechte Regierungs- und Oppositionsarbeit der verschiedenen Parteien rechtfertigt diesen Vertrauensverlust. Die zuständigen Wahlämter waren beim ersten Versuch 2021 nicht dazu in der Lage, eine vernünftige Wahl auf die Beine zu stellen. Jede Panne an diesem Tag – von den fehlenden Stiften über die ausgehenden Wahlzettel bis hin zu den plötzlich hochschnellenden Prognosebalken – war auf Unfähigkeit und Überforderung zurückzuführen. Es ist kein Wunder, dass sich viele Menschen dazu entschieden, diesem Affenzirkus dieses Mal fernzubleiben.

Repräsentatives Regieren

Zurück bleibt ein schwieriges Wahlergebnis. Damit müssen die Parteien jetzt umgehen. Um der Demokratie nicht noch weiteren Schaden zuzufügen, müssen sie schleunigst eine Lösung im Sinne Berlins finden. Dabei spielen gegenseitige Zugeständnisse eine zentrale Rolle. Die Versteifung auf potenzielle Mehrheiten bei dieser Ausgangslage ist kontraproduktiv.

Das diversifizierte Wahlverhalten muss in der nächsten Regierung berücksichtigt werden. Im Raum steht nicht weniger als eine Minderheitsregierung, die dem Abstimmungsergebnis Rechnung trägt. So kommen zumindest viele von denen zum Zug, die am Wahltag ihre Stimme abgaben. Damit würden die Parteien Anreize setzen, beim nächsten Mal wieder zur Wahl zu gehen. Damit würden sie von Verlierern zu Gewinnern werden.

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Ein linkes Problemkind?

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Krise bei den Linken: Mit seinen Äußerungen zur militärischen Unterstützung der Ukraine hat der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow eine Grundsatzdebatte losgetreten. Viele Mitglieder der Partei wenden sich entsetzt ab – in den letzten Tagen kam es verstärkt zu Parteiaustritten. Andere halten dem umstrittenen Politiker treu die Stange. Die Belastbarkeit der Partei wird erneut auf die Probe gestellt.

Ein Ministerpräsident schießt quer

Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) begrüßt die Lieferung von Waffen an die Ukraine zur militärischen Unterstützung gegen Russland. Mit diesem Kurswechsel stößt der Politiker nun auf heftigen Gegenwind aus der eigenen Partei. Gegen die Ideen von Ramelow gehen einige seiner Genossinnen und Genossen regelrecht auf die Barrikaden. Sie werfen ihm eine Spaltung der Partei aus machtpolitischem Kalkül vor.

Die Kritik aus den eigenen Reihen reicht von bissigen Kommentaren in den sozialen Medien bis hin zu Parteiaustritten, die seit Ramelows Äußerungen spürbar in die Höhe schnellten. Mehre Linke-Abgeordnete, darunter auch Mitglieder der Fraktion im Erfurter Landtag, werfen dem Ministerpräsidenten eine Sozialdemokratisierung der Partei und eine geschmacklose Anbiederung an potentielle künftige Koalitionspartner vor. Vereinzelt fordern manche explizit den Rücktritt des Thüringer Regierungschefs oder legen ihm einen Parteiaustritt nahe. Nach ihrer Auffassung habe er nach seinen jüngsten Äußerungen nichts mehr in der Partei verloren.

Ähnlich sieht es auch die Linksjugend solid. Die Jugendorganisation hat sogar eine Petition gestartet, mit der sie ein Parteiausschlussverfahren erwirken möchte. Eine Sprecherin sieht in den Äußerungen Ramelows einen Bruch mit dem Grundsatzprogramm der Partei: „Was Bodo Ramelow gesagt hat, ist in einer pazifistischen Partei untragbar. Mit seinen Äußerungen kann er sich zu den Kriegstreibern von Grünen und CDU gesellen.“

Umstrittener Regierungschef

Die radikale Reaktion der Jugendorganisation trifft in der Gesamt-Partei auf breite Unterstützung. Aus der Parteizentrale hieß es am Montag knapp: „Die Äußerungen von Bodo Ramelow spiegeln nicht die Meinung der Partei Die Linke wider. Waffenlieferungen lehnen wir strikt ab.“

