Pandemischer Stillstand

Lesedauer: 6 Minuten

Wochenlang aus den Schlagzeilen, nun feiert es sein zweifelhaftes Comeback: Das Coronavirus ist zurück. Die Inzidenzen steigen wieder, die Menschen sind verunsichert, der Gesundheitsminister ruft die Sommerwelle aus. In der Zwischenzeit ist wirklich nichts passiert. Die Tests sind noch immer unzuverlässig, die Impfung nur begrenzt wirkfähig und die Antworten auf die angespannte Lage die gleichen. Es scheint, als hätten noch nicht alle Politiker begriffen, dass sich die Menschen einen zweiten Herbst 2021 nicht werden bieten lassen.

Ein zweifelhaftes Comeback

Was noch im Herbst 2021 völlig undenkbar schien, war im Frühjahr 2022 vielfach gelebte Realität: ohne Maske in den Supermarkt gehen. Viele Einzelhandelsketten hatten in ihren Geschäften zeitweise sogar eine FFP2-Maskenpflicht erwirkt, heute sieht man die Filtermasken nur noch selten in deutschen Läden. Mit der Maskenpflicht endete für viele Menschen faktisch die Pandemie. Nur noch in Bussen, Bahnen und Flugzeugen musste die Maske getragen werden, und selbst dort wurde munter gegen die Maßnahme verstoßen.

Die Dominanz der Omikronvariante sorgte nicht nur für eine medizinische Entspannung. Die Inzidenzen schmolzen dahin, schwere Krankheitsverläufe wurden wieder zur Ausnahme. Auch gesellschaftlich läutete Omikron eine Trendwende ein. Viele Maßnahmen verschwanden aus dem Alltag der Menschen, die allgemeine Impfpflicht verlor in der Bevölkerung spürbar an Popularität, die Hoffnung auf eine baldige Endemie machte sich breit. Insgesamt gingen viele Menschen wesentlich lockerer mit dem Virus um. Manche Leute nahmen es dabei wohl zu locker.

Denn seit einigen Wochen sind die Inzidenzen wieder am Klettern. Eine weitere Subsubvariante hat sich durchgesetzt und diese scheint noch infektiöser zu sein als Omikron. Zwischenzeitlich hat fast jeder mindestens eine Person im Bekannten- oder Freundeskreis, der mit einer Infektion zu kämpfen hat. Die Menschen werden wieder wachsamer, die Maske kehrt langsam zurück und auch unser werter Herr Gesundheitsminister ist in Alarmbereitschaft. Als hätte er es kaum abwarten können, verkündete er jüngst den Beginn einer Sommerwelle.

Back to the nudging

Außer Schwarzmalerei und Panikmache ist bei Karl Lauterbach (SPD) aber mal wieder nichts gewesen. Wie jedes Mal, wenn die Zahlen steigen, beweisen die Regierenden in diesem Land völlige Überforderung und Planlosigkeit. Auf konstruktive Vorschläge, wie die überraschende Sommerwelle zu brechen ist, warten man bislang vergeblich. Stattdessen haut der Gesundheitsminister seinen nächsten Clou raus: Die Tests sollen ab sofort wieder kostenpflichtig sein. An der Aufdeckung und Unterbrechung von Infektionsketten scheint er also nicht interessiert zu sein.

Viel leichter fällt es ihm, seine alte Schiene zu fahren: Die Gefahr steigt, also müssen die Ungeimpften zur Räson gebracht werden. Und wie schafft man das am besten? Indem man ihnen das Leben so schwer wie möglich macht. Ein beherzter Griff in den Geldbeutel für Tests hier und den ein oder anderen Lockdown für Impfverweigerer da und schon ist der allgemeinen Impfmoral gedient. Dieses Muster lässt sich übrigens auch bestens auf Menschen anwenden, die keine Lust auf eine vierte Impfung haben.

Kompletter Stillstand

Die Entscheidung für eine Impfung bleibt politisch. Kein Mensch muss Nutzen und Risiko vernünftig abwägen, wenn der Staat die Entscheidung durch Repressalien und Gängelung übernimmt. Niemand muss mehr Rückgrat beweisen, wenn sämtliche wissenschaftlichen Argumente für wie gegen die Impfung vom Tisch gewischt werden und nur Raum bleibt für die Teilnahme oder den Ausschluss vom öffentlichen Leben. Das war 2021 so – und das ist auch in diesem Jahr so.

