Die Stunde der Volksparteien

Lesedauer: 9 Minuten

Krisen spalten. Aber manchmal schweißen Krisen auch zusammen. Die derzeitige Covid-19 – Pandemie verlangt allen Menschen enorm viel ab. Manche müssen Zwangsurlaub nehmen. Andere reißen sich sprichwörtlich ein Bein aus, um anderen zu helfen. Viele weitere stehen unter Quarantäne. In dieser Zeit der Isolation ist es gut, wenn die Gesellschaft solidarisch zusammensteht. Die Rezeptur für dieses gesellschaftliche Haftmittel darf unter keinen Umständen abgeändert werden. Eine Bündelung politischer Interessen ist in solchen Situationen gefragt wie selten.

Die Zeit des Zusammenhalts

Es wird immer Ausnahmen geben. Die Not kann noch so groß sein, es wird immer jene geben, die meinen, es besser zu wissen. Jene, die glauben, über Expertenmeinungen und Naturgesetze erhaben zu sein. Und vielleicht sind diese Menschen als abschreckende Beispiele notwendig. Die Corona-Pandemie verlangt den Menschen aber etwas ganz anderes ab: Zusammenhalt. Achtsamkeit und gegenseitige Rücksichtnahme ist in diesen Tagen wichtiger denn je. Supermärkte bringen Desinfektionsspender an den Eingangstüren an, Politiker rufen zur Wachsamkeit auf, es bilden sich Nachbarschaftsnetzwerke.

Die Menschen fühlen sich isoliert und sind trotz geeint durch ein Gemeinschaftsgefühl. Die allermeisten wissen, dass der eigene Verzicht zum Wohle aller ist. Viele wissen auch, dass wir erst am Anfang der Krise stehen. Auf die akute Erkrankungswelle wird schon bald eine Zeit der wirtschaftlichen Not folgen. Denn der Shutdown, wie die Medien den derzeitigen Zustand immer gerne betiteln, wird Folgen haben. Umso wichtiger ist es, der Ausbreitung des Virus durch vereinte Kräfte entschlossen entgegenzutreten.

Deswegen macht sich die Krise längst auch politisch bemerkbar. Versammlungen und Demonstrationen, wichtige Instrumente zur politischen Teilhabe, sind derzeit nicht möglich. Viele Menschen hoffen auf eine baldige Überwindung der Krise. Ihre Hoffnung legen sie in die ehemaligen Volksparteien, die aktuell wieder zu alter Form auflaufen.

Denn es ist schon auffallend, dass vor allem die Union in den letzten Wochen im Aufwärtstrend ist. Die Bürgerinnen und Bürger sehnen sich offenbar nach einer starken politischen Kraft, die dem Virus Einhalt gebieten kann. Kleinere Parteien, die traditionell eher bestimmte Milieus ansprechen, sind in der derzeitigen Krise weniger gefragt. Während diese Splitterparteien durch die letzten Krisen eher profitiert haben, ziehen sie nun den schwarzen Peter.

Ein gemeinsames Ziel

Es gibt nämlich einen entscheidenden Unterschied zwischen der Corona-Krise und den Krisen der letzten Jahre. Die Covid-19 – Pandemie lässt viel weniger Handlungsspielraum zu als ihre Vorgängerkrisen. In der Flüchtlingskrise ab 2015 und während der Fridays-for-Future – Bewegung stritten die Menschen nicht nur um den besten Lösungsweg, viele waren sich nicht einmal über das Ziel einig. Die einen riefen nach Grenzschließungen und befürchteten eine schiere Flutwelle an Sozialschmarotzern, die sich im schlimmsten Falle als brutale Sexualstraftäter entpuppen könnten. Die andere Seite glänzte durch Gutmenschentum und demonstrierte bei jeder Gelegenheit ihre Refugees-Welcome – Sticker. Für die einen waren die jungen Aktivisten nichts anderes als notorische Schulschwänzer, während die andere Seite keine Gelegenheit ausließ, um die Generation 60+ in Misskredit zu bringen.

