Fortschritt will Vorteil haben

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Die wichtigste Zutat für Fortschritt ist Veränderung. Der Mensch ist allerdings so gestrickt, dass er auf Veränderung keine Lust hat. Auf Veränderungen lässt er sich nur ein, wenn er sich einen erheblichen Vorteil davon verspricht. Ansonsten geht er nicht selten auf die Barrikaden und versucht alles, um die unliebsame Veränderung abzuwehren. So lassen sich die Unterwanderung von Klimaschutzgesetzen erklären, aber auch der Erfolg und Misserfolg mancher Politiker.

Das Duell der Gleichen

Vor wenigen Tagen standen sich Susanne Eisenmann von der CDU und der amtierende baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann beim TV-Duell gegenüber. In etwas mehr als 60 Minuten bezogen sie Stellung zu aktuellen landes- und bundespolitischen Themen. Echte Spannung gab es an diesem Abend keine und die meisten Zuschauer waren wohl froh, als die Schlussworte folgten. Viele Momente bei der Live-Konfrontation erinnerten in erschreckender Weise an so manches Kanzlerduell der letzten Jahre.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die beiden Kandidaten waren sich in zu vielen Punkten einig. Immer wieder waren sich Eisenmann und Kretschmann grün. Wie kommt es also, dass sich gerade diese beiden Pappaufsteller in ihren Parteien gegen alle anderen Kandidaten durchgesetzt haben? Warum haben andere Parteien keine Chance auf den Posten des Ministerpräsidenten?

Nötig dafür wäre ein echter Politikwechsel. Ein solcher Umschwung entsteht aber nicht aus netten Sonntagsreden, wie sie neulich wieder zu beobachten waren. Eine politische Kehrtwende erfordert immer den Mut zur Veränderung. Leider mangelt es bei den meisten hier aber bereits beim Willen dazu.

Fortschritt durch Nichtstun

Der Mensch ist ein Herdentier, das immerwährend nach Fortschritt strebt. Der Mensch ist aber auch extrem harmoniebedürftig. Veränderung passt ihm da gar nicht in den Kram. Ohne Veränderung gibt es aber auch keinen echten Fortschritt.

Einfaches Beispiel: Fragt man einen zufälligen Passanten, ob er für mehr direkte Demokratie ist, so fällt die Antwort zu 98 Prozent positiv aus. Bohrt man dann weiter nach, ob man denn bereit wäre, für dieses Ziel konkrete Maßnahmen zu ergreifen, so schwindet die Kooperationsbereitschaft zusehends. Ähnlich ist es beim Klimawandel. Jeder weiß, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern und jeder schreit danach, man möge die nötigen Schritte einleiten. Und trotzdem gibt es viel zu viele Menschen, die meinen, der Kampf gegen den Klimawandel sei die Angelegenheit von Experten. Viel zu wenige werden selbst tätig. Das ist einerseits ein Kommunikationsproblem, andererseits aber auch Bequemlichkeit.

Enorme Kraftanstrengung

Der Mensch lässt sich nur dann auf Veränderung ein, wenn sie ihm einen konkreten Nutzen bringt. Der Erfolg muss die Anstrengung deutlich übersteigen. Es reicht nicht aus, wenn der Gewinn am Ende zwar reichlich ist, die Opfer aber auch. Vielleicht ist dieses Verhalten evolutionär erklärbar. Immerhin steht der Mensch heute nicht umsonst an der Spitze der Nahrungskette. Mit ausgeklügelten Strategien erarbeitete er sich stets einen Vorteil gegenüber möglichen Fressfeinden. Das machte nur Sinn, wenn dieser Vorteil kein Zufallstreffer war, sondern nachhaltig die Existenz der eigenen Spezies gesichert hat.

Trotzdem liebt der Mensch den Weg des geringsten Widerstands. Kurzsichtige Menschen würden nun das Beispiel des Discounterschnitzels heranziehen. Wenn sich mancheiner sein Fleisch lieber im Regal von Aldi & Co. besorgt, anstatt den beschwerlichen Weg zum Metzger anzutreten, sehen das viele als unwiderlegbaren Beweis dafür, dass die reine Kostenfrage einem nachhaltigen Lebensstil im Wege steht. Sie übersehen dabei allerdings, dass sich diese Discountersünder das Schnitzel beim Metzger gar nicht leisten können und ihre Kaufentscheidung weniger mit Bequemlichkeit als mit politischen Rahmenbedingungen zu tun hat.