Seit längerem ist Ramelow der Führung der Partei ein Dorn im Auge. Sie wirft ihm vor, durch seinen Kurs Wähler vertrieben zu haben, die sich eine deutlich linkere Partei wünschten. Unter Ramelow, so die Spitze der Partei, habe sich Die Linke immer weiter Richtung Mitte bewegt und sei heute praktisch nicht mehr von SPD und Grünen unterscheidbar. Die beiden Koalitionspartner habe er damit kaputtregiert und müsse nun nach neuen Bündnissen Ausschau halten. Auch den Skandal um das Spiel Candy Crush haben viele in der Partei noch nicht verdaut.

Petition und Gegenpetition

Auf eine mögliche Spaltung seiner Partei angesprochen, hat Ramelow selbst seine Positionen immer wieder verteidigt. Seiner Ansicht nach müsse man die Lage ideologiefrei und ohne Denkverbote bewerten. Mit Russland habe man es mit einer Atommacht zu tun, der nur mit konsequenter Härte begegnet werden könne. Die schnelle Beendigung des Kriegs und des Sterbens habe für ihn oberste Priorität. Nichts liege ihm mehr am Herzen als die Leben der Menschen, die unter dem Krieg leiden.

Die Berichterstattungen über die Kritik an seinen Äußerungen hält der Politiker für überzogen. Er gesteht ein, dass es eine Strömung in seiner Partei gibt, die an Abrüstungsfantasien und Diplomatie festhalte und damit die westlichen Werte von Frieden und Freiheit verrate. Diese Strömung hält er für überrepräsentiert, weil sie die Gesamtmeinung der Partei nicht authentisch wiedergebe. Laut eigenen Angaben genieße er enormen Rückhalt in der Partei. Neben der Petition, die seinen Ausschluss aus der Partei fordert, gebe es eine weitere Petition, die sich für seine Ansichten starkmacht. Er bedauert, dass darüber fast gar nicht berichtet würde. Auf die Namen der ihn unterstützenden Mitglieder und Abgeordneten angesprochen, reagiert er bislang ausweichend und macht keine näheren Angaben dazu.

Fakt ist, dass es tatsächlich eine Gruppe von Abgeordneten im Thüringer Landtag gibt, welche die Positionen des Ministerpräsidenten unterstützen. Das sogenannte Ramelow-Lager macht bereits seit Jahren durch Provokationen und gezielte Grenzüberschreitungen von sich reden. Die Parteiführung macht Ramelow unter anderem für das starke Abschneiden der AfD bei der Landtagswahl in Thüringen 2019 verantwortlich. Die rechtsextreme Partei war dort deutlich zweitstärkste Kraft geworden.

Fataler Zeitpunkt

Einige Mitglieder des Parteivorstands, aber auch Abgeordnete aus dem Bundes- und den Landtagen kritisieren Ramelow außerdem für den Zeitpunkt seiner Äußerungen. „Wir sitzen nicht in vielen westdeutschen Parlamenten. Eine solche Debatte gerade einmal ein halbes Jahr vor der Bremenwahl vom Zaun zu brechen, ist absolut destruktiv“, lässt sich ein Parteimitglied zitieren, das lieber anonym bleiben möchte.

Auch Politikwissenschaftler schlagen Alarm. Sie sehen die Gefahr, dass Die Linke aus den wenigen westdeutschen Landesparlamenten, in denen sie vertreten ist, wieder herausgewählt werden könnte. Prof. Dr. Ingmar Schneck von der Universität Freiburg warnt deshalb eindringlich: „Sollte die Parteiführung den schwelenden Zwist zwischen dem Ramelow-Lager und dem Rest der Partei nicht in den Griff bekommen, droht der Partei bei anstehenden Wahlen ein Debakel.“

Aus der offiziellen Erklärung des Parteivorstands heißt es weiterhin, dass die umstrittenen Äußerungen von Bodo Ramelow noch mehr Menschen zu „kriegstreibenden Parteien wie CDU und Grünen“ führen würden. Laut Einschätzung des obersten Gremiums der Partei würde sich Die Linke damit überflüssig machen. Entsprechend laut ist schon jetzt der Zuspruch, den Ramelow von Vertretern der genannten Parteien erhalten hat.