Solch bösartigen Diffamierungen gibt es in der Zeit der Pandemie nicht. Zum Glück. Die Menschen eint der Wille, das Virus zu bekämpfen. Es gibt keine ernstzunehmende Stimme, die das Virus leugnet. Leugner des menschengemachten Klimawandels sitzen im Bundestag. Würde jemand die Gefahr von Covid-19 leugnen, würde ihm der Vogel gezeigt werden.

Die Stunde der Volksparteien

Zwar wird auch derzeit über den besten Lösungsweg gestritten, aber es herrscht Einigkeit, dass die Pandemie eine nie dagewesene Herausforderung auf mehreren Ebenen ist. Die Schäden, die durch eine grundlegend andere Handhabung entstünden, liegen auf der Hand. Die Corona-Krise hat ein viel kleineres Polarisierungspotenzial als die Krisen davor. Zu einer Polarisierung gehören nämlich zwei Pole. Die gibt es in dieser Form nicht.

Was man viel eher beobachten kann, ist eine politische Interessensbündelung. Die können nur die einstigen Volksparteien gewährleisten. Sie nehmen alle Menschen aus allen Schichten in den Blick und versuchen, deren Lebensrealitäten bestmöglich zu verbessern. Dass diese Herangehensweise in den letzten Jahren viel zu kurz kam, steht außer Frage. Überspitzt formuliert gibt es in der jetzigen Situation aber eine Rückbesinnung auf das Drei-Fraktionen – Modell der 1960er und 1970er. Zwei starke Volksparteien und eine relativ schwache dritte Kraft. Diese dritte Kraft wird auch in Zukunft aus AfD, FDP, Grünen und Linken bestehen, aber die Volksparteien gewinnen trotzdem hinzu.

Keine Zeit für Protest

Denn ganz offensichtlich vertrauen die Bürgerinnen und Bürger in dieser existenziellen Krise eher Union und SPD als den kleineren Interessensparteien. Gerade die politischen Ränder konnten von wirtschaftlichen Krisen immer profitieren – und so wird es bei der nachfolgenden Wirtschaftskrise wahrscheinlich auch wieder kommen. Solange die Pandemie aber so akut wie jetzt ist, sind Protest- und Klientelparteien abgeschrieben.

In der Klimafrage erlebten die Grünen einen Höhenflug, der es ihnen einen Moment lang vergönnte, vom köstlichen Nektar des Volksparteientums zu kosten. Doch die Menschen spüren jetzt schon die gravierenden wirtschaftlichen Einschnitte der Corona-Krise. Wirtschaftspolitik war noch nie ein Kernthema der Grünen. In den elf Landesregierungen, an denen sie beteiligt sind, führen sie in nur zweien das Wirtschaftsministerium. Anscheinend traut man ihnen ein Handling der anstehenden Wirtschaftskrise nicht zu. Ihre Umfragewerte sind derzeit wieder im Sinkflug.

Ähnliches ist bei der AfD zu beobachten. Platte Parolen und plumpe Provokationen sind derzeit nicht so der (Martin) Renner. Und Politik, die konkretes Handeln erfordert, war ja noch nie Sache der AfD. Die selbsternannte Protestpartei zerlegt sich derzeit lieber selbst in unerbittlichen Flügelkämpfen, anstatt sich in irgendeiner Form in die politische Lösung der Krise einzubringen.

Das Ringen um Zeit

Profilieren können sich in der derzeitigen Lage also vor allem die Volksparteien. Die Union kommt nach aktuellen Umfragen auf stattliche 37 Prozent, während sich selbst die SPD wieder der 20-Prozent – Marke nähert. Besonders unionsseitig stechen einzelne Politiker ganz besonders hervor. Die Kanzlerin wurde während vergangener Krisen ja stets für ihre Tranfunseligkeit kritisiert. Sie saß Probleme lieber aus, als sie offensiv anzugehen. Genau diese Art ist momentan ihr größter Trumpf. Abwarten und auf das beste hoffen ist zur Zeit nämlich tatsächlich das Gebot der Stunde. Solange es kein Medikament gegen das aggressive Virus gibt, muss wahrlich auf Zeit gespielt werden.