Diese politischen Rahmenbedingungen spielen auch dann eine zentrale Rolle, wenn es tatsächlich um den Weg des geringsten Widerstands geht. Denn wie durch Magie gelingt es besonders großen Verbänden und Unternehmen immer wieder, Schutzgesetze zu unterwandern. Sie ziehen eine kurzfristige Mobilisierung der Kräfte einem langfristigen Kraftakt stets vor. Eine beachtliche Menge an Energie wird dazu eingesetzt, Schlupflöcher in der neuen Gesetzeslage auszukundschaften und für den eigenen Vorteil zu nutzen. In vielen Fällen ist fast die gleiche Anstrengung nötig, die Schutzstandards dauerhaft einzuhalten. Für die Unterwanderung dieser Standards ist die Kraftaufbringung aber zeitlich begrenzter.

Glasklares Kommunikationsproblem

Diese himmlische Fügung für viele Unternehmen und Konzerne kann man vor allem bei den Themen Klimaschutz und Schutz der Arbeitnehmerschaft beobachten. Durch miese Tricks und durchsichtige Manöver werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Lohn geprellt. Maßnahmen zum Schutze der Umwelt und der Natur bedeuten für die Unternehmen ebenfalls enorme Mehrausgaben, die sie durch Anstrengung wieder reinholen müssten. Anstatt sich daran zu halten, suchen sie lieber nach Wegen, wie sie diese Anstrengung umgehen können.

Im Grunde basiert auf diesem Mechanismus ein beträchtlicher Teil des Erfolgs der AfD. Die rechtspopulistische Partei nutzt es gezielt für sich aus, dass es den anderen Parteien nicht gelingt, den erheblichen Nutzen ihrer Vorhaben zu kommunizieren. Dadurch fällt es den Rechten spielend leicht, die kurzfristigen negativen Auswirkungen solcher Pläne bis ins groteske zu übersteigern. Sie profitieren davon, dass es besonders den regierenden Parteien immer schwerer fällt, die Menschen abzuholen und mitzunehmen. Lieber soll alles beim Alten bleiben. Der Fortschritt wird sich schon von allein einstellen – hoffentlich zumindest.

Keine Chance

Ein ähnliches Denkmuster liegt den Wahlen ranghoher Politiker zugrunde. Gerade vergangenen Montag konnte man sehen, was die politische Stunde im Ländle geschlagen hat. Die Zeichen stehen eben nicht auf Veränderung. Auf Fortschritt wird trotzdem gehofft. Winfried Kretschmann musste sich nicht anstrengen, um seine Herausforderin Susanne Eisenmann alt aussehen zu lassen.

Kretschmann war dabei in einer ähnlichen Position wie Angela Merkel als sie auf ihre Herausforderer Steinmeier, Steinbrück und Schulz traf. Je krampfhafter die Kontrahenten versuchten, sich von der Gegenseite abzuheben, desto lächerlicher wurde es. Warum die Herren von der SPD und die Dame von der CDU so schlechte Karten hatten, hat zwei Gründe: Erstens unterschieden sie sich nur minimal von ihren politischen Gegnern und zweitens hat es keiner von ihnen vermocht, die Vorteile und den Fortschritt ihrer Politik deutlich zu machen.

Wie soll man Menschen die verhasste Veränderung denn schmackhaft machen, wenn sie sich nicht einmal einen Ansatz von Fortschritt von der neuen Politik erhoffen dürfen? Dann soll doch lieber alles beim Alten bleiben. Keiner will sich auf die Veränderung an der Spitze einlassen, wenn nicht das Bonbon Fortschritt und Vorankommen winkt. Gut, Frau Eisenmann hatte das zusätzliche Problem, dass sie sich mit jemandem aus der eigenen Partei zu duellieren versuchte. Eine Chance hatte sie mit ihren Argumenten aber von vornherein nicht.