Dazwischen ist fast nichts passiert. Omikron ist seit etwa einem halben Jahr vorherrschend und trotzdem lässt sich eine Infektion mit der Virusvariante durch Schnelltests nicht zuverlässig nachweisen. Mit großem Elan passte man die Impfstoffe an die neue Variante an. Da der Infektionsschutz aber weiterhin zu wünschen übriglässt, hätte man ähnlich viel Inbrunst auch in die Weiterentwicklung der Tests stecken sollen. Und was wurde eigentlich aus den wirksamen Medikamenten gegen Covid? Wie vielen Menschen könnte man heute bei Impfdurchbrüchen schon helfen, wenn ähnliche Summen in die Erforschung solcher Präparate geflossen wären?

Dazu kommt noch ein weiteres: Die Lage in deutschen Kliniken ist nach wie vor katastrophal. Corona hin oder her, dem fortschreitenden Schwund an Pflegekräften muss der Staat endlich mit absoluter Entschlossenheit entgegentreten. Doch leider fällt den Damen und Herren Politikern nichts anderes ein, als die Personaldecke in den Krankenhäusern durch eine Teilimpfpflicht weiter anzuspannen. Und so sind viele medizinische Einrichtungen schon im Hochsommer am Limit, obwohl die Welle noch gar nicht richtig losgelegt hat.

Keine Lust auf Lockdown

Zumindest eines hat Karl Lauterbach klipp und klar festgehalten: Einen weiteren Lockdown darf es nicht geben. Mitnichten erkennt er damit die Sinnfreiheit dieser Maßnahme an. Er bereitet mit diesem Appell eine neue Kampagne gegen Ungeimpfte vor. Hinterher wird er darauf verweisen können, dass er immer gegen einen Lockdown war, die angespannte Infektionslage und die große Zahl an Ungeimpften ihm aber keine Wahl gelassen hätten. Ehrlicher ist da schon der baden-württembergische Ministerpräsident Kretschmann (Grüne): Er träumt schon heute von einschneidenden Maßnahmen wie Ausgangssperren und Kontaktbeschränkungen, die hauptsächlich Nicht-Geimpfte träfen und verfällt damit ein weiteres Mal der Autokratieromantik.

Doch die Regierenden wissen, dass ein neuer Lockdown auf noch härteren Widerstand als schon 2021 stoßen würde. Momentan haben die Querdenker mit dem Krieg in der Ukraine ein neues Thema gefunden, doch spätestens im Herbst werden sie sich wieder mit ganzem Herzen gegen sämtliche Coronamaßnahmen stellen. Einen kurzen Moment gab es die Hoffnung, dass diese Dauerdemonstranten durch die Omikronvariante wieder zur Besinnung kommen, doch sie gehen weiter Woche für Wochen für teils krude Thesen auf die Straße. Das ständige Hin und Her in der Coronapolitik hat noch weitere zu den Aufmärschen getrieben.

Dieses Potenzial haben die Demos weiterhin und sie werden es in den kommenden Monaten reaktivieren.  Seit Wochen machen die Menschen deutlich, was sie von Basismaßnahmen wie der Maskenpflicht halten. Menschen mit falschsitzender oder fehlender Maske gehören wieder zu Bus- und Bahnfahrten dazu, von Abstandhalten kann keine Rede mehr sein. Es ist fast wie vor 2020 – mit dem gravierenden Unterschied, dass die Menschen heute wissen, was ihnen im nächsten Moment weggenommen werden kann. Die meisten werden das nicht hinnehmen. Es sieht düster aus für den Herbst.

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Fortschritt will Vorteil haben

Lesedauer: 7 Minuten

Die wichtigste Zutat für Fortschritt ist Veränderung. Der Mensch ist allerdings so gestrickt, dass er auf Veränderung keine Lust hat. Auf Veränderungen lässt er sich nur ein, wenn er sich einen erheblichen Vorteil davon verspricht. Ansonsten geht er nicht selten auf die Barrikaden und versucht alles, um die unliebsame Veränderung abzuwehren. So lassen sich die Unterwanderung von Klimaschutzgesetzen erklären, aber auch der Erfolg und Misserfolg mancher Politiker.