Ihren Verzicht auf eine erneute Kanzlerkandidatur hat Merkel bereits Ende 2018 öffentlich gemacht. Ein Parteitag, der die K-Frage klärt, erscheint im Moment zwar unwahrscheinlich. Trotzdem gewinnt das leidige Thema Kanzlerposten gerade in den letzten Wochen wieder an Fahrtwind. Viele Menschen scheinen zu ahnen, dass als künftiger Kanzler nur ein Macher in Frage kommt.

Ein Mann der Taten

Jens Spahn mag sich in den letzten Jahren häufiger als ewiger Merkel-Kritiker hervorgetan haben. Dieser Tage steigen seine Beliebtheitswerte allerdings wegen seines Krisenmanagements. Als Gesundheitsminister ist er der gefragteste Mann der Bundesregierung, dieser Verantwortung kann er sich schlichtweg nicht entziehen. Seine Präsenz und sein Wille zum Handeln kommt bei den Bürgern gut an. Trotz allem macht ihn das nicht immun gegen lauterwerdende Kritik an seinen konkreten Vorhaben.

Bayerns Ministerpräsident Markus Söder sitzt da schon fester im Sattel. Bei der K-Frage streifte er meist nur vorsichtig den Horizont. Er zeigte sich bescheiden und wich Fragen nach einer Kandidatur eher aus. In der jetzigen Krise inszeniert er sich erfolgreich als Macher, der die Lage weitestgehend im Griff hat. Er ist sich bewusst, dass die merkelsche Art des Abwartens und der guten Worte in der kommenden Wirtschaftskrise wenig Zustimmung finden wird. Viel eher sehnen sich die Menschen dann nach einer Figur, die konsequent und kompetent auftritt. Man wird sich an sein Management der Pandemie erinnern.

Söders derzeit größter Trumpf in der K-Frage ist sicherlich, dass er seine Konkurrenten in den Schatten stellt. Friedrich Merz machte zuletzt lediglich als Erkrankter von sich reden, Laschet quäkt mehr oder minder unqualifiziert dazwischen, ernst nimmt das zumindest niemand. Mit seinen zügig beschlossenen Ausgangsbeschränkungen für den Freistaat hat Markus Söder sinnvolle Maßnahmen ergriffen, die eine Ausbreitung des Virus zumindest verlangsamen. Nun möchte er Prämien ans Gesundheitspersonal zahlen. Für eine kurzzeitige Beschwichtigung der Lage taugt dieses Vorhaben jedenfalls mehr als stehende Ovationen im Bundestag.


Die Zeiten, die auf uns zukommen, werden sehr schwere sein. Schulen, Kitas und Geschäfte können nicht für immer geschlossen bleiben. Wir werden lernen müssen, eine ganze Zeit lang mit dem Virus zu leben. Bis ein wirksames Medikament gegen Corona entwickelt ist, kann viel Zeit verstreichen. Die wirtschaftlichen Folgen der Krise treffen bereits jetzt schon einige besonders hart. Das Bedürfnis in Zeiten des Social Distancing eng zusammenzustehen, ist daher nur allzu verständlich. Wir sollten Abstand halten, aber uns nicht von denen spalten lassen, die munter aus der Reihe tanzen.

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Von Armut, Schicksal und vom Verzeihen

Lesedauer: 11 Minuten

Als ich mir vor kurzem Christian Barons Buch Ein Mann seiner Klasse zulegte, erwartete ich ein ganz anderes Buch zu lesen als ich es schließlich tat. Die Werbung suggerierte ein politisches Buch, der Einband ließ ein sehr persönliches Buch erwarten. Letztendlich las ich beides zur gleichen Zeit. Ein Mann seiner Klasse ist ein Buch, welches die Lebenswirklichkeit derer darlegt, die im allgemeinen als abgehängt in unserer Gesellschaft gelten. Es ist die Geschichte eines Mannes, der trotz aller Widrigkeiten seinen Weg ging. Nun zieht er eine erste Bilanz und möchte doch nur eines: seinem Vater verzeihen.

Autobiografie ohne Ich?