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Eine Partei für’s Gewissen

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Am vergangenen Sonntag verabschiedeten die Grünen ihr neues Grundsatzprogramm. Grün geblieben ist dabei bestenfalls das Cover. Von vielen Forderungen und Positionen der ersten Stunde hat sich die Partei mit dem neuen Programm endgültig verabschiedet. Die Grünen lassen keinen Zweifel daran, dass ein politischer Neuanfang mit ihnen nicht zu machen ist. Aber wenigstens kündigen sie es vorher an…

Eine Partei auf dem Weg nach oben

Die Grünen sind weiter im Umfragehoch. Die Zustimmung zu ihrer Politik ist ungebrochen stark. Vorbei sind die Zeiten, als sich die Partei ein Kopf-an-Kopf – Rennen mit den Linken leisten musste, der Gegner spielt heute in einer anderen Liga. Vor zwanzig Jahren hätte noch keiner zu ahnen gewagt, dass die Grünen heute selbst die einstige Volkspartei SPD hinter sich lassen. Wäre am kommenden Sonntag Bundestagswahl, kämen die Grünen auf rekordverdächtige 20 Prozent der Zweitstimmen. Würde sich dann auch noch die Union dazu herabbegeben, mit den Grünen zu koalieren – eine neue GroKo wäre geschmiedet.

Aber wie kam es dazu, dass die einst belächelte und dann verschriene Partei heute so übertrieben gute Ergebnisse einfährt? Selbst in den ostdeutschen Bundesländern – schon immer ein heikles Pflaster für die Grünen – wächst die Zustimmung. Die Grünen sitzen dort in fünf Landesparlamenten und regieren in allen diesen mit.

Haben die Menschen also umgedacht? Sind die Grünen gar nicht so schrecklich, wie das die Politiker der 1980er weismachen wollten? Bei der Bundestagswahl 1983 schaffte es die eben erst gegründete Partei mit 5,6 Prozent der Stimmen gerade so ins Bundesparlament. Da war sicher Luft nach oben. Der Aufschwung folgte in den folgenden Jahren. In späteren Bundestagswahlen schafften es die Grünen teilweise sogar bis in den zweistelligen Bereich. Das bisher beste Ergebnis ihrer Geschichte fuhren sie 2009 mit knapp über 10 Prozent ein.

Kurzer Trend oder Dauerbrenner?

Ungefähr da war das Wählerpotenzial grüner Politik auch erschöpft. Schaut man in frühere Grundsatzprogramme der Partei, wird klar, dass viel mehr als ein Zehntel der Wählerinnen und Wähler dafür nicht zu erwärmen ist. Natürlich spielen auch äußere Einflüsse eine Rolle bei der Beliebtheit einer Partei. Extremistische Parteien beispielsweise profitieren von wirtschaftlichen Krisenzeiten. Bei Umwelt- und Naturkatastrophen wandern viele Wähler eher zu den Grünen ab.

Selten sind diese Hochs aber von langer Dauer. Oft sind sie der Aktualität gewisser Vorkommnisse geschuldet und flauen mit der Zeit ab. Noch seltener beschäftigen sich die neugewonnenen Wähler ernsthaft mit dem Programm der Partei, die sie neuerdings wählen. Denn echte grüne Politik verlangt den Menschen eine Menge ab.

Geht man auf die Straße und fragt die Passanten, ob ihnen der Schutz der Umwelt wichtig ist, so werden die meisten mit einem enthusiastischen „Ja“ antworten. Sie aber für aktiven Umweltschutz zu gewinnen, sei es auch nur durch Spenden, ist schon weitaus schwieriger. Denn Ziele wie Klimaschutz, Umwelterhalt oder auch direkte Demokratie sind mit Anstrengung verbunden. Aber zumindest bei letzterem kommen die Grünen seit vergangenem Sonntag nicht mehr in die Quere.

Bürgerliche Partei mit grünem Anstrich

Trotz dieser Schwierigkeiten, Menschen für echte grüne Politik zu begeistern, feiern die Grünen einen Wahlerfolg nach dem nächsten. In Baden-Württemberg holten sie vor knapp fünf Jahren gar mehr als 30 Prozent. Ist das südwestdeutsche Bundesland also ein Sammelbecken von Umweltaktivisten, Radikaldemokraten und Alt-68ern? Sicherlich nicht. Die Grünen verstanden es gerade in Baden-Württemberg, sich in eine bürgerliche Partei mit grünem Anstrich zu wandeln. Denn ihr vor wenigen Tagen verabschiedetes Wahlprogramm würde ihre Stammwählerschaft von einst verprellen, wären viele der Wählerinnen und Wähler nicht schon in den letzten Jahren davongelaufen.

