Die Ära der Traumtänzer

Lesedauer: 5 Minuten

Ein Ziel vor Augen zu haben, ist eine wichtige Sache. Die meisten treibt eine solche Vision an. Finden sich dann noch überzeugte Mitstreiter, ist das eine unglaublich aufbauende und motivierende Erfahrung. Ihr wesentliches Ziel haben heute aber viele aus den Augen verloren. Immer wichtiger wird es stattdessen, zu bestimmten Themen die richtige Haltung und Einstellung zu haben. Dass am Ende des Weges ein glorreiches Ziel steht, wird immer mehr zur Nebensache, ebenso wie der Umstand, dass am Wegesrand viele mögliche Weggefährten stehen, die nur darauf warten, mitgenommen zu werden. Ihre ausgestreckte Hand wird meist ausgeschlagen, weil ihre moralischen Westen nicht so einwandfrei strahlen wie die eigene. Viele Allianzen und Chancen bleiben so ungenutzt.

Ein gutes Gefühl

Wir dürfen keine Energie von Menschenrechtsverbrechern beziehen. Wir müssen Putin ruinieren. Berlin soll schon bis 2030 klimaneutral sein. All diese Forderungen und Appelle will man intuitiv mit einem klaren Ja bekräftigen. Lauscht man diesen Leitmotiven, hat man ein gutes Bauchgefühl. Es fühlt sich gut an, zu den Guten zu gehören.

Ehrenwerte Motive zu haben, reicht in der Realität allerdings nicht aus. Nur weil man erkannt hat, dass Putin ein Menschenrechtsverbrecher ist und man das klar benennt, ist der russische Aggressor kein bisschen harmloser geworden und die Ukraine kein Stück sicherer. Vieles kann man sich wünschen, aber eine Menge davon wird nicht eintreten. Ein militärischer Sieg über Russland gehört dazu.

Moralisches Wunschdenken

Die Verfechter von Waffenlieferungen, beschleunigter Klimaneutralität und Gendersternchen haben zwei grundlegende Dinge gemeinsam: Es handelt sich meist um die gleichen Personen und es ist schwer, ihren Intentionen etwas entgegenzusetzen. Das liegt daran, dass ihre Ideen und Vorstellungen wirklich nicht schlecht sind. Fast jeder wünscht sich ein friedliches Europa, niemand will diskriminiert werden und alle Menschen wollen eine Welt ohne Klimakatastrophen.

Trotzdem sind es die konkreten Maßnahmen, die Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieser Menschen säen. Das Ziel verlieren sie viel zu häufig aus den Augen und ersetzen es durch schwulstige und realitätsferne Wunschvorstellungen, für welche die Zeit noch nicht reif ist. Regelmäßig machen sie den dritten vor dem ersten Schritt.

Einstellungssache

Das geht so weit, dass sie ihre Vorstellungen einer idealen Welt über alles stellen und sich mit nichts weniger zufriedengeben. Die Einstellung zu bestimmten Themen ist für sie wichtiger als die Erringung irgendwelcher Teilerfolge. Sie haben Codes und Indizes generiert, die festlegen, wie treu jemand auf Linie ist. Weicht er zu oft oder zu stark von diesen Vorgaben ab, wird er ausgeschlossen und diffamiert.

Es ist dabei völlig unerheblich, ob die ausgeschlossene Person in Wahrheit für die gleichen Ziele kämpft wie die gefühlte Mehrheitsgesellschaft. Wer mit Impfunwilligen in den Dialog treten will oder die zentrale Rolle der NATO beim eskalierenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine anspricht, kann nicht mit ganzem Herzen ein guter Mensch sein oder sich voll und ganz einer gerechten und diskriminierungsfreien Welt verschrieben haben. Die unbefleckte Moral verbietet jegliche Zusammenarbeit mit solchen Menschen, auch wenn sie noch so oft sagen, dass Putin völkerrechtswidrig die Ukraine angegriffen hat.

Auf diese Weise entsteht ein Klima des Gegeneinanders. Jeder normaldenkende Mensch erkennt Putin als einen Verbrecher, der schon für tausende von Morden verantwortlich ist. Er kann diese Verbrechen tagtäglich begehen, weil er sich in einer sehr günstigen Position befindet. Er ist das Oberhaupt des größten Lands der Erde und verfügt über Atomwaffen, mit denen er den Planeten vernichten könnte. Es reicht nicht aus, ihn für diese Offensichtlichkeiten auszuschimpfen und astronomische Summen in einen Krieg zu investieren, dessen Ende noch lange auf sich warten lassen wird.

An einem Strang

Es wäre deutlich effektiver, wenn die Guten sich zusammenschlössen und gemeinsam gegen den russischen Aggressor vorgingen. Befürworter und Gegner von Waffenlieferungen an die Ukraine eint in sehr großer Mehrheit das Ziel, dass sie das Sterben in der Ukraine beenden wollen. Beide Seiten müssen das erkennen und aufeinander zugehen. Diffamierungskampagnen verhindern diese Einigkeit und lassen und schwach dastehen.

Demokratie kann nur gemeinsam gelingen. Sie ist dann besonders schlagkräftig, wenn die Menschen an einem Strang ziehen. Momentan ist das nicht der Fall. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland und die militärische Unterstützung der Ukraine haben uns einem Frieden keinen Schritt nähergebracht. Stattdessen haben wir uns entzweien lassen und kämpfen gegeneinander. Putin lacht sich währenddessen halbtot über uns.

Fröhliches Kriegskabarett

Solange es salonfähig ist, Menschen mit abweichender Meinung das Allerschlimmste zu unterstellen, sind wir verletzlich und angreifbar. Nicht alle Menschen lassen sich von moralgeleiteter Politik gängeln und bevormunden. Die neue Friedenbewegung im Stile von Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht sind daher die zwangsläufige Folge einer Wertepolitik, die viele Menschen vor den Kopf stößt und sie von sich wegtreibt.

Am 25. Februar war nicht das Sprachrohr Moskaus zu hören. Menschen sind auf die Straße gegangen, weil sie sich einerseits Frieden in Europa wünschen und sich andererseits politisch nicht repräsentiert fühlen. Viel eher im Sinne Putins agiert eine Bundesregierung, welche diese Menschen für ihr Ansinnen verlacht und an den Pranger stellt. Damit kommt sie Putin letzten Endes viel stärker entgegen, weil sie die Bundesrepublik zum Kriegskabarett des russischen Präsidenten macht.

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Weniger Demokratie auf Raten

Lesedauer: 9 Minuten

Deutschland verroht. Die Kultur der sachlichen Diskussion ist vom Aussterben bedroht. Immer mehr gewöhnen wir uns an eine gesellschaftliche und politische Polarisierung und übersehen, was wir dabei opfern. Gesprochen wird von eingeschränkter Meinungsfreiheit, Demokratieabbau und Diktatur. Währenddessen macht sich eine Stimmung der moralischen Überheblichkeit breit, die Widerspruch nur in kleinen Dosen duldet und jeden aus dem Diskurs ausschließt, der zu sehr vom vorherrschenden Narrativ abweicht. Immer klarer wird, dass das Ende einer Demokratie nicht zwangsläufig eine gewaltsame Diktatur sein muss.

Vortrag mit Nachwehen

Vergangenen Monat hat die ehemalige ARD-Russlandkorrespondentin Gabriele Krone-Schmalz einen Vortrag an der Volkshochschule Reutlingen gehalten. Thema war das Verhältnis zu Russland, insbesondere angesichts des Kriegs in der Ukraine. Die Zeitungen waren tagelang voll davon. Auch heute wirkt der Auftritt der Russlandexpertin in Reutlingen noch nach. Wie konnte es dazu kommen?

In ihrem Vortrag warb Krone-Schmalz dafür, den Dialog mit Russland zu suchen, um ein Ende des Kriegs herbeizuführen. Sie plädierte außerdem für Sicherheitsgarantien im Interesse Russlands. Die Situation in der Ukraine sei auch deshalb eskaliert, weil man einen NATO-Beitritt des souveränen Staats nicht klar zurückgewiesen habe. Die Thesen von Frau Krone-Schmalz waren zweifellos provokativ. Sie boten aber auch ausreichend Stoff für eine kontroverse demokratische Debatte zum Thema.

Shitstorm mit Methode

Doch genau diese Debatte blieb aus. Stattdessen sah sich Gabriele Krone-Schmalz einer vernichtenden Kritik ausgesetzt, die jede sachliche Diskussion augenblicklich abwürgte. Schon vor ihrem Auftritt in Reutlingen war die 73-jährige eine umstrittene Persönlichkeit. Die Vehemenz der Reaktionen auf ihre jüngsten Ausführungen sprengten aber endgültig den Rahmen des Anständigen. Nicht nur Gabriele Krone-Schmalz wurde öffentlich für ihre Ansichten quasi geschlachtet, auch gegen die Volkshochschule Reutlingen entbrannte ein regelrechter Shitstorm. Andere Institutionen werden sich künftig sehr gut überlegen, welche Gäste sie einladen werden und wie weit sie vom vorherrschenden Narrativ abweichen werden.

Die Verärgerung über den Vortrag in Reutlingen weckte bei vielen ungute Erinnerungen ans Frühjahr 2021. Damals sprach sich ein Künstlerkollektiv auf satirische Weise gegen einen weiteren Lockdown zur Bekämpfung der Pandemie aus. Die Aktion #allesdichtmachen fiel vielen der 50 Künstlerinnen und Künstler böse auf die Füße. Angesichts des enormen Drucks aus Forschung, Politik und Teilen der Gesellschaft ruderten manche erschrocken zurück. Mit einem solch vernichtenden Urteil hatte keiner von ihnen gerechnet. So geschmacklos einige die Aktion auch fanden, der Zerstörungswille der Empörung darüber stand in keinem Verhältnis dazu.

Eine demokratische Katastrophe

In den letzten Jahren wurde viel und oft darüber gesprochen, was man in Deutschland noch sagen dürfte, ohne in Schwierigkeiten zu geraten. Zur Diskussion lud man meist Vertreter der entgegengesetzten Pole. Während die einen die Meinungs- und Ausdrucksfreiheit in Deutschland über den grünen Klee lobten, ließen sich andere über diktatorische Verhältnisse á la DDR aus. Eine vernünftige Debatte fand auch hier viel zu selten statt.

Tatsächlich haben inzwischen rund 50 Prozent der deutschen Bürgerinnen und Bürger die ernsthafte Sorge, sie könnten nicht mehr all das sagen, was sie wollten, ohne deswegen in ernsthafte Schwierigkeiten zu kommen. Diese Angst gilt explizit auch für Äußerungen, die in einem funktionierenden Rechtsstaat eindeutig von der Meinungsfreiheit gedeckt sind. Zusammen mit einer sinkenden Beteiligung an Wahlen, besonders auf Landes- und Kommunalebene, sollten solche Tendenzen jeden echten Demokraten in blankes Entsetzen stürzen.

Romantisches Diktaturverständnis

Es hilft dabei wenig, wenn man reflexartig von einer Diktatur redet, weil die Meinungsfreiheit in Zweifel steht. Im Sommer 2019 stellte sich die damalige Bundeskanzlerin Angela Merkel den Fragen von Bürgerinnen und Bürgern. Ein AfD-Anhänger meldete sich und warf der Kanzlerin vor, das Land in eine Diktatur umgebaut zu haben, in der er nicht mehr das sagen könnte, was er gerne wollte. Merkel entgegnete ihm, dass sein Auftritt bester Beleg dafür sei, dass wir eben nicht in einer Diktatur lebten.

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Angela Merkel im Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern: Wir leben nicht in einer Diktatur.

Sie hatte damit vollkommen recht. Kein Mensch wird in Deutschland dafür eingesperrt, weil er seine Meinung sagt. Das sind Methoden, die wir aus Ländern wie Russland oder China kennen. Eine Diktatur existiert in Deutschland formal nicht. Das Problem ist, dass viele Menschen eine viel zu naive Vorstellung davon haben, was eine Diktatur ist und wie sie entsteht.

In nahezu grenzenloser moralischer Überlegenheit warten manche heutzutage auf eine Partei oder auf eine Bewegung, die sie aufgrund ihrer verfassungsfeindlichen Bestrebungen bekämpfen können. In der AfD haben viele dieser Moralisten Sinn und Grund für diesen Kampf erkannt. Und tatsächlich ist die AfD eine Partei, die mit Verfassungstreue und Demokratie wenig am Hut hat. Sie ist aber weit davon entfernt, einen echten Umsturz herbeizuführen oder dem Land eine Diktatur überzustülpen. Wer sich ausschließlich auf diese Kämpfer verlässt, die das Problem exklusiv außerhalb eines bestimmten Spektrums sehen, der wird früher oder später in ebendieser unfreien Gesellschafft erwachen, die er immer beseitigt sehen wollte.

Die halbdemokratische Gesellschaft

Der größte Feind der Demokratie ist nämlich nicht die Diktatur. Es ist die Ignoranz und die Gleichgültigkeit, mit der sich immer mehr Menschen von einer demokratischen Gesellschaft abwenden. Die Geschichte zeigt genügend Beispiele dafür, wie eine Diktatur gegen den Willen der Bevölkerung und manchmal auch gewaltsam eingeführt wurde. Die DDR war ein System, das keiner wollte, aber in dem viele sich notgedrungen eingerichtet hatten. Der Machtübernahme der Nazis gingen zwar demokratische Wahlen voraus, der letztendliche Umsturz gelang aber nur durch den exzessiven Einsatz von Gewalt, der sich in den Folgejahren weiter steigern sollte.

Den Todesstoß versetzten Weimar allerdings die vielen Menschen, die mit Sicherheit keine diktatorische Gewaltherrschaft unter Hitler im Sinn hatten, den Glauben in die Demokratie aber lange aufgegeben hatten. Auch heute befinden wir uns in einer Situation, in der immer weniger Menschen, der Demokratie zutrauen, mit den Krisen unserer Zeit fertigzuwerden. Fast die Hälfte der Deutschen glaubt nicht mehr an die Meinungsfreiheit, einen Grundpfeiler jeder Demokratie.

Ohne Sinn und Verstand

Wenn Menschen den Leitspruch „Nie wieder“ hören, dann denken sie daran, sich Naziaufmärschen entgegenzustellen und Zivilcourage zu beweisen, wenn Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Migrationshintergrund drangsaliert werden. Das ist mutig und richtig. Dieses Engagement leistet einen wichtigen Beitrag zu einem gesunden Rechtsstaat. Trotzdem werden diese Menschen nicht so schnell das Zepter übernehmen. Eine Gewaltherrschaft wie im Dritten Reich ist heute eine Dystopie. Sie war aber möglich – und dafür gab es Gründe. Die Methoden der Nazis von damals funktionieren heute nicht mehr. Dafür waren ihre Taten zu grauenvoll. Die Mechanismen, wie es zu einer unfreien Gesellschaft kommen kann, bestehen aber weiterhin.

In der krisengeschüttelten Zeit, in der wir leben, ist die Angst unser ständiger Begleiter. Angst ist aber kein guter Ratgeber. Besonders die Coronapandemie hat gezeigt, wie wenig Verlass auf den gesunden Menschenverstand ist, wenn eine existenzbedrohende Angst um sich greift. Die Hamsterkäufe im ersten Pandemiejahr, die massenhaften Aufmärsche selbsternannter Querdenker und die gefühlte Impfpflicht sind sicher keine Meisterleistungen menschlicher Intelligenz.

Im Laufe des Jahres 2021 ist die Stimmung bedenklich gekippt. Die ersten Dosen der neuen Impfstoffe waren kaum an ein paar ausgewählte Bewohnerinnen und Bewohner von Pflegeeinrichtungen verabreicht, da kamen manche Politiker schon mit Privilegien für Geimpfte und Sanktionen für Ungeimpfte um die Ecke. Das Grundrecht auf körperliche Selbstbestimmung wurde auch dann konsequent infrage gestellt, als immer klarer wurde, dass die viel angepriesenen Wundermittel Grenzen in ihrer Wirkung und Effektivität hatten.

Eine neue Superwaffe

Für viele Ungeimpfte war der Herbst 2021 eine schwere Zeit. Sie waren durch 2G nicht nur von vielen Bereichen des öffentlichen Lebens ausgeschlossen, sie spürten eine latente Feindseligkeit, die ihnen aus dem Rest der Bevölkerung entgegenschlug. Forscher, Politiker und Prominente schürten eine Stimmung, die bei Betroffenen das Vertrauen in den Rechtsstaat nachhaltig erschüttert hat. Spätestens seitdem den Ungeimpften die Verantwortung für überfüllte Intensivstationen zugeschoben werden sollte, ist klar, dass die Demokratie nicht naturgegeben ist.

Möglich ist das, weil sich viele antidemokratische Strömungen heute eine neue Superwaffe zu eigen gemacht haben: die Moral. Lange in der Politik verpönt und belächelt, läuft sie in diesem Geschäft inzwischen zur neuen Höchstform auf. Gegen Widerspruch jedweder Form scheint sie gefeit. Jeder, der sich ihr widersetzt, steht sogleich im Verdacht, etwas Böses im Schilde zu führen. Ehe man sich versieht, ist man AfD-nah, ein Covidiot oder ein Kremlpropagandist. Die Moralisierung der Debatte teilt die Lager in Gut und Schlecht. Es ist absolut menschlich, dass man auf der guten Seite stehen möchte. Den Mut, die moralische Seite zu verlassen und für sich in Anspruch zu nehmen, eben nicht zu den Bösen zu gehören, haben nicht viele. Sie bleiben lieber stumm. Zu bequem ist es doch, auf der richtigen Seite zu stehen. Unsere Vorfahren werden das ähnlich gesehen haben. Demokratisch ist das nicht.

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Gabriele Krone-Schmalz an der VHS Reutlingen


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Wenn die Mehrheit schweigt

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Hauptargument Moral

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Protest aus Routine

Lesedauer: 7 Minuten

Die große Errungenschaft der Demokratie ist, dass man sich immer dann zu Wort melden kann, wenn man mit bestimmten Entwicklungen nicht einverstanden ist. Findet man dann noch Mitstreiter, die gleiche Ansichten vertreten, kann man besonders effektiv auf seine Sache aufmerksam machen. Dieser Protest war über Jahrzehnte ein wichtiger Bestandteil der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik. In den letzten Jahren spüren wir aber, dass sich legitimer Protest gewandelt hat. Immer lautstärker tritt eine Gruppe in den Vordergrund, denen es nicht um Veränderung geht, sondern einzig darum, ihren Unmut kundzutun. Für die Demokratie ist dieser inhaltslose Protest auf Dauer eine Zumutung.

Protest als Erfolgsrezept

„Opposition ist das Salz in der Suppe der Demokratie.“ – Mit diesem Satz bekundete der ehemalige Bundespräsident Walter Scheel seine Loyalität gegenüber unserer Verfassung. Er wusste, dass eine Demokratie nur dann auf Dauer funktioniert, wenn man den Widerspruch nicht nur erträgt, sondern auch wertschätzt. In der Geschichte der Bundesrepublik gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass unsere Gesellschaft am Widerstand einiger gewachsen ist. Es war gut, dass die Studierenden Ende der 1960er gegen die Notstandsgesetze auf die Straße gingen. Sie befürchteten zurecht, dass ein ausgerufener Notstand viel zu leicht zur Abschaffung der Demokratie missbraucht werden könnte.

Aus den Protesten gegen die Atomenergie erwuchs sogar eine Partei, die zwischenzeitlich mehrfach an der Bundesregierung beteiligt war. Und auch die heutige Linkspartei ging aus einer Protestbewegung gegen die unsozialen Hartz-Gesetze hervor. Bis vor einigen Jahren gingen die Menschen immer dann auf die Straße, wenn sie ein besonderes Anliegen hatten. In Demonstrationszügen und Aufmärschen zeigten sie den Regierenden, dass sie mit deren Politik nicht einverstanden waren. Die Politik richtete ihren Kurs danach aus – mal mehr, mal weniger.

1001 Gründe zum Demonstrieren

Mittlerweile hat sich allerdings eine Protestkultur entwickelt, bei der die konkrete Zielsetzung nicht mehr erkennbar ist. Schon bei den Pegida-Demonstrationen war die Zusammensetzung der Proteste einigermaßen diffus. Bei den Hygienedemos des Jahres 2020 und den heutigen Querdenkerveranstaltungen tummeln sich aber Menschen verschiedener Altersgruppen, aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit vielfältigen nationalen Hintergründen.

Während der genaue Zweck der Demo bis vor einiger Zeit eindeutig war, sind die Aufmärsche auch in diesem Punkt mittlerweile absolut heterogen. Im Laufe der Pandemie gingen viele Menschen zunächst gegen die Maskenpflicht auf die Straße. Monate später argwöhnten sie die Einschränkungen gegen Ungeimpfte und schließlich positionierten sie sich gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Die Bewegung wuchs mit der Zeit stetig an. Anfang des Jahres zählten die Demonstrationszüge teilweise mehrere Tausend Teilnehmer. Ein beträchtlicher Teil von ihnen waren völlig normale Bürger ohne nennenswerten Hang zu Verschwörungstheorien.

Nach dem russischen Einfall in die Ukraine brachen dann jedoch auch bei den Demonstrationen sämtliche Dämme. Plötzlich fanden auch ukrainische Flaggen Einzug in die Protestmärsche. Völlig unklar war dabei, was die Demonstrierenden an der deutschen Ukrainepolitik störte. Finden sie den Kurs der Bundesregierung zu lasch oder lehnen sie Waffenlieferungen ab? Sind die Flaggen eine Aufforderung zum Handeln oder bekunden sie grundsätzliches Mitgefühl für ein Land, das momentan völkerrechtswidrig überrannt wird?

Auch die gestiegenen Energiepreise treiben viele Menschen auf die Straße. Sie machen sich Sorgen darum, wie sie die nächste Heizkostennachzahlung stemmen sollen. Die Politik liefert darauf bislang kaum vernünftige Antworten. Es fällt dem Konglomerat aus Verschwörungstheoretikern, Rechtsextremen und Hobbyprotestlern darum umso leichter, die Menschen zu ködern.

Von der Realität zur Verschwörungstheorie

Schon zu Pegida-Zeiten stellte man schnell fest, dass viele der Demonstrierenden für logische Argumente überhaupt nicht mehr zugänglich waren. Sie hatten sich in eine fixe Idee verrannt. Ihnen ging es hauptsächlich darum, ihre Wut und ihren Frust zum Ausdruck zu bringen und nicht im klassischen Sinne nach Veränderung zu streben. Weil sie lange nicht gehört wurden, verwiesen sie immer wieder auf eine angeblich eingeschränkte Meinungs- und Versammlungsfreiheit, obwohl ihre personenstarken Aufmärsche das Gegenteil offensichtlich machten.

Sie gingen auf die Straße, weil viele von ihnen das Vertrauen in die Politik vollends verloren hatten. Sie spürten, dass sich ihre Lage kaum nennenswert zum Positiven veränderte, obwohl verschiedene Parteien an der Regierung beteiligt waren. Immer hatten sie das Gefühl, die Regierenden würden Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg machen. Tatsächlich hat sich während der Coronapandemie und insbesondere mit Anlaufen der ersten Impfkampagne gezeigt, dass Politik und Wissenschaft verlernt hatten, ihre Entscheidungen zu erklären und populär zu machen.

Für viele Querdenker gilt die Pandemie weiterhin als staatseigene Schikane, welche die Bürgerinnen und Bürger nur kleinhalten soll. Die Existenz des Virus bestreiten diese Menschen. Wissenschaft und Politik haben den Draht zu ihnen verloren. Immerhin ziehen es diese Menschen ernsthaft in Erwägung, die politisch Verantwortlichen könnten eine medizinische Krise konstruieren, um ihre Macht zu festigen.

Politisch heimatlos

Mit Ausnahme der AfD schafft es bislang keine bedeutende Partei, den Frust der Bürgerinnen und Bürger zu kanalisieren. Während die Linke krampfhaft versucht, bei den Protesten zum heißen Herbst die Oberhand zu gewinnen, haben sich die übrigen Parteien damit abgefunden, dass Protest und Widerstand längst Sache der AfD ist – und treiben damit unweigerlich noch mehr Menschen in die Fänge der Rechtspopulisten.

Die Querdenkerszene bietet damit ein Sammelbecken für alle Menschen, die in unterschiedlichem Ausmaß von der Politik enttäuscht sind. Die Initiatoren solcher Demonstrationszüge schaffen eine parallele Gesellschaft, die Platz bietet für all jene, die in der Realität abgehängt wurden. Willkommen ist jeder, den an der aktuellen Politik etwas stört. Das ist besonders gut daran zu erkennen, dass die Themenpalette der Märsche immer bunter wird.

Blinder Frust und routinierter Protest

Ohne die Ziele der Demonstrationen zu hinterfragen, beteiligen sich heute viele Bürgerinnen und Bürger an den sogenannten Spaziergängen. Die Motive der Initiatoren sind ihnen weitgehend egal, es zählen einzig ihre eigenen Beweggründe, auf die Straße zu gehen. Sie sind überzeugt davon, dass sie besonders erfolgreich protestieren – und tun genau das nicht. Sie protestieren nicht, sie leben ihren Frust aus.

Dieser inhaltslose vom Frust getragene Protest ist auf Dauer schädlich für die Demokratie. Viele der Themen, welche die Menschen auf die Straße treiben, sind ernstzunehmende Probleme, die einer weitaus differenzierteren und professionelleren Betrachtung und Organisation bedürfen als die Querdenkerszene es jemals leisten kann. Die Demos treten jedoch seit vielen Monaten auf der Stelle, ohne politisch etwas zu bewirken. Sollte eine Änderung der Verhältnisse jemals das Ziel der Querdenker gewesen sein, haben sie sich lange von dieser Vision verabschiedet. Die Samstagsaufmärsche sind mittlerweile zu einem routinierten Protest geworden und Routine hat keine Durchschlagskraft.


Es ist noch nicht zu spät: Die regierenden Parteien und Teile der Opposition dürfen auf den Frust und den Protest der Bürger nicht ebenso routiniert mit Unverständnis und Ablehnung reagieren. Die Menschen machen zuhauf darauf aufmerksam, dass sie ein Anliegen haben. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, sie der Straße zu überlassen, wo sie Teil eines Durcheinanders aus Frust und Enttäuschung werden und verlernen, wie echte Demokratie funktioniert.

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