Wenn in einem reichen Land ein Junge aus lauter Verzweiflung den Schimmel von den Wänden kratzt und ihn sich anschließend in den Mund steckt, dann läuft etwas gewaltig schief in dem Land. Und wenn ein Vater seine Frau und seine Kinder dermaßen tyrannisiert und drangsaliert, dass sein eigener Sohn nicht an seinem Sterbebett auftaucht, dann lief etwas gewaltig schief in seinem Leben. Im Grunde sind das die beiden wichtigsten Botschaften aus Christian Barons Buch Ein Mann seiner Klasse. Was das Buch genau ist – Autobiografie, politische Abhandlung oder einfach nur eine besonders drastisch erzählte Geschichte – darüber bin ich mir bis heute nicht im klaren. Wie gut, dass sich alle drei Möglichkeiten nicht gegenseitig ausschließen.

Bei der Intention des Buches sehe ich schon deutlich klarer. Es ist in erster Linie der Versuch Barons, mit seinem Vater Frieden zu machen. Das Kapitel zu Ende zu bringen, das Buch endlich zuzuklappen. Deswegen dreht sich das Buch vor allem um die Kindheit des Autors. Trotzdem beginnt die Erzählung, wie man es von einem autobiografischen Text gar nicht erwarten würde: mit einem Sterbenden. Und noch etwas anderes mutet bereits nach einigen wenigen Sätzen merkwürdig an. Der Autor ist gar nicht anwesend. Am Sterbebett des Vaters steht nicht er, sondern sein Bruder. Die wichtigste Person der Geschichte ist dennoch von Anfang an da. Es ist Barons Vater, dem der Leser als erstes begegnet. Ihm gebührt nicht nur der erste, sondern auch der letzte Satz des Buches.

Ein Mann seiner Klasse

Mit dem ersten Absatz des Buches ist der Leser von Anfang an drin: in einem zutiefst zerrütteten Verhältnis zwischen Vater und Sohn. Warum es Baron im Gegensatz zu seinem Bruder nicht möglich war, seinem Vater zu Lebzeiten die letzte Ehre zu erweisen, das stellt er selbst in dem Buch anschaulich dar. Der Leser kann auf knapp 300 Seiten erkunden, was letztendlich zu der traurigen Szene am Anfang des Buches geführt hat.

Das Buch ist nicht als Erzählung des Schicksals eines beliebigen armen Jungens angelegt. Vom ersten Satz an ist der Text viel eher eine Auseinandersetzung mit einer Vaterfigur, die oft gefehlt hat. Es ist die Aufarbeitung eines Verhältnisses, das von Alkohol, Schlägen und Geringschätzung geprägt war. Es ist daher nur zu verständlich, dass Baron selbst in den ersten Sätzen des Buches nicht zu finden ist. Er mag der Autor der Geschichte sein, doch das Buch geht um seinen Vater.

Es ist nämlich nicht Baron, der sich selbst als einen „Mann seiner Klasse“ tituliert. Mit dem Titel bezieht er sich auf seinen Vater. Es ist dessen Zugehörigkeit zu einer sozialen „Klasse“, was ihn zu dem werden ließ, der er war. Baron schreibt selbst, dass das nichts entschuldige, aber doch alles erkläre. Seiner Meinung nach liegt es hauptsächlich am sozialen Hintergrund seines Vaters, dass er sich derart negativ entwickelte. Ich selbst teile Barons Einschätzung ausdrücklich nicht. Eine soziale Herkunft darf weder als Rechtfertigung noch als Erklärung für Gewalt in der Familie herhalten. Dieser Aspekt kann aufschlussreich sein, keine Frage, doch ihn zur „Mutter aller Probleme“ zu degradieren, halte ich für falsch.

Politische Botschaft an der kurzen Leine

Doch da ist mehr. Die Beziehung zwischen Baron und seinem Vater dominiert die Erzählung, auch wenn sein Vater häufig durch Abwesenheit glänzt. Garniert wird die ganze Geschichte allerdings von einem politischen Unterton, der zwar nicht zu unterschätzen ist, aber niemals so ganz die Oberhand gewinnt. Nur gelegentlich kritisiert Baron die politischen Verhältnisse der Bundesrepublik explizit. Meist begnügt er sich damit, die unhaltbaren Zustände detailgenau zu beschreiben – und dem Leser die Schlussfolgerungen daraus selbst zu überlassen. Er will seine Leser nicht belehren, er will nicht für seine politische Haltung werben.