Immer häufiger können sich die Grünen dafür rühmen, Politik mit Realitätsbezug zu machen. Durch ihre eindeutigen Überschneidungen mit dem bürgerlichen Lager sind sie zu einer Kraft geworden, mit der man rechnen muss, immer mehr auch auf Bundesebene. Sie werden heute von Menschen gewählt, die die Grünen noch vor einigen Jahren nicht mit der Kneifzange angefasst hätten. Ebendiese Wählerschicht sprechen die Grünen mit ihrem neuen Grundsatzprogramm auch an. Sie setzen heute auf die Gewissenswähler, die zwar nicht ernsthaft glauben, die Grünen könnten grundsätzlich etwas verändern, die aber mit einem guten Gefühl aus der Wahlkabine kommen. Diese Menschen wählen die Grünen, weil sie ihre bürgerlichen Interessen vertreten und gleichzeitig lauthals eine Trendwende in der Klima- und Wirtschaftspolitik fordern. Balsam für’s Gewissen.

Ringelpiez mit Anfassen

Die Grünen sind also zu einer Wohlfühlpartei geworden. Sie sprechen heute vermehrt die Leute an, die Klimaschutz und nachhaltiges Wirtschaften zwar richtig klasse finden, aber niemals einen Finger dafür krummmachen würden. Oder solche Menschen, die sich den von den Grünen propagierten Lebensstil leisten können. Wie andere bürgerlichen Parteien sprechen sie gezielt die Bequemlichkeit der Menschen an. Mit der Wahl der Grünen gibt es sogar noch einen Gewissensbonus für das Nichtstun obendrauf.

Im Prinzip unterscheiden sich die Grünen in dieser Taktik nicht grundlegend von der AfD. Viele wählen die AfD, weil sie provozieren wollen und nichts bis wenig zu verlieren haben. Die Grünen drehen diese Denkweise um. Sie werden heute vorrangig von Menschen gewählt, die zwar auch aus dem Mainstream ausbrechen wollen, die aber wissen, dass sie mit der Wahl der Grünen nichts von dem verlieren werden, was sie haben.

Versagen mit Ankündigung

Die Grünen sind wahrlich ein Phänomen. Gestern verlacht, heute im Aufschwung, morgen in der Bundesregierung und übermorgen vielleicht ein Kanzler Habeck? Die Entwicklung dieser einstigen Nischenpartei zur Volkspartei ist bemerkenswert. Ebenso bemerkenswert ist, dass sich die Grünen so kämpferisch geben, gleichzeitig aber keinen Zweifel daran lassen, wie mut- und kraftlos sie in Wahrheit sind.

Denn jede Partei, die nach der Macht strebte, hatte eine Vision. Die Menschen versprachen sich klare Vorteile davon, als sie 1998 für die SPD und damit für Gerhard Schröder als neuen Kanzler stimmten. Der Dicke musste einfach weg. Vielleicht hätte man Schröders wahre Ansinnen erkennen können, hätte man etwas genauer hingesehen. Trotzdem war die SPD stets bemüht, diese Unzulänglichkeiten zu verdecken. Das neue Grundsatzprogramm der Grünen kündigt allerdings unverfroren an, für nichts anderes als eine Neuauflage der herrschenden Politik zu stehen. Es geht ihnen in erster Linie nicht darum, Angela Merkel zu entmachten. Die hat ihren Rückzug längst selbst eingeleitet. Die Grünen wollen einfach nur an die Macht.

Und dorthin werden sie auch kommen. Und zwar in einer schwarz-grünen Koalition. Ihr neues Grundsatzprogramm lässt gar keinen anderen Schluss zu. Für Grün-Rot-Rot wird es voraussichtlich keine Mehrheit geben. Eine Ampelkoalition würde wieder einmal an der FDP scheitern. Was bleibt, ist die Zusammenarbeit mit CDU und CSU. Darauf bereiten sich die Grünen akribisch vor. Alle Spuren von Politikansätzen, die den Konservativen missfallen könnten, wurden flugs aus dem Grundsatzprogramm gestrichen. Direkte Demokratie durch bundesweite Volksentscheide? Mit der Union nicht zu machen, also weg damit.