Beispielsweise wurde von den Grünen jüngst ein Motiv für geplante Wahlkampfplakate zur Bremenwahl geleaked. Auf dem Plakat ist die Silhouette von Bodo Ramelow zu sehen. In weißen Lettern steht auf grünem Grund geschrieben: „Bodo hat recht.“ Ramelow selbst ließ verlauten, gegen diese Vereinnahmung seiner Position gerichtlich vorzugehen. Er erklärte außerdem sinngemäß, man könne vernünftige Argumente nicht in Grund und Boden stampfen, weil die gegnerische Seite dazu applaudiert.


Es zeichnet sich ein Richtungsstreit bei den Linken ab. Welche Seite sich behaupten wird, werden die nächsten Monate zeigen. Momentan behält die Parteiführung noch die Oberhand, aber spätestens nach der Bürgerschaftswahl in Bremen wird sich die Partei erneut mit der Ramelow-Frage beschäftigen müssen.

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Politische Leerstelle

Lesedauer: 9 Minuten

In den letzten Jahren hat sich eine regelrechte Euphorie für politische Umfragen entwickelt. Beinahe fetischhaft verfolgen manche, wie es um die Gunst der Parteien bei den Wählerinnen und Wählern steht. Am Wahlabend erlebten sie dann so manche Überraschung. Doch Umfragewerte und Wahlergebnisse haben ein Problem: Sie werden von immer weniger Menschen gemacht. Viele Bürgerinnen und Bürger gehen entweder überhaupt nicht mehr zur Wahl oder sie wählen eine Partei, um eine andere Partei zu blockieren. Sie haben schlicht keine politische Vertretung mehr. Seit Jahren wächst diese Gruppe an politisch Verwahrlosten stetig an. Für die Demokratie ist das ein ernsthaftes Problem.

Überraschender Sieg

Der SPD ist bei der Bundestagswahl 2021 etwas gelungen, wovon sie viele Jahre nur träumen konnte: Sie wurde stärkste Kraft im Parlament. Altkanzler Schröder verfrachtete die Partei durch Sozialabbau und Hartz-Reformen für viele in die Unwählbarkeit. Angela Merkel trieb die Sozialdemokraten in insgesamt drei Großen Koalitionen vor sich her und hielt sie an der kurzen Leine. Durch den selbstgewählten Abtritt der ewigen Kanzlerin schöpfte die SPD neuen Mut und ging zögerlich, dann aber immer selbstbewusster in den Wahlkampf.

Am 26. September 2021 war die SPD die große Siegerin des Abends. Auch bei der Landtagswahl im Saarland im März 2022 triumphierte die SPD und holte sich sogar die absolute Mehrheit. Auch die Grünen treiben seit Jahren auf einem Hoch. Bei der Bundestagswahl 2021 schnitt die Partei sogar noch besser ab als beim Erdrutschsieg der FDP 2009.

Blinder Fleck

Der Erfolg der Parteien lässt sich spielend einfach an den Balken am Wahlabend ablesen. Nicht nur der Stimmanteil der Parteien wird dadurch wiedergegeben, auch die Gewinne und Verluste lassen sich mit der bewährten Methode darstellen. Doch seit Jahren verliert die klassische Lesart des Wahlergebnisses an Schlagkraft. Korkenknallen angesichts des Ergebnisses bei der Bundestagswahl gab es bestenfalls in der Parteizentrale. Eine echte Wechselstimmung wie nach der Abwahl von Helmut Kohl gab es unter den Bürgerinnen und Bürgern nicht.

Dabei sind die Gewinne und Verluste der Parteien mitunter beträchtlich. Die Euphorie im Volk bleibt trotzdem aus. Es gibt bei den Balken und Tortendiagrammen am Wahlabend einen immer größer werdenden blinden Fleck: die Nichtwähler und solche Wähler, die ihr Kreuz zufällig vergeben haben.