Konkret bedeutet das eine ziemlich drastische Beschreibung der häuslichen Situation. Beinahe stolz erklärt er, dass er als Kind zwar einer sozialschwachen Familie entstammte, aber nicht in einem sozialen Brennpunkt lebte. In diesem fand er sich erst Jahre später wieder, nachdem seine Mutter viel zu früh gestorben war. Baron erzählt von Begebenheiten, die fast jedes Kind erlebt, welches der sogenannten Unterschicht entstammt. Ausgrenzung von anderen Kindern, Hänseleien in der Schule, der Verzicht auf regelmäßige Urlaubsreisen.

Aufstieg mit Widerständen

Dabei zeichnet Baron sehr deutlich eine Benachteiligung Sozialschwacher in unserer Gesellschaft nach. Deutlich führt er dem Leser die Widerstände vor Augen, die Menschen mit geringem Einkommen in Deutschland zu meistern haben. Nach dem Tod der Mutter hat das Jugendamt die Familie längst abgeschrieben. Für die Mitarbeiter der Behörde sind Baron und seine Geschwister hoffnungslose Fälle, die Glück haben, wenn sie nach dem Hauptschulabschluss einen Ausbildungsplatz finden, um danach von der Stütze zu leben. Das Buch liest sich wunderbar als Beleg für die schiere Undurchlässigkeit sozialer Grenzen in unserem Land. Es räumt auf mit der Legende von sozialer Mobilität, wenn man sich nur genug anstrengt. Dass Baron als glücklichem Einzelfall dennoch der Aufstieg gelungen ist, macht ihn als Figur in dem Buch ganz besonders interessant.

Wer letztendlich in Barons Augen verantwortlich ist für die ganzen Missstände, wird in seinem Buch nie wirklich deutlich. Es ist nicht klar, ob er einzig seinem Vater die Schuld dafür gibt, dass er sich vor Hunger den Schimmel von den Wänden einverleibt. Immerhin bescheinigt er seinem Vater einen Stolz, der ihn davon abhält, für seine Familie Sozialhilfe zu beantragen. Oder ist es Scham? Stolz oder Scham, eine solche Haltung kommt nicht von ungefähr und sicherlich spielen auch politische Verhältnisse eine Rolle.

Ein Buch als Spiegel

Auf ihrem YouTube-Kanal warb Linkenpolitikerin Sahra Wagenknecht kürzlich für Barons Buch. Als mir das Buch dann auch noch vom Spiegel wärmstens empfohlen wurde, war der Kauf so gut wie beschlossen. Ich kaufte es in der Erwartung, bald ein Buch zu lesen, das sich kritisch mit den politischen Verhältnissen im Land auseinandersetzte. Ein Buch, welches um keine linkspopulistische Plattitüde verlegen war. Doch meine Motivation, das Buch zu lesen, änderte sich alsbald.

Denn bereits nach wenigen Seiten war mir der Erzähler mehr als nur vertraut. Schon vor Ende des ersten Kapitels hatte ich so viele Parallelen zu mir selbst entdeckt, dass ich mehr als einmal erstaunt innehielt. Da waren nicht nur sehr viele ähnliche äußere Einflüsse, die Baron gar nicht beeinflussen konnte. Viel mehr faszinierte mich, wie er mit all den Widerständen umging, wie er zu dem Menschen wurde, der sich dazu entschloss, dieses Buch zu schreiben. Und in genau diesem Werdegang fand ich mich selbst wieder.

Ein Drehbuch für’s Anderssein

Vieles wird in unserer Welt übersehen. Manches mit Absicht, manches, weil es sich so gehört. Die Sozialschwachen haben in unserer Gesellschaft selten eine Stimme. Sie gehen seltener zu Wahlen und sind im politischen Diskurs viel zu selten vertreten. Allein der geläufige Begriff Sozialschwache redet den betroffenen ein, für diese Gesellschaft einfach nicht stark genug zu sein. Gerade bei solchen Randgruppen tut es gut, wenn man weiß, dass andere sehr ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Es baut ungemein auf zu wissen, dass man nicht allein ist.