Die Grünen verspielen damit eine Lenkungswirkung, die sie durch ein starkes Wahlergebnis sicherlich hätten. Aber wohin sollen sie denn lenken ohne unbequeme Forderungen? Die zu erwartenden Folgen des Klimawandels werden zwar sehr unbequem, aber das hat die Mehrheit inzwischen auch ohne Regierungsbeteiligung der Grünen zur Kenntnis genommen. Und selbst in diesem essentiellen Bereich haben die Grünen fleißig den Rotstift angelegt. Der Kohleausstieg bis 2030 ist für die Partei ebenso passé wie die strikte Ablehnung von Bundeswehreinsätzen ohne UN-Mandat. Deutlicher kann man seinen künftigen Koalitionspartner nicht in Watte packen. Der Machtanspruch der Grünen ist nichts weiter als ein Versagen mit Ankündigung.


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Falsche Schlüsse

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Rechtsextreme mit Reichsflaggen versuchen, ins Herz der deutschen Demokratie vorzudringen, in Leipzig werden Polizisten mit Steinen und Feuerwerkskörpern beworfen, Stuttgart wird Schauplatz beispielloser Ausschreitungen. Viele holen bei solchen Bildern erst recht instinktiv den Rohrstock heraus, um diesen Aufständischen zu zeigen, was Zucht und Ordnung bedeutet. Das mag kurzfristig helfen, treibt die selbsternannten Querdenker aber nur noch weiter ins Abseits. Sie folgen einer kleinen Minderheit, die ihnen zumindest für einen Moment das Gefühl gibt, wichtig zu sein. Die Politik hat damit bereits vor langer Zeit aufgehört und sollte die längerfristigen Konsequenzen aus den gewaltvollen Zusammenstößen jüngerer Zeit ziehen.

Zwischen Entsetzen und Jubel

Historikerinnen und Historiker sind sich seit langem einig: Weimar scheiterte nicht in erster Linie an den Nazis oder an den Kommunisten, die die Demokratie von rechts und links in die Zange nahmen. Weimar scheiterte hauptsächlich am Mangel an überzeugten Demokratinnen und Demokraten. Dazu kam, dass es eine solche Machtergreifung wie 1933 in dieser Form zuvor nicht gegeben hatte. Wenigstens daraus kann unsere Generation heute wichtige Lehren ziehen – glaubt man zumindest.

Erschüttert müssen wir aber gerade in den letzten Monaten und Jahren feststellen, dass unsere demokratische Gesellschaft erneut bedroht wird. Da ist der NSU-Komplex der jahrelang schier unbehelligt einen Mord nach dem anderen beging. Da sind die Ausschreitungen von Stuttgart, Leipzig und Berlin, die die Polizei an die Grenzen des machbaren treibt. Walter Lübcke wird hinterrücks auf seiner eigenen Terrasse erschossen. Rechtsextremisten ziehen mordend durch Hanau und Halle. Alle diese Taten sind furchtbar und entsetzlich. Und sie alle werden von einer nicht zu unterschätzenden Menge an Menschen bejubelt und gefeiert.

Rückhalt durch Nichtstun

Eines vorweg: Alle diese Täter müssen natürlich ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Wer aber denkt, die Sache ist erledigt, sobald eine Beate Zschäpe oder ein Stephan Ernst verurteilt sind, der irrt gewaltig. Die Menschen, die durch solch grausamen Taten immer wieder in den Medien erscheinen, sind nämlich eine verschwindend geringe Minderheit in unserem Land. Wissenschaftlich ausgedrückt, sind sie vielleicht sogar vernachlässigbar. Sie werden allerdings durch eine stetig wachsende Sympathisantenszene gestärkt und können meist nur aufgrund dieses Rückhalts ihre Taten begehen.

Das heißt nicht, dass es in Deutschland zwingend immer mehr Rechts- und Linksextremisten gibt. Es gibt vor allem Leute, die ihrem Frust dadurch Luft machen, dass sie an manchen Stellen zumindest nicht einschreiten. Das Gute an der Sache: Sie alle kann die Demokratie zurückgewinnen und die wenigen eingefleischten Anti-Demokraten alt aussehen lassen. Denn wer tatsächlich Steine auf Polizisten wirft oder versucht, das Reichstagsgebäude zu erstürmen, der hat die Demokratie nicht begriffen und wird es auch niemals tun.