Das Duell der Gleichen

Vor wenigen Tagen standen sich Susanne Eisenmann von der CDU und der amtierende baden-württembergische Ministerpräsident Winfried Kretschmann beim TV-Duell gegenüber. In etwas mehr als 60 Minuten bezogen sie Stellung zu aktuellen landes- und bundespolitischen Themen. Echte Spannung gab es an diesem Abend keine und die meisten Zuschauer waren wohl froh, als die Schlussworte folgten. Viele Momente bei der Live-Konfrontation erinnerten in erschreckender Weise an so manches Kanzlerduell der letzten Jahre.

Der Grund dafür liegt auf der Hand: Die beiden Kandidaten waren sich in zu vielen Punkten einig. Immer wieder waren sich Eisenmann und Kretschmann grün. Wie kommt es also, dass sich gerade diese beiden Pappaufsteller in ihren Parteien gegen alle anderen Kandidaten durchgesetzt haben? Warum haben andere Parteien keine Chance auf den Posten des Ministerpräsidenten?

Nötig dafür wäre ein echter Politikwechsel. Ein solcher Umschwung entsteht aber nicht aus netten Sonntagsreden, wie sie neulich wieder zu beobachten waren. Eine politische Kehrtwende erfordert immer den Mut zur Veränderung. Leider mangelt es bei den meisten hier aber bereits beim Willen dazu.

Fortschritt durch Nichtstun

Der Mensch ist ein Herdentier, das immerwährend nach Fortschritt strebt. Der Mensch ist aber auch extrem harmoniebedürftig. Veränderung passt ihm da gar nicht in den Kram. Ohne Veränderung gibt es aber auch keinen echten Fortschritt.

Einfaches Beispiel: Fragt man einen zufälligen Passanten, ob er für mehr direkte Demokratie ist, so fällt die Antwort zu 98 Prozent positiv aus. Bohrt man dann weiter nach, ob man denn bereit wäre, für dieses Ziel konkrete Maßnahmen zu ergreifen, so schwindet die Kooperationsbereitschaft zusehends. Ähnlich ist es beim Klimawandel. Jeder weiß, dass wir auf eine Katastrophe zusteuern und jeder schreit danach, man möge die nötigen Schritte einleiten. Und trotzdem gibt es viel zu viele Menschen, die meinen, der Kampf gegen den Klimawandel sei die Angelegenheit von Experten. Viel zu wenige werden selbst tätig. Das ist einerseits ein Kommunikationsproblem, andererseits aber auch Bequemlichkeit.

Enorme Kraftanstrengung

Der Mensch lässt sich nur dann auf Veränderung ein, wenn sie ihm einen konkreten Nutzen bringt. Der Erfolg muss die Anstrengung deutlich übersteigen. Es reicht nicht aus, wenn der Gewinn am Ende zwar reichlich ist, die Opfer aber auch. Vielleicht ist dieses Verhalten evolutionär erklärbar. Immerhin steht der Mensch heute nicht umsonst an der Spitze der Nahrungskette. Mit ausgeklügelten Strategien erarbeitete er sich stets einen Vorteil gegenüber möglichen Fressfeinden. Das machte nur Sinn, wenn dieser Vorteil kein Zufallstreffer war, sondern nachhaltig die Existenz der eigenen Spezies gesichert hat.

Trotzdem liebt der Mensch den Weg des geringsten Widerstands. Kurzsichtige Menschen würden nun das Beispiel des Discounterschnitzels heranziehen. Wenn sich mancheiner sein Fleisch lieber im Regal von Aldi & Co. besorgt, anstatt den beschwerlichen Weg zum Metzger anzutreten, sehen das viele als unwiderlegbaren Beweis dafür, dass die reine Kostenfrage einem nachhaltigen Lebensstil im Wege steht. Sie übersehen dabei allerdings, dass sich diese Discountersünder das Schnitzel beim Metzger gar nicht leisten können und ihre Kaufentscheidung weniger mit Bequemlichkeit als mit politischen Rahmenbedingungen zu tun hat.

Diese politischen Rahmenbedingungen spielen auch dann eine zentrale Rolle, wenn es tatsächlich um den Weg des geringsten Widerstands geht. Denn wie durch Magie gelingt es besonders großen Verbänden und Unternehmen immer wieder, Schutzgesetze zu unterwandern. Sie ziehen eine kurzfristige Mobilisierung der Kräfte einem langfristigen Kraftakt stets vor. Eine beachtliche Menge an Energie wird dazu eingesetzt, Schlupflöcher in der neuen Gesetzeslage auszukundschaften und für den eigenen Vorteil zu nutzen. In vielen Fällen ist fast die gleiche Anstrengung nötig, die Schutzstandards dauerhaft einzuhalten. Für die Unterwanderung dieser Standards ist die Kraftaufbringung aber zeitlich begrenzter.