Zum Nichtwähler gemacht

Betrachtet man nämlich die Wählerwanderung, stellt man schnell fest, dass die etablierten Parteien gar nicht so sehr in Konkurrenz zueinander stehen, wie sonst immer beschworen wird. Es gibt Abwanderungen von einer Partei zur anderen, doch die zahlenstärksten Verluste müssen die meisten Parteien schon lange ans Lager der Nichtwähler abdrücken. Auf Landes- und Kommunalebene wiegt dieser demokratische Verlust besonders schwer: Bei der Landtagswahl in NRW am 15. Mai blieb fast die Hälfte der Wahlberechtigten den Wahllokalen fern.

Solch demokratieschädlichen Zustände als Erfolg für einzelne Parteien oder gar die parlamentarische Demokratie zu feiern, grenzt an Realitätsverweigerung. Wenn fast 50 Prozent der Bevölkerung nicht zur Wahl geht, steht am Ende die Hälfte ohne politische Vertretung da. Reflexartig reagieren manche da mit Häme und verbieten den unglückseligen Vertretungslosen zu jammern. Immerhin haben sie ihr Schicksal selbst so gewählt, als sie nicht an der Wahl teilnahmen.

Andersrum wird ein Schuh daraus: Das fehlende politische Angebot, die häufigen Enttäuschungen mit Politikern und das Gefühl, von der Politik nicht ernstgenommen zu werden, trieb viele dieser Menschen zu ihrer Entscheidung, am Wahlsonntag nicht das Haus zu verlassen. Die fehlende politische Repräsentanz dieser Leute ging ihrer verpassten Stimmabgabe voraus.

Verengtes Spektrum

Verluste fahren seit Jahren vor allem zwei Parteien ein – selbst unter denen, die noch zur Wahl gehen. Den beiden ehemaligen Volksparteien CDU und SPD laufen die Wähler davon. Die beiden „Großen“ verlieren besonders viele Wähler ans Nichtwählerlager. Die Klientel anderer Parteien ist hingegen relativ stabil, wenn nicht sogar im Aufschwung. Grüne und FDP durften sich bei den letzten Wahlen über das Krönchen der Königsmacher freuen, weil ohne sie keine Regierung zustandekam.

Doch das Spektrum von Grünen bis AfD reicht bei weitem nicht aus, um das vielfältige Meinungsspektrum im Land abzubilden. Die sogenannten Klientelparteien können gar nicht allen Menschen eine politische Heimat bieten, das ist auch gar nicht ihre Aufgabe. Doch die beiden Volksparteien sind mittlerweile so beliebig und profillos geworden, dass es für viele Menschen überhaupt keinen Unterschied mehr macht, wen sie wählen. Diese Erkenntnis ist meist der erste Schritt zu den Nichtwählern. Wenn meine Stimme sowieso keinen Unterschied macht, dann kann ich es auch gleich bleiben lassen.

Personalfragen

Die Festung, die CDU und SPD einst bildeten, bröckelt. Nach Jahren der beinahe zwanghaften Kooperation befinden sich beide Parteien in einem desolaten Zustand. Immer weniger werden diese Parteien wegen ihres Programms gewählt, dafür gibt es Grüne und FDP. Stattdessen versuchen viele Wählerinnen und Wähler durch die Wahl von CDU und SPD potenzielle Koalitionen zu ermöglichen oder auszuschließen. Im Fokus des Wahlkampfes 2021 stand nicht, ob CDU oder SPD die Wahl gewinnen. Im Fokus stand, mit wem Baerbock und Lindner regieren werden.

Mit solchen Personalfragen können die meisten Menschen nichts anfangen. Für sie ist nicht entscheidend, wer an der Spitze steht, sondern ob Politik in ihrem Sinne gemacht wird. Sie haben in den letzten Jahren immer wieder erfahren, dass ihre Bedürfnisse und Probleme die Entscheidungsträger in Bund und Land immer weniger interessieren. Sie können mit einem Tempolimit auf der Autobahn nichts anfangen, weil sie darin eine Beeinträchtigung ihres Lebensstils erkennen – und zwar ausschließlich das. Gendern und vielfältige Sprache empfinden sie als Bevormundung, nicht als Bereicherung. Und wenn ein Cem Özdemir (Grüne) die Ramschpreise für Obst und Gemüse abschaffen will, dann gibt es für sie Tütensuppe.