Fehler von damals, Fehler von heute

Das Credo dieser Gewalttäter ist eine perverse Umkehr dessen, was Willy Brandt 1969 gesagt hat: Sie wollen weniger Demokratie wagen. Das Verb „wagen“ spielt hier eine große Rolle. Nur wer die Risiken eines Fehlschlags als relativ gering einschätzt, der wagt es, eine bestimmte Sache zu tun. Wir sind inzwischen so weit, dass sich diese Täter tatsächlich aus der Deckung wagen und unser Land durch ihre Gewaltexzesse weiter destabilisieren.

Oft passiert das fast beiläufig und ohne dass man wirklich etwas merkt. Da werden rechtsextreme Taten locker flockig mal gegen linksextreme Taten aufgewogen. Das ist kontraproduktiv, weil es die Aufmerksamkeit gezielt nur auf eine von vielen Bedrohungen lenkt. Und es ist der gleiche Fehler wie zu Weimarer Zeiten. Die wenigen Demokratinnen und Demokraten von damals haben es versäumt, sich zu einem starken Bollwerk gegen die Extreme zusammenzuschließen. Durch gegenseitige Schuldzuweisungen haben sie es Blutrot und Kackbraun sogar noch leichter gemacht, zerrieben zu werden.

Hetzjagden?

Ähnliches erleben wir heute. Da werden die schlimmsten Taten gegenüber anderen Taten mutwillig relativiert, man spricht Täter durch Verweis auf die Umstände beinahe heilig, andere laufen bei Demos der Reichsflagge blind hinterher und bilden sich gleichzeitig ein, ganz besonders mutige Demokraten zu sein. Eine penetrante Würze erhält das ganze durch die konstanten Hetzereien und Verschwörungstheorien á la Attila Hildmann und Xavier Naidoo. Oder auch direkt von Abgeordneten aus dem Bundestag: So empfindet es manchein Abgeordneter aus der AfD als gerechten Zorn, wenn Menschen anderer Meinung der Bauch aufgeschlitzt wird. Das ist im besten Fall rhetorische Brandstiftung und im schlimmsten Aufruf zu Straftaten.

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Bundesjustizministerin Christine Lambrecht (SPD) knöpft sich die AfD vor.

Der Rückhalt von extremistischen Gewalttätern ist aber auch noch konkreter erlebbar. Zwiespältige und polarisierte Debatten bestimmen seit Jahren den gesellschaftlichen Diskurs. Gab es in Chemnitz Hetzjagden oder gab es sie nicht? Trotz eindeutigen Videomaterials, das in den deutschen Medien wochenlang rauf- und runterlief, verwahrte sich selbst der damalige Vorsitzende des Verfassungsschutzes gegen den Begriff „Hetzjagden“. War der Attentäter von Halle hartgesottener Rechtsextremist oder lediglich psychisch krank? Als ob das eine das andere ausschlösse. Den absoluten Tiefpunkt der medialen Debatte haben wir aber spätestens erreicht, als immer wieder die viel gezeigte Rede von Walter Lübcke als der Moment gepriesen wurde, als Stephan Ernst den Entschluss fasste, den verhassten Politiker zu töten. Dieser Moment ist strafrechtlich durchaus relevant. Und da gehört er auch hin: ins Strafverfahren. Aber nicht als Dauergast in die politische Aufarbeitung des Mordes. Das suggeriert nämlich, dass Lübcke noch leben würde, hätte er den Mund gehalten und vor den Nazis gekuscht. Als wäre er selbst schuld.

Eine andere Gesellschaft

Obwohl natürlich nur die krassesten Taten besonders große mediale Aufmerksamkeit bekommen, spüren wir, dass sich die Stimmung im Land verändert. Gerade die Krawalle von Stuttgart versinnbildlichen die Langeweile und den Frust der Leute, die sich an den Ausschreitungen beteiligten. Denn eine konkrete politische Botschaft hatten diese Menschen nicht. Anders als in Leipzig oder bei Coronademos ging es ihnen einzig darum, auszubrechen und Stunk zu machen. Sie fühlen sich ausgeschlossen und nicht ernstgenommen. Deshalb haben sie mit Gewalt erzwungen, erhört zu werden. Die Polizisten erlebten sie als Symbolfiguren einer Gesellschaft, die ihnen viele Beteiligungsmöglichkeiten vorenthält. Sie fühlen sich in dieser Gesellschaft nicht mehr willkommen, die andere Seite reagiert mit Abscheu gegen die Täter. Eine schier unaufhaltsame Entfremdung ist im Gange.

