Weniger Sitze, weniger Repräsentanz

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Der Bundestag wächst von Wahl zu Wahl. Seit Jahren liegen verschiedene Vorschläge auf dem Tisch, wie der XXL-Bundestag wieder auf eine nachvollziehbare Größe geschrumpft werden kann. Die Regierungen der letzten Jahre waren allesamt nicht in der Lage, auch nur eines der Konzepte umzusetzen. Die Ampelkoalition hat nun eine konkrete Reform vorgelegt. Die Pläne sind mehrheitsfähig und werden den Bundestag wahrscheinlich auch verkleinern. Mit einer repräsentativen Demokratie sind sie nicht vereinbar.

In der laufenden Wahlperiode beherbergt die Reichstagskuppel 736 Abgeordnete – so viele wie nie zuvor. Die Zahl an sich ist absurd hoch. Indessen wird auch den Abgeordneten das Problem immer klarer, weil ihnen allmählich der Platz ausgeht. Zu den Sitzen im Plenarsaal kommen nämlich auch die Büros, die den Volksvertretern zustehen. Die GroKo hat echte Anstrengungen zur Verkleinerung des Parlaments eher blockiert als aktiv daran mitgewirkt. Nun will die Ampelregierung ihr Glück versuchen und eine wirksame Wahlrechtsreform zustandebringen. Als Grüne und FDP noch in der Opposition waren, klangen ihre Ideen zumindest vielversprechend.

Schwarzer Peter für die CSU

Davon geblieben ist kaum etwas. Die vorgelegte Reform benachteiligt eine Partei ganz besonders und ist nicht dazu geeignet, das