Viel Gerede um nichts

Geht doch einmal die Wundertüte um, sind viele bestenfalls Zaungäste, während andere beherzt hineingreifen. Der Pflegebonus und die Grundrente sind gute Ideen, von denen aber viel zu viele Menschen ausgeschlossen sind. Für viele macht es nach 40 Beitragsjahren unter’m Strich kaum einen Unterschied, ob sie die reguläre Mickrigrente oder die viel gepriesene Grundrente bekommen. Geredet wird über solche Pläne lange und ausgiebig, bei rum kommt dafür viel zu wenig.

Die Friseurin, die knapp zwei Jahre nach dem ersten Lockdown dringend darum gebeten wird, die zu viel gezahlten Coronahilfen unverzüglich und am besten auf einen Schlag zurückzuzahlen, dürfte eher zerknirscht sein, wenn sich große Konzerne großzügig vom Staat durch die Krise hieven lassen, gleichzeitig aber Rekordgewinne verzeichnen und fleißig Dividenden ausschütten. Eine solche Ungleichbehandlung zerstört das Vertrauen in einen durchsetzungsstarken und bürgernahen Staat. Denn Entlassungen gab es in solchen Konzernen trotzdem.

Premiere in der Bundesrepublik

Für solche Schicksale und Ungerechtigkeiten gibt es aktuell keine ernstzunehmende Kraft im deutschen Parteiensystem. Eine Zeit lang hofften einige Menschen, bei der AfD eine neue politische Heimat gefunden zu haben. Doch alsbald mussten sie feststellen, dass diese Partei überhaupt keine Chance hat, das Zepter zu übernehmen, doch nicht so treusorgend ist, wie sie sich immer geriert oder sie aufgrund innerparteilicher Querelen in diesem Leben nicht mehr aus dem Quark kommt. Wer nicht davor schon Nichtwähler war, der ist es dafür heute.

Einzig Die Linke würde gemäß ihrem Parteiprogramm eine politische Vertretung für diese Menschen sein. Sie ist es aber nicht. Viel lieber begnügen sich die demokratischen Sozialisten damit, die sozialeren Grünen zu sein. Seit sie in der Regierung sitzen, ist es bei den Grünen mit sozialen Vorhaben nämlich auch nicht mehr weit her. Und so erlebt die Bundesrepublik gerade etwas, was in ihrer Geschichte noch nicht vorkam: Eine Partei gibt sich komplett auf.

Eine exklusive Demokratie

Die sozialen Forderungen der Linken sind zwischenzeitlich nur noch Beiwerk einer Partei, die sich mit bestimmten personellen Entscheidungen längst mit der Rolle als Steigbügelhalter der Grünen abgefunden hat. Dieser Verrat an den Grundwerten und der Stammwählerschaft der Partei schlägt sich auch in deren Wahlergebnissen nieder. Die Linke kann sich anstrengen, wie sie will: Sie wird von den Wählerinnen und Wählern nicht mehr als die soziale Opposition wahrgenommen.

Dem vorausgegangen ist ein jahrelanger Kraftakt des politischen Zerstörungswillens, um das einzureißen, was andere über lange Zeit aufgebaut hatten. Man überließ manche Politikfelder komplett den Rechten und schlug den Wählern damit sprichwörtlich ins Gesicht. Wenn sich eine Partei so verhält, beschädigt sie die Demokratie enorm. Sie lässt es sehenden Auges zu, dass ein großer Teil der Bevölkerung ohne politische Vertretung im Parlament bleibt oder zwingt diese Menschen regelrecht, sich Parteien zuzuwenden, die ganz sicher nicht in ihrem Sinne agieren.

Seit Jahren ist Die Linke fleißig damit beschäftigt, ihrer Parteigeschichte einen Sargnagel nach dem anderen zu verpassen. Die SPD hat sich mal wieder in einer Regierung verheddert, in der sie viele sinnvolle Ziele nicht umsetzen kann. Mit der FDP auf den Regierungsbänken wird es keinen sozialen Aufschwung in unserem Land geben. Es scheint allmählich Normalität zu werden, dass manche Menschen politisch den Kürzeren ziehen. Eine Demokratie darf sich so etwas nicht erlauben. Die Bundesrepublik Deutschland darf kein Land werden, indem sich nur noch die Bessergestellten einbringen und eine Stimme haben.


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