Und auch diese Menschen sind eine Minderheit. Denn Frust und Hilflosigkeit äußern sich nicht immer durch Gewaltexzesse wie in Stuttgart. Viele andere haben längst resigniert. Ihnen ist es egal, ob Merkel noch Kanzlerin ist oder die AfD eine Hassrede nach der anderen hält. Das ist nicht ihre Gesellschaft. In ihr haben sie nichts zu sagen. Doch das lässt sich ändern. Die Menschen müssen die Gewissheit haben, dass ihre Meinung und ihre Worte tatsächlich Veränderung bewirken. Anstatt ihnen ständig mit fadenscheinigen Ausreden die Demokratiereife abzusprechen und sie in regelmäßigen Abständen zum Wahlvieh zu degradieren, sind gerade in der jetzigen Situation vielfältige Beteiligungsmöglichkeiten gefragt.

Durch Kopfschütteln, reaktionäre Bestrafungen und noch weniger Beteiligung lassen sich die Herausforderungen von heute nämlich nicht lösen. Mehr Beteiligung führt allerdings dazu, dass die, die heute die Füße stillhalten, morgen nicht in Stuttgart, Leipzig, Berlin oder sonstwo mitmarschieren. Mit mehr direkter Demokratie spüren die Leute, dass ihre Meinung gefragt ist und andere ihre Haltung wertschätzen. Denn überall da, wo direkte Demokratie gewagt wurde, entwickelten sich regelrechte politische Hotspots. Urplötzlich standen sämtliche Parteien und politische Interessensvertretungen vor den Toren und warben für ihre Sache. Das ist nur ein weiterer Beleg dafür, dass direkte Demokratie unsere Gesellschaft nicht ad absurdum führt, sondern sie nach vorne bringt.

Extreme Hilflosigkeit

Jeder, der in Stuttgart oder anderswo Krawall gemacht hat, muss die Konsequenzen dafür tragen. Aber das Problem ist mit der strafrechtlichen Aufarbeitung lange nicht erledigt. Es hat eine viel weitreichendere Dimension, bei der harte Strafen wenig Wirkung zeigen werden. Wie unmotiviert und isoliert muss ein Mensch sein, um sich an diesen bürgerkriegsähnlichen Aufständen zu beteiligen? Eine Mauer des Unverständnisses und der Zurückweisung ist in dieser Situation genau so falsch wie im Fall der Flüchtlinge in Moria. Anstatt die rasche Aufnahme von Flüchtlingen als Nachgeben gegenüber den Brandstiftern zu bezeichnen, sollte man diese humanitäre Hilfe lieber als das sehen, was sie ist: eine eindeutige Distanzierung von den Zuständen in Moria vor dem Brand. Denn nicht das angebliche Einknicken, also die Aufnahme von Flüchtlingen, provoziert weitere Brände, sondern das Verharren auf dem Istzustand.

Eine schnelle Aufnahme von Flüchtlingen ist auch deshalb richtig, weil man dann einsieht, dass die Zustände in den Lagern auch ohne Feuer und ohne Aufstände unhaltbar sind. Mit der Befreiung dieser Menschen aus den Lagern setzt man ein unmissverständliches Zeichen gegen Isolation, gegen Hilflosigkeit und gegen das Ausgeliefertsein.

Denn eines ist völlig klar: Was in Moria passiert ist, war der extremste Ausdruck von Hilflosigkeit und Frust, den man sich vorstellen kann. Kein Mensch lässt sich auf Dauer einsperren und sämtlicher Rechte berauben, ohne irgendwann selbst zum Rechtsbrecher zu werden. Der Brand im Flüchtlingslager in Moria ist schlimm. Schlimmer sind die Umstände, die ihn begünstigten. Am schlimmsten sind aber die Lehren, die einige Menschen nun daraus ziehen.


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