Glasklares Kommunikationsproblem

Diese himmlische Fügung für viele Unternehmen und Konzerne kann man vor allem bei den Themen Klimaschutz und Schutz der Arbeitnehmerschaft beobachten. Durch miese Tricks und durchsichtige Manöver werden Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer um ihren Lohn geprellt. Maßnahmen zum Schutze der Umwelt und der Natur bedeuten für die Unternehmen ebenfalls enorme Mehrausgaben, die sie durch Anstrengung wieder reinholen müssten. Anstatt sich daran zu halten, suchen sie lieber nach Wegen, wie sie diese Anstrengung umgehen können.

Im Grunde basiert auf diesem Mechanismus ein beträchtlicher Teil des Erfolgs der AfD. Die rechtspopulistische Partei nutzt es gezielt für sich aus, dass es den anderen Parteien nicht gelingt, den erheblichen Nutzen ihrer Vorhaben zu kommunizieren. Dadurch fällt es den Rechten spielend leicht, die kurzfristigen negativen Auswirkungen solcher Pläne bis ins groteske zu übersteigern. Sie profitieren davon, dass es besonders den regierenden Parteien immer schwerer fällt, die Menschen abzuholen und mitzunehmen. Lieber soll alles beim Alten bleiben. Der Fortschritt wird sich schon von allein einstellen – hoffentlich zumindest.

Keine Chance

Ein ähnliches Denkmuster liegt den Wahlen ranghoher Politiker zugrunde. Gerade vergangenen Montag konnte man sehen, was die politische Stunde im Ländle geschlagen hat. Die Zeichen stehen eben nicht auf Veränderung. Auf Fortschritt wird trotzdem gehofft. Winfried Kretschmann musste sich nicht anstrengen, um seine Herausforderin Susanne Eisenmann alt aussehen zu lassen.

Kretschmann war dabei in einer ähnlichen Position wie Angela Merkel als sie auf ihre Herausforderer Steinmeier, Steinbrück und Schulz traf. Je krampfhafter die Kontrahenten versuchten, sich von der Gegenseite abzuheben, desto lächerlicher wurde es. Warum die Herren von der SPD und die Dame von der CDU so schlechte Karten hatten, hat zwei Gründe: Erstens unterschieden sie sich nur minimal von ihren politischen Gegnern und zweitens hat es keiner von ihnen vermocht, die Vorteile und den Fortschritt ihrer Politik deutlich zu machen.

Wie soll man Menschen die verhasste Veränderung denn schmackhaft machen, wenn sie sich nicht einmal einen Ansatz von Fortschritt von der neuen Politik erhoffen dürfen? Dann soll doch lieber alles beim Alten bleiben. Keiner will sich auf die Veränderung an der Spitze einlassen, wenn nicht das Bonbon Fortschritt und Vorankommen winkt. Gut, Frau Eisenmann hatte das zusätzliche Problem, dass sie sich mit jemandem aus der eigenen Partei zu duellieren versuchte. Eine Chance hatte sie mit ihren Argumenten aber von vornherein nicht.


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Eine Partei für’s Gewissen

Lesedauer: 8 Minuten

Am vergangenen Sonntag verabschiedeten die Grünen ihr neues Grundsatzprogramm. Grün geblieben ist dabei bestenfalls das Cover. Von vielen Forderungen und Positionen der ersten Stunde hat sich die Partei mit dem neuen Programm endgültig verabschiedet. Die Grünen lassen keinen Zweifel daran, dass ein politischer Neuanfang mit ihnen nicht zu machen ist. Aber wenigstens kündigen sie es vorher an…

Eine Partei auf dem Weg nach oben

Die Grünen sind weiter im Umfragehoch. Die Zustimmung zu ihrer Politik ist ungebrochen stark. Vorbei sind die Zeiten, als sich die Partei ein Kopf-an-Kopf – Rennen mit den Linken leisten musste, der Gegner spielt heute in einer anderen Liga. Vor zwanzig Jahren hätte noch keiner zu ahnen gewagt, dass die Grünen heute selbst die einstige Volkspartei SPD hinter sich lassen. Wäre am kommenden Sonntag Bundestagswahl, kämen die Grünen auf rekordverdächtige 20 Prozent der Zweitstimmen. Würde sich dann auch noch die Union dazu herabbegeben, mit den Grünen zu koalieren – eine neue GroKo wäre geschmiedet.

Aber wie kam es dazu, dass die einst belächelte und dann verschriene Partei heute so übertrieben gute Ergebnisse einfährt? Selbst in den ostdeutschen Bundesländern – schon immer ein heikles Pflaster für die Grünen – wächst die Zustimmung. Die Grünen sitzen dort in fünf Landesparlamenten und regieren in allen diesen mit.

Haben die Menschen also umgedacht? Sind die Grünen gar nicht so schrecklich, wie das die Politiker der 1980er weismachen wollten? Bei der Bundestagswahl 1983 schaffte es die eben erst gegründete Partei mit 5,6 Prozent der Stimmen gerade so ins Bundesparlament. Da war sicher Luft nach oben. Der Aufschwung folgte in den folgenden Jahren. In späteren Bundestagswahlen schafften es die Grünen teilweise sogar bis in den zweistelligen Bereich. Das bisher beste Ergebnis ihrer Geschichte fuhren sie 2009 mit knapp über 10 Prozent ein.

Kurzer Trend oder Dauerbrenner?

Ungefähr da war das Wählerpotenzial grüner Politik auch erschöpft. Schaut man in frühere Grundsatzprogramme der Partei, wird klar, dass viel mehr als ein Zehntel der Wählerinnen und Wähler dafür nicht zu erwärmen ist. Natürlich spielen auch äußere Einflüsse eine Rolle bei der Beliebtheit einer Partei. Extremistische Parteien beispielsweise profitieren von wirtschaftlichen Krisenzeiten. Bei Umwelt- und Naturkatastrophen wandern viele Wähler eher zu den Grünen ab.

Selten sind diese Hochs aber von langer Dauer. Oft sind sie der Aktualität gewisser Vorkommnisse geschuldet und flauen mit der Zeit ab. Noch seltener beschäftigen sich die neugewonnenen Wähler ernsthaft mit dem Programm der Partei, die sie neuerdings wählen. Denn echte grüne Politik verlangt den Menschen eine Menge ab.

Geht man auf die Straße und fragt die Passanten, ob ihnen der Schutz der Umwelt wichtig ist, so werden die meisten mit einem enthusiastischen „Ja“ antworten. Sie aber für aktiven Umweltschutz zu gewinnen, sei es auch nur durch Spenden, ist schon weitaus schwieriger. Denn Ziele wie Klimaschutz, Umwelterhalt oder auch direkte Demokratie sind mit Anstrengung verbunden. Aber zumindest bei letzterem kommen die Grünen seit vergangenem Sonntag nicht mehr in die Quere.

Bürgerliche Partei mit grünem Anstrich

Trotz dieser Schwierigkeiten, Menschen für echte grüne Politik zu begeistern, feiern die Grünen einen Wahlerfolg nach dem nächsten. In Baden-Württemberg holten sie vor knapp fünf Jahren gar mehr als 30 Prozent. Ist das südwestdeutsche Bundesland also ein Sammelbecken von Umweltaktivisten, Radikaldemokraten und Alt-68ern? Sicherlich nicht. Die Grünen verstanden es gerade in Baden-Württemberg, sich in eine bürgerliche Partei mit grünem Anstrich zu wandeln. Denn ihr vor wenigen Tagen verabschiedetes Wahlprogramm würde ihre Stammwählerschaft von einst verprellen, wären viele der Wählerinnen und Wähler nicht schon in den letzten Jahren davongelaufen.

Immer häufiger können sich die Grünen dafür rühmen, Politik mit Realitätsbezug zu machen. Durch ihre eindeutigen Überschneidungen mit dem bürgerlichen Lager sind sie zu einer Kraft geworden, mit der man rechnen muss, immer mehr auch auf Bundesebene. Sie werden heute von Menschen gewählt, die die Grünen noch vor einigen Jahren nicht mit der Kneifzange angefasst hätten. Ebendiese Wählerschicht sprechen die Grünen mit ihrem neuen Grundsatzprogramm auch an. Sie setzen heute auf die Gewissenswähler, die zwar nicht ernsthaft glauben, die Grünen könnten grundsätzlich etwas verändern, die aber mit einem guten Gefühl aus der Wahlkabine kommen. Diese Menschen wählen die Grünen, weil sie ihre bürgerlichen Interessen vertreten und gleichzeitig lauthals eine Trendwende in der Klima- und Wirtschaftspolitik fordern. Balsam für’s Gewissen.

Ringelpiez mit Anfassen

Die Grünen sind also zu einer Wohlfühlpartei geworden. Sie sprechen heute vermehrt die Leute an, die Klimaschutz und nachhaltiges Wirtschaften zwar richtig klasse finden, aber niemals einen Finger dafür krummmachen würden. Oder solche Menschen, die sich den von den Grünen propagierten Lebensstil leisten können. Wie andere bürgerlichen Parteien sprechen sie gezielt die Bequemlichkeit der Menschen an. Mit der Wahl der Grünen gibt es sogar noch einen Gewissensbonus für das Nichtstun obendrauf.

Im Prinzip unterscheiden sich die Grünen in dieser Taktik nicht grundlegend von der AfD. Viele wählen die AfD, weil sie provozieren wollen und nichts bis wenig zu verlieren haben. Die Grünen drehen diese Denkweise um. Sie werden heute vorrangig von Menschen gewählt, die zwar auch aus dem Mainstream ausbrechen wollen, die aber wissen, dass sie mit der Wahl der Grünen nichts von dem verlieren werden, was sie haben.

Versagen mit Ankündigung

Die Grünen sind wahrlich ein Phänomen. Gestern verlacht, heute im Aufschwung, morgen in der Bundesregierung und übermorgen vielleicht ein Kanzler Habeck? Die Entwicklung dieser einstigen Nischenpartei zur Volkspartei ist bemerkenswert. Ebenso bemerkenswert ist, dass sich die Grünen so kämpferisch geben, gleichzeitig aber keinen Zweifel daran lassen, wie mut- und kraftlos sie in Wahrheit sind.

Denn jede Partei, die nach der Macht strebte, hatte eine Vision. Die Menschen versprachen sich klare Vorteile davon, als sie 1998 für die SPD und damit für Gerhard Schröder als neuen Kanzler stimmten. Der Dicke musste einfach weg. Vielleicht hätte man Schröders wahre Ansinnen erkennen können, hätte man etwas genauer hingesehen. Trotzdem war die SPD stets bemüht, diese Unzulänglichkeiten zu verdecken. Das neue Grundsatzprogramm der Grünen kündigt allerdings unverfroren an, für nichts anderes als eine Neuauflage der herrschenden Politik zu stehen. Es geht ihnen in erster Linie nicht darum, Angela Merkel zu entmachten. Die hat ihren Rückzug längst selbst eingeleitet. Die Grünen wollen einfach nur an die Macht.

Und dorthin werden sie auch kommen. Und zwar in einer schwarz-grünen Koalition. Ihr neues Grundsatzprogramm lässt gar keinen anderen Schluss zu. Für Grün-Rot-Rot wird es voraussichtlich keine Mehrheit geben. Eine Ampelkoalition würde wieder einmal an der FDP scheitern. Was bleibt, ist die Zusammenarbeit mit CDU und CSU. Darauf bereiten sich die Grünen akribisch vor. Alle Spuren von Politikansätzen, die den Konservativen missfallen könnten, wurden flugs aus dem Grundsatzprogramm gestrichen. Direkte Demokratie durch bundesweite Volksentscheide? Mit der Union nicht zu machen, also weg damit.

Die Grünen verspielen damit eine Lenkungswirkung, die sie durch ein starkes Wahlergebnis sicherlich hätten. Aber wohin sollen sie denn lenken ohne unbequeme Forderungen? Die zu erwartenden Folgen des Klimawandels werden zwar sehr unbequem, aber das hat die Mehrheit inzwischen auch ohne Regierungsbeteiligung der Grünen zur Kenntnis genommen. Und selbst in diesem essentiellen Bereich haben die Grünen fleißig den Rotstift angelegt. Der Kohleausstieg bis 2030 ist für die Partei ebenso passé wie die strikte Ablehnung von Bundeswehreinsätzen ohne UN-Mandat. Deutlicher kann man seinen künftigen Koalitionspartner nicht in Watte packen. Der Machtanspruch der Grünen ist nichts weiter als ein Versagen mit Ankündigung.


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