Doch was unterscheidet Baron von seinen Geschwistern, die eine fast identische Biografie haben, heute aber trotzdem von Hartz-IV leben, während er als Journalist Karriere macht? Er ist anders. Und das bin ich auch. Aber er ist nicht besser, genau so wenig wie ich. Mit diesem Anderssein wurde er von frühester Kindheit an konfrontiert – und musste irgendwie damit zurechtkommen. Im Buch erzählt er beispielsweise von Situationen, in denen sich sein Vater und sein Bruder über ihn lustig machen, weil er „zwei linke Hände“ hat. Zum Bücherlesen gut genug, aber zu blöd, eine Glühbirne auszutauschen. Solche Sticheleien tun weh, das weiß ich selbst.

An einer anderen Stelle im Buch wird Baron ein Bürojob prophezeit. Seinem Bruder wird das Los des Bauarbeiters zugeschrieben. So kam es dann auch. Es ist, als wäre Barons Weg vorgezeichnet gewesen, als würde er nach einem verfassten Drehbuch leben, in dem andere darüber entscheiden, was aus ihm wird und wie er sich entwickelt. Mit diesem Schicksal ist er allerdings nicht allein. Genau so wenig, wie Baron sich dem ihm zugeschriebenen Anderssein widersetzen kann, so wenig konnte sein Vater sich jemals gegen die gesellschaftliche Stigmatisierung zur Wehr setzen.

(K)ein Leben auf dem Bau

Wie an den beinah endlosen Texten und politischen Ergüssen auf diesem Blog unschwer zu erkennen ist, fühle auch ich mich im sicheren Umfeld des Büros am wohlsten. Auf dem Bau habe ich nichts verloren. Und das obwohl mein Vater Zeit seines Lebens auf den Baustellen der Region geschuftet hat. Der mir gezeigt hat, wie wichtig und ehrenvoll anständige Arbeit ist. Bei rumgekommen ist trotzdem viel zu wenig dafür.

Baron sieht es offenbar ähnlich und so spürt er eine geistige Verbindung zu seiner Tante Ella, die reichlich spät im Buch erwähnt wird. Wie er wollte sie sich niemals damit abfinden, trotz Arbeit arm zu sein. Sie entzog sich diesem Schicksal durch Heirat. Baron macht es durch Fleiß. Glück haben sie in unserem Land beide dazu gebraucht. Und das ist eine Schande.

Die Suche nach der Wahrheit

Anders als viele andere mit einer ähnlichen Biografie verortet sich Baron politisch ausdrücklich links. Er ist besonders solidarisch veranlagt, kritisiert das kapitalistische System, sieht sich als Weltverbesserer und folgt einer Idee von Gerechtigkeit, die zuweilen das wesentliche übersieht. Mit seiner Vorgeschichte hätte er auch sehr weit rechts landen können. Doch das kam für den Autor nicht in Frage, auch wenn sein Onkel nichts unversucht ließ, Baron die „Begeisterung für den Sozialismus“ auszutreiben.

Baron gibt sich nicht mit einfachen Antworten zufrieden. Er sucht nach der Wahrheit. Die glaubt er auf der rechten Seite der Politik nicht finden zu können. Und das sehe ich genauso. Das Streben nach dem Wahren trieb ihn schließlich in ein Germanistikstudium. Hätte er nicht wenigstens gut in Mathe sein können? An dieser Stelle hatte ich eher das Gefühl, einen Spiegel in der Hand zu halten als ein Buch.


Letztendlich verlief Barons Leben ähnlich wie das von vielen. Von zu vielen. Mit unerbittlicher Authentizität legt er sein Leben offen. Er zeigt auf, dass vieles nicht auf Leistung, sondern auf Vorbestimmung zurückzuführen ist. Dass er einer der wenigen glücklichen Einzelfälle ist, denen es gelang, die fast unüberwindbaren Mauern des sozialen Gefälles zu überwinden. Barons Buch macht Mut, doch mahnt auch zugleich, die benachteiligten in der Gesellschaft nicht aus den Augen zu verlieren. Denn sie alle haben ihre Geschichten.

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Klatschen statt Kleckern

Lesedauer: 7 Minuten

Im ganzen Land erfüllen Solidaritätsbekunden für medizinisches Personal, für Kassiererinnen und Kassierer und für Polizei- und Feuerwehrbeamte die sozialen Netzwerke. Manche Menschen stellen sich sogar demonstrativ an ihre Fenster oder auf ihre Balkons, um für diese Pfeiler unserer Gesellschaft zu applaudieren. Der Bundestag hat sich daran nun ein Beispiel genommen und es den Bürgerinnen und Bürgern gleichgetan. Die nachfolgenden Reaktionen und Entwicklungen überraschten dabei selbst die erfahrensten Parlamentarier.

Geste mit Wirkung

Am 25. März erhoben sich die Abgeordneten des Bundestags und die Mitglieder der Bundesregierung von ihren Plätzen, um den Menschen in sogenannten systemkritischen Berufen Respekt zu zollen. Die stehenden Ovationen galten all denjenigen, die während der Corona-Krise die Infrastruktur des Landes aufrechterhalten – also Pflegerinnen und Pfleger, Ärztinnen und Ärzte, Polizistinnen und Polizisten, aber auch Verkäuferinnen und Verkäufer sowie alle ehrenamtlichen Helferinnen und Helfer. Was als Akt der Anerkennung und der Ermutigung gedacht war, entfaltete schon bald eine noch erfreulichere Dynamik. Denn tausende Jugendliche waren von dieser menschlichen Geste der Parlamentarier derart gerührt, dass sie sich spontan für eine Ausbildung in den angesprochenen Berufen entschieden. Vor allem Krankenhäuser wurden in den Folgetagen von einer Welle an Bewerbungen geradezu überflutet.

Die angespannte Lage in den Kliniken aufgrund der Corona-Krise lässt eine zeitnahe Sichtung der zahlreichen Bewerbungen allerdings nicht zu. Viele Klinikleitungen signalisierten bereits, dass eine Auswahl frühestens im Sommer getroffen werden könnte. Man sei hocherfreut darüber, dass so viele junge Menschen nun einen Beruf im Gesundheitswesen ergreifen wollen, doch stehe die Versorgung der an Covid-19 erkrankten derzeit im Vordergrund.

Klatschen statt Kleckern

Nicht nur die Jugend wurde von der herzerwärmenden Aktion im Bundestag ergriffen. Tarifpartner und Gewerkschafter fielen sich sprichwörtlich in die Arme (also nur virtuell). Bei einer gemeinsamen Pressekonferenz gaben sie bereits einen Tag später bekannt, dass es ab dem 1. Mai eine Lohnsteigerung von durchschnittlich 20 Prozent für Angestellte im Gesundheitswesen geben würde. Auch einen verbindlichen Personalschlüssel stellten die Vertreter stolz vor.

Doch damit riss die Serie an glücklichen Wendungen lange nicht ab. Anonyme Großunternehmer investierten ihre milliardenschweren Renditen sogleich in die Herstellung lebensrettender Beatmungsgeräte und Intensivbetten, die den Kliniken ab kommender Woche zur Verfügung stehen sollen.

Die Mitglieder des Bundestags merkten schnell, dass sie auf eine politische Goldader gestoßen waren. Im Eilverfahren beschlossen sie, bei schwierigen Themen langatmige Debatten zukünftig durch mehrminütiges Klatschen zu ersetzen. Davon versprechen sie sich schnellere und bessere Ergebnisse als bisher. Die Offensive nennen sie „Klatschen statt Kleckern“.

Zeichen gegen Mietwucher

Die neue Herangehensweise trägt auch in anderen Bereichen bereits Früchte. Um die prekäre Situation auf dem Wohnungsmarkt zu entspannen, ließen sich die Abgeordneten erneut zu langanhaltendem Klatschen hinreißen. Einzelne Mandatsträger der Koalitionsparteien stiegen sogar auf ihre Tische, um dem Applaus noch mehr Wirkungskraft zu verleihen. Der Beifall gebührte in diesem Fall all den Mietern, die gierigen Vermietern und Miethaien trotz aller Widrigkeiten tapfer die Stirn boten.

Auch in diesem Fall ließ der Erfolg nicht lange auf sich warten. Angesichts der unglaublichen Zustände auf dem Wohnungsmarkt stellten viele private Miet- und Wohnungsunternehmen ihre Scham öffentlich zur Schau. In zahlreichen Beiträgen in sozialen Netzwerken zeigten sie sich entsetzt darüber, in welch abgefahrener Situation sich viele Mieterinnen und Mieter befänden. Sie kündigten weitreichende Maßnahmen zur Verbesserung der Mietsituation in Deutschland an.

Der Vermieterbund München wurde dabei deutlich konkreter. Er vereinbarte eine Senkung der innenstädtischen Miete um durchschnittlich ein Drittel der jetzigen Kaltmiete. Die Mieterleichterungen dort sollen ab Herbst in Kraft treten.

Bundesweit gründete sich spontan der Verbund zur Schaffung von Wohnraum (VSW). Es handelt sich dabei um ein Konglomerat aus privaten Vermietern, Großunternehmern der Branche und Politikern. Gemeinsam können sie vor allem Großstädten mehrere Millionen Euro für den Bau von Wohnungen zur Verfügung stellen. Experten erwarten, dass sich bereits in wenigen Monaten eine Entspannung der Lage im ganzen Land abzeichnen wird.

Applaus gegen Altersarmut

Ganz aktuell klatschte der Bundestag für Rentnerinnen und Rentner, die tagein tagaus und bei Wind und Wetter Pfandflaschen aus überfüllten Müllbehältern fischen. Die betroffenen Senioren fühlten sich dadurch enorm ermutigt. Viele von ihnen nutzten die allgemeinen Ausgangsbeschränkungen, um öffentliche Plätze von herumliegendem Pfandgut zu befreien. Mehrere lokale Tageszeitungen berichteten von diesen Trümmerrentnern, die wie nach dem Krieg ihr bestes gaben, um die Szenerie in neuem Glanz erstrahlen zu lassen.

Spärliche Reaktionen auf den erneuten Beifall der Bundestagsabgeordneten gab es bisher von Seiten der Deutschen Rentenversicherung (DRV). Es ist allerdings davon auszugehen, dass diese Behörde aufgrund eines WLAN – Schadens bisher noch gar nichts von der rührenden Aktion mitbekommen hat. In verschiedenen Interviews zeigten sich Abgeordnete zuversichtlich, dass auch die DRV bald entsprechende Maßnahmen ergreifen würde.

Ein Grund zur Hoffnung

Die Volksvertreter sind indes rundum zufrieden mit der bravourösen Offensive. Bei einer kurzfristig anberaumten Pressekonferenz gab Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) bekannt, dass weitere Applausstürme geplant seien. So ist vorgesehen, noch im April etwas gegen den um sich greifenden Mangel an Kita-Plätzen zu unternehmen.

Manuela S. (34), Kindertagesbetreuerin in Krefeld, sitzt bereits jetzt schon täglich mit ihren Schützlingen der Notbetreuungsgruppe gespannt vor dem Fernsehgerät, um die neuesten Entwicklungen auf keinen Fall zu verpassen. Sie freut sich auf die Zeit, wenn sie während der Arbeitszeit endlich wieder entspannt zur Toilette gehen kann. Momentan ist das nicht ohne Gewissensbisse möglich, ist sie doch allein für zehn Kleinkinder verantwortlich.

Auch Eltern blicken hoffnungsvoll in die Zukunft. Sie spekulieren auf eine deutliche Absenkung der Anmeldefristen an Kitas auf sechs Monate. Momentan warten Eltern im Durchschnitt drei Jahre auf einen Platz in der Krippe. Politiker sind sich sicher, dass schnöder Anstandsapplaus in diesem Fall kaum helfen wird. Sie richten sich bereits auf orgasmische Freudenstürme im Plenarsaal ein.

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