Vorschau zur Elefantenrunde 2021

Lesedauer: 7 Minuten

Guten Abend, meine Damen und Herren. Selten war eine Wahl so spannend wie die des heutigen Abends. Gleich drei potentielle Kandidatinnen und Kandidaten konkurrierten um den Einzug ins Kanzleramt. Für mindestens eine der dreien dürfte der Traum von der Kanzlerschaft mit dem heutigen Abend allerdings ausgeträumt sein.
Wir möchten heute Abend sprechen mit den Spitzenkandidatinnen und -kandidaten der im nächsten Deutschen Bundestag vertretenen Parteien.
Frau Merkel, Sie sehen uns ein wenig verdutzt, dass Sie hier sitzen und nicht Ihr Spitzenkandidat Armin Laschet. Wie kam es dazu?

Merkel: Nun, zu allererst möchte ich betonen, dass wir uns als Union natürlich trotz der starken Verluste sehr darüber freuen, dass wir wieder stärkste Kraft wurden. Trotzdem kann uns dieses Ergebnis nicht zufrieden stimmen und in Angesicht dieser Tatsache bitte ich doch um Verständnis dafür, dass heute Abend nicht Herr Laschet hier sitzt, sondern ich.

Aber Sie nehmen zur Kenntnis, dass die Union das schlechteste Ergebnis in der Parteiengeschichte eingefahren hat?

Merkel:  In erster Linie sind CDU und CSU die Wahlsieger des heutigen Abends und darum haben wir erneut einen klaren Regierungsauftrag.

Herr Scholz, Ihre Partei konnte gut zulegen. Sehen Sie die Union auch als die Wahlsiegerin des heutigen Abends?

Scholz: Selbstverständlich sehe ich das nicht so. Die sozialdemokratische Partei belegt zwar nur Platz 2, aber ich bin gespannt darauf, wie Frau Merkel oder Herr Laschet oder wer auch immer unter diesen Voraussetzungen eine stabile Mehrheit zustandebekommen möchte.

Weidel: Vielleicht ja mit einer Großen Koalition, dafür haben Sie doch ein Faible, Herr Scholz.

Frau Weidel, Sie haben das Wort ergriffen, deswegen kommen wir ohne Umschweife zu Ihnen. Schmerzt Sie das Ergebnis des heutigen Abends eigentlich?

Weidel: Sicher müssen wir eingestehen, dass wir nach derzeitigem Stand Stimmen verloren haben. Man sollte aber auch nicht außer Acht lassen, dass die Briefwahl zu Manipulationen geradezu einlädt und gegen die Alternative für Deutschland eine regelrechte Hetzkampagne in diesem Land geführt wurde, besonders vonseiten der Medien.

Habeck: Ach, Frau Weidel, das war wieder vorprogrammiert, dass sie sich als die armen Opfer hinstellen.

Herr Habeck, auch an Sie die Frage: Warum sitzen heute Abend Sie hier und nicht Frau Baerbock?

Habeck: Annalena ist nach diesem wirklich nicht zufriedenstellenden Ergebnis zu dem Schluss gekommen, dass ich die Interessen der Bündnisgrünen in dieser Runde weitaus besser vertreten kann.

Weidel: Die Leute haben sich von Ihrer Verbotspolitik eben nicht beeindrucken lassen.

Herr Lindner, nach ersten Hochrechnungen konnten Sie viele Wähler von der AfD für sich gewinnen. Betrachten Sie das das als Pyrrhussieg?

Lindner: Auf keinen Fall, ich freue mich über jeden Wähler, der zur bürgerlichen Politik zurückkehrt.

Weidel: Mein Gott, ist das alles wieder dümmlich hier…

Lindner: Wir müssen jetzt alles dafür tun, dass die Digitalisierung in diesem Land vorankommt. Mit Rot-Rot-Grün hätte es diesen Schub nicht gegeben. Unser starkes Abschneiden hat diesen Staatssozialismus Gott sei Dank verhindert.

Weidel: Staatssozialismus verhindert?! Entschuldigen Sie, Herr Lindner, aber Sie befürworten die Diskriminierung von Ungeimpften genau so wie alle anderen in dieser absurden Runde.

Herr Lindner, bevor Sie darauf eingehen, würden wir gerne Frau Hennig-Wellsow in die Runde holen. Frau Hennig-Wellsow, Rot-Rot-Grün wurde gerade angesprochen. Diese Mehrheit wird es wohl nicht geben. Wie gehen Sie damit um?

Hennig-Wellsow: Das kann ich Ihnen heute Abend noch nicht sagen. Fakt ist, dass wir an der nächsten Bundesregierung nicht beteiligt sein werden und sehr genau intern klären müssen, wie das heutige Ergebnis zustandekommen konnte.

Lag es vielleicht an den Agitationen gegen Ihre Parteigenossin Wagenknecht?

Hennig-Wellsow: Das kann ich mir nicht vorstellen, die gesamte Partei steht hinter Sahra Wagenknecht.

Erst vor kurzem gab es ein Parteiausschlussverfahren gegen die ehemalige Fraktionsvorsitzende.

Hennig-Wellsow: Das ist richtig, aber wie Sie sicher wissen, wurde Frau Wagenknecht nicht aus der Partei ausgeschlossen. Sie war auch fest in unseren Wahlkampf integriert.

Herr Dobrindt, auch Sie hatten mit Problemkindern in den eigenen Reihen zu kämpfen. Wie sehr ist Herr Scheuer für das schlechte Abschneiden Ihrer Partei verantwortlich?

Dobrindt: Das ist viel zu kurz gegriffen, Herr Scheuer hat als Verkehrsminister sehr gute Arbeit geleistet und die Untersuchungen zu anderen Fragen sind noch nicht abschließend geklärt. Mir ist auf jeden Fall sehr wichtig, dass Rot-Rot-Grün keine Mehrheit erhalten hat und der notwendige Klimaschutz nicht zulasten der Arbeitsplätze in diesem Land geht.

Hennig-Wellsow: Sicher, Herr Dobrindt, Sie haben Ihre Schäfchen aus den Chefetagen bereits in Sicherheit gebracht.

Frau Hennig-Wellsow hat es gerade angedeutet – Herr Habeck, wie gedenkt Ihre Partei gegen Lobbyismus vorzugehen? Immerhin könnten Sie an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein.

Habeck: Natürlich ist der Lobbyismus in diesem Land ein großes Problem, aber ich finde, wir reden schon wieder viel zu sehr am drängendsten Problem vorbei und das ist und bleibt der Klimawandel. Wir müssen alles dafür tun, dass wir spätestens 2035 klimaneutral sind.

Lindner: Aber Sie sind den Leuten bis heute eine Antwort schuldig geblieben, wie Sie das finanzieren wollen.

Krisenfinanzierung ist ein gutes Stichwort. Die Bürgerinnen und Bürger interessiert natürlich auch, wer die Kosten der Coronakrise zu tragen hat.

Habeck: Wenn ich das zum Klimaschutz gerade noch zu Ende führen darf. Diese Menschheitsaufgabe wird uns allen enorm viel abverlangen, keine Frage, aber…

Hennig-Wellsow: Sie lösen diese Aufgabe aber sicher nicht durch eine CO2-Bepreisung.

Herr Scholz, Klimakrise und Coronapandemie – wer zahlt am Ende die Zeche?

Scholz: Wir müssen jetzt erst einmal sicherstellen, dass wir nach der Krise keine neuen Schulden machen. Deswegen bin ich stark dafür, die Aussetzung der Schuldenbremse dringend zu überprüfen und…

Hennig-Wellsow: Die Ampel kommt.

Lindner: Nein, Frau Hennig-Wellsow, die wird mit Herrn Habeck sicher nicht kommen.

Hennig-Wellsow: Mit Ihnen kommt auf jeden Fall die soziale Kälte.

Lindner: Sie brauchen an mir jetzt nicht Ihre schlechte Laune über Ihr desaströses Wahlergebnis auszulassen.

Frau Hennig-Wellsow hat da aber einen wichtigen Punkt angeschnitten. Wie wollen Sie für soziale Gerechtigkeit sorgen? Frau Weidel?

Weidel: Naja, bevor wir uns hier in sozialistischen Umverteilungsfantasien verlieren, sollten wir erst einmal dafür sorgen, dass die Menschen in diesem Land gerecht behandelt werden. Wenn ich mir jetzt schon die systematische Diskriminierung von Ungeimpften ansehe…

Das war zunächst gar nicht die Frage, Frau Weidel. Wir wollten wissen, wie Sie für sozialen Ausgleich sorgen wollen.

Weidel: Wenn Sie mir jetzt schon wieder ständig ins Wort fallen, dann kann ich mir die ganze Sache hier auch sparen. Schönen Abend.

Frau Weidel hat unsere Runde verlassen, deswegen geht die Frage an Sie, Herr Scholz: Mindestlohn 12 Euro, ja oder nein?

Scholz: Wir sollten nicht so tun, als wären durch einen höheren Mindestlohn alle Probleme in diesem Land gelöst. Wir setzen uns für stärkere Tarifpartner ein, damit ein deutlich höherer Mindestlohn erreicht werden kann.

Hennig-Wellsow: Die Ampel wird kommen.

Habeck: Meine Güte, ich krieg‘ gleich schon wieder zu viel! Jetzt reden wir den ganzen Abend schon wieder nur über Koalitionen und persönliche Befindlichkeiten. Stattdessen müssen wir dringend endlich etwas gegen den Klimawandel unternehmen. Es kann doch nicht sein, dass in diesem Land niemand…

Es kann tatsächlich nicht sein, dass in diesem Land niemand weiß, wie es mit unserer scheidenden Frau Bundeskanzlerin weitergeht. Frau Merkel, was sind Ihre Pläne für die Zukunft?

Merkel: Ach wissen Sie, es tut auch mal richtig gut, wenn man Dinge einfach auf sich zukommen lässt. Im Moment habe ich da noch keine so genau Vorstellung.

Damit sind wir am Ende unserer heutigen Runde. Wir verabschieden uns und wünschen Ihnen noch einen schönen Abend.

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Die Partei der Sitzenbleiber

Lesedauer: 7 Minuten

Was für viele Filme gilt, gilt auch für die Politik: Eine Fortsetzung macht alles nur noch schlimmer. Ungeachtet dieser banalen Weisheit hat die CDU in Thüringen vor kurzem die angesetzten Neuwahlen im September platzen lassen. Die AfD veranstaltete daraufhin ein Misstrauensvotum; die CDU verweigerte sich ein weiteres Mal ihrer Verantwortung. Die ehemalige Volkspartei möchte sich gerne als die große politische Kraft gerieren, die dem bösen rot-rot-grünen Lager wie der Bedrohung von rechts gleichermaßen strotzt. Die CDU verkennt dabei, dass die Karten längst neu gemischt sind und sie in Thüringen immer bedeutungsloser wird.

Ein unerledigtes Geschäft

Eigentlich war die Sache geritzt: Parallel zur Bundestagwahl im September sollten auch die Wählerinnen und Wähler in Thüringen einen neuen Landtag wählen. Schon der 26. September als Termin für die Landtagswahl war aufgeschoben. Ursprünglich war die Wahl für Anfang des Jahres vorgesehen. Corona machte der Politik einen Strich durch die Rechnung. Auch die Pläne für den Herbst wurden durchkreuzt – dieses Mal von der CDU.

Entgegen der Vereinbarung mit der amtierenden Regierung wollten vier Abgeordnete aus den Reihen der CDU plötzlich nichts mehr von einer Neuwahl wissen. Die im Frühjahr 2020 geschlossene Waffenruhe mit Rot-Rot-Grün sollte ohne demokratische Legitimation auslaufen. Dabei war es der CDU zu verdanken, dass Bodo Ramelows Koalition ohne Parlamentsmehrheit weiterregieren konnte.

Keine Neuwahl mit der CDU

Die CDU hatte sich diesen Schritt seinerzeit nicht leichtgemacht. Auch alle anderen politischen Akteure und nicht zuletzt die thüringische Bevölkerung hatte unter der Aufschiebe- und Verdrängungspraxis der einstigen Volkspartei zu leiden. Immerhin war es maßgeblich der CDU zu verdanken, dass die AfD den FDP-Mann Thomas Kemmerich für einige Stunden zum Ministerpräsidenten erhob. Der massive Widerstand dagegen ließ der CDU schließlich keine andere Wahl: Sie erklärte sich zähneknirschend bereit dazu, eine Regierung unter Bodo Ramelow zu tolerieren.

Die CDU verstieß damit gegen einen ihrer eisernsten Grundsätze: Keine Zusammenarbeit mit den Linken! Die Toleranz von vier Abgeordneten war dann kürzlich auch aufgebraucht: Sie erklärten, dass sie einer vorzeitigen Neuwahl nicht zustimmen würden. Die erforderliche Mehrheit für den Beschluss war in Gefahr. Die Linken wollten sich nicht auf die FDP verlassen und bliesen das ganze kurzerhand ab.

Von dieser parlamentarischen Handlungsunfähigkeit profitierte letztlich nur einer: Bernd Höcke und seine AfD. Sogleich initiierte er ein konstruktives Misstrauensvotum gegen Ministerpräsident Ramelow. Als Nachfolger sah er sich selbst vor. Er zwang damit besonders die CDU, endlich Farbe zu bekennen. Hasst sie die Linken mehr oder die AfD?

Weniger als Enthaltung

Das Schmierentheater der AfD war genau so vorhersehbar wie die gecrashte Ministerpräsidentenwahl knapp anderthalb Jahre zuvor. Erneut gelang es den Rechtsextremen, die CDU vor sich herzutreiben. Wieder konnte jeder sehen, in welch desolatem Zustand sich das Erfurter Parlament befand.

Die AfD konnte aus der ganzen Misere nur als Sieger hervorgehen. Ihr Ziel, mindestens eine demokratische Partei zu schwächen, hätte sie in jedem erdenklichen Szenario erreicht. Die CDU hätte gegen Höcke und damit für Ramelow stimmen können. Das hätte an der Ehre dieser Partei gekratzt und viele konservative Wähler möglicherweise zur AfD getrieben. Für Höcke zu votieren, hatte die CDU vorab klipp und klar abgelehnt. Also tat die CDU das für sie logischste: Sie blieb während der Abstimmung sitzen und nahm überhaupt nicht an der Wahl teil. Das ist weniger als eine Enthaltung. Es ist eine Verweigerung. Letzten Endes bestätigten sie damit Bodo Ramelow als Ministerpräsidenten. Insgeheim bildet sich die Partei ein, damit nicht mit den Linken paktiert zu haben. Irgendwie stimmt das auch – sie haben nämlich auch sehenden Auges der AfD in die Hände gespielt.

Brandmauer nach links

Die Frage, die sich nach dem konstruktiven Misstrauensvotum vom 23. Juli stellt, liegt auf der Hand: Wie wird sich die CDU bei künftigen Abstimmungen verhalten? Im Kosmos dieser Partei hat die Linke keine vernünftigen Konzepte, eine Zusammenarbeit kommt nicht in Frage. Andererseits lobpreist die Partei ihre Brandmauer nach rechts, durch die es bisher stets gelungen ist, die AfD kleinzuhalten.

In den vergangenen Jahren glänze die CDU nicht gerade durch eine bemerkenswerte Nähe zum rot-rot-grünen Lager. Man hat besonders nach den jüngsten Ereignissen und Erklärungen den Eindruck, die Trennlinie nach links ist deutlich breiter als die Abgrenzung nach rechts.

Hat die CDU allen Ernstes vor, weiterhin das bockige Kleinkind zu spielen und bei Abstimmungen demonstrativ sitzenzubleiben? Werden die Abgeordneten nicht einmal mehr die Hand heben, wenn es zu gewöhnlichen parlamentarischen Abstimmungen kommt? Wollen sie die politische Handlungsfähigkeit Thüringens weiter lähmen? Was soll das sein? Die Rache am Wähler, dass er Linke und AfD mehr liebhat als die alte CDU?

Politisch bedeutungslos

Die CDU in Thüringen steht zwischenzeitlich besonders für eines: ein zerstrittenes und nicht mehr handlungsfähiges Parlament. Mit ihrem Boykott der Neuwahlen im Herbst hat die Partei erneut bewiesen, dass es ihr nicht um den Freistaat Thüringen geht. Es geht ihr auch nicht um die Würde des Erfurter Landtags. Es geht der CDU ausschließlich darum rechtzuhaben. Sie will die Wortführerin in einer politischen Landschaft spielen, die der Wähler längst umgebaut hat.

Der Schaden für die Demokratie ist enorm. Während die CDU demokratische Absprachen unterwandert und durch Nichtstun glänzt, zwängt sie der AfD die Rolle des Machers förmlich auf. Es ist ausschließlich auf die Verweigerungshaltung der CDU zurückzuführen, dass die AfD sich mit ihrem Misstrauensvotum profilieren konnte.

Echte Oppositionsarbeit ist von der CDU nicht mehr zu erwarten. Diese Rolle hat sie der AfD überlassen. Die AfD allein gibt nun den kritischen Ton in Thüringen an. Die AfD allein ist nun Opposition im Erfurter Landtag. Die AfD allein ist Gegner von Rot-Rot-Grün. Es ist fatal, all diese Aufgaben allein der AfD zu überlassen. Außer destruktiver Manöver ist von dieser Gruppierung nichts zu erwarten. Die CDU muss dringend wieder damit anfangen, staatspolitische Verantwortung zu übernehmen. Viel zu lange hat sie diese Aufgabe in Thüringen schleifen lassen. Denn niemand wählt eine Partei der Sitzenbleiber.


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Racheakt im Bundestag – Rot-Rot-Grün stimmt FÜR AfD-Kandidaten

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Das politische Beben nach dem Eklat in Thüringen hält weiter an. Längst hat es auch die Bundesebene erreicht. Abgeordnete von SPD, Linke und Grüne haben sich nun zusammengetan, um der AfD eins auszuwischen. Sie setzten darauf, es den Rechtspopulisten mit gleicher Münze heimzuzahlen.

Am 5. Februar dieses Jahres kam es im Thüringer Landtag zum politischen Showdown. Der amtierende Ministerpräsident Bodo Ramelow (Linke) musste seinen Platz für den FDP-Mann Thomas Kemmerich räumen. Dabei hatten die Liberalen den Einzug in das Landesparlament nur um Haaresbreite geschafft. Der Skandal: Kemmerich wurde maßgeblich mit Stimmen aus der AfD-Fraktion ins Amt gewählt. Es folgte ein politisches Beben, das rasch auch die Bundesebene ergriff. Im Nachgang sanken die Umfragewerte für CDU und FDP nicht nur in Thüringen. CDU-Vorsitzende Annegret Kramp-Karrenbauer trat schließlich zurück.

Im zweiten Wahlgang zur Mehrheit

Der Politkrimi von Erfurt war sicherlich kein Meisterstück der AfD. Auch der Begriff „Intrige“ verbietet sich bei einer solch offensichtlichen Scharade. Führende Politiker der anderen Parteien machten darauf aufmerksam, dass ein solches Szenario die logische Konsequenz aus der Kandidatur Kemmerichs war. Sie zeigten sich fassungslos darüber, dass dieser die Wahl überhaupt angenommen hatte. Von Paktieren mit Rechtsextremen und einem politischen Tabubruch war die Rede.

Etwas ähnliches wiederholte sich nun während der letzten Sitzung des Deutschen Bundestags. Routinemäßig stellte die AfD-Fraktion einen der ihrigen erneut zur Wahl für das Amt des Parlamentsvizepräsidenten. Der sächsische Abgeordnete Karsten Hilse sah sich bereits zum zweiten Mal dem Urteil der Bundestagskollegen gegenüber – im ersten Wahlgang war er bereits wie seine glücklosen Vorgänger krachend gescheitert. Die Überraschung folgte, als Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU) das Ergebnis verlas. Insgesamt hatten 352 Abgeordnete für den AfD-Kandidaten gestimmt. Es gab 298 Nein-Stimmen und 37 Enthaltungen.

Eine mathematische Gewissheit

Der Fall ist klar: Verteilt man die 687 abgegebenen Stimmen der anwesenden Parlamentarier auf die Fraktionen, so lässt sich leicht ausrechnen, wer den AfD-Kandidaten ins Amt gehoben hat. Abzüglich der abgegebenen AfD-Stimmen deckt sich die Zahl der übrigen Ja-Stimmen mit der Zahl an anwesenden Abgeordneten aus den Reihen von SPD, Linken und Grünen. Auch wenn einzelne AfD-Abgeordnete diesen Umstand weiterhin dementieren, lässt sich diese Offensichtlichkeit nicht von der Hand weisen.

Die rot-rot-grünen Abgeordneten hatten anscheinend gehofft, Hilse würde die Wahl nicht annehmen können, wenn er so offensichtlich vom ärgsten politischen Gegner der AfD gewählt würde. Doch wie bereits im Fall Kemmerich hatten die Abgeordneten die Rechnung ohne den Ehrgeiz des designierten Kandidaten gemacht. Denn Hilse nahm die Wahl unverblümt an.

Die daraufhin entstehenden Tumulte veranlassten Parlamentspräsident Schäuble dazu, die Sitzung zu unterbrechen. Bereits unmittelbar nach Hilses Erklärung, die Wahl anzunehmen, verließen einige seiner Fraktionskollegen demonstrativ den Saal. Die pfälzische AfD-Abgeordnete Nicole Höchst ließ sich in ihrer grenzenlosen Rage sogar dazu hinreißen, den Tisch direkt vor ihr in seine Einzelteile zu zerlegen.

Himmelweite politische Unterschiede

Einige AfD-Kollegen zeigten sich zwar verunsichert, aber weniger irritiert. Vereinzelt schüttelten sie dem frischgewählten Vizepräsidenten die Hand. Auch die Fraktionsvorsitzenden Weidel und Gauland vermieden überstürzte Reaktionen und gratulierten Hilse. Empörung über die Wahl gab es auch in den anderen Fraktionen des Hauses. FDP-Chef Lindner beispielsweise trat in der Beglückwünschungsrunde zwar an Hilse heran, warf ihm dann allerdings kommentarlos den Blumenstrauß vor die Füße.

Später rechtfertigte er seine schroffe Handlung und betonte, dass er kein Verständnis dafür habe, sich von solchen Menschen ernsthaft wählen zu lassen. Er verwies auf die himmelweiten politischen Unterschiede zwischen AfD und FDP einerseits und dem rot-rot-grünen Lager andererseits.

Während der Unterbrechung der Sitzung konnte einigen Abgeordneten ein Statement zur Wahl Hilses entlockt werden. Von der AfD gab es hingegen zunächst kaum eine direkte Stellungnahme. Die meisten Abgeordneten der Fraktion wollten keine vorschnellen Kommentare abgeben, sondern lieber die von Fraktionschef Gauland bereits einberufene Sonderfraktionssitzung abwarten. Dort solle das weitere Vorgehen besprochen werden.

Nicht mit den Altparteien

Außerhalb der Bundestagsfraktion zeigte man sich weniger zurückhaltend. Verschiedene Landes- und Kommunalpolitiker der AfD drückten ihren Unmut über den Vorgang in Berlin aus. Auf Twitter verwiesen mehrere Politiker auf den Unvereinbarkeitsbeschluss der Partei, der eine Zusammenarbeit mit SPD, Linken und Grünen kategorisch ausschließe. Vereinzelt wurde sogar die Forderung nach einem Parteiausschlussverfahren gegen Hilse laut. Nach Ansicht einer Gruppe von AfD-Landtagsabgeordneten aus Sachsen sei Hilses Vorgehen nicht mit den Grundwerten der Partei vereinbar.

Viele AfDler stellen nun auch die Führungskompetenzen der beiden Fraktionschefs Weidel und Gauland offen in Frage. Weidel kommentierte die immense Kritik vorerst nicht. Einige Mitarbeiter des Bundestags beobachteten sie dabei, wie sie sich nach ersten kritischen Fragen von Journalisten mit einer Leberwurst in der Hand in ihr Büro zurückzog und dort einschloss. Ihr Kollege Alexander Gauland gab sich betont offensiv. Er kündigte knapp an, dass er sich auf einem Sonderparteitag in wenigen Wochen der Vertrauensfrage der Delegierten stellen würde.

Der neue Bundestagsvizepräsident Hilse kündigte bereits in der Sitzungsunterbrechung an, dass er sein Amt nicht antreten werde. Er gestand Fehler im Umgang mit dem politischen Gegner ein und distanzierte sich von seiner Entscheidung, die Wahl anzunehmen. Man werde es nicht zulassen, dass Rot-Rot-Grün einen Keil zwischen die Abgeordneten der AfD treiben würde.

Die AfD-Bundestagsfraktion stellt somit auch in Zukunft keinen Vizepräsidenten. Erneut wurde betont, dass eine Kooperation mit den sogenannten Altparteien weiterhin ausgeschlossen sei. Enthaltungen seien willkommen, aktive Ja-Stimmen allerdings würden als unzulässige Zusammenarbeit gewertet werden. Immerhin müsse auf die Befindlichkeiten der AfD als stärkste demokratisch gewählte Oppositionspartei eingegangen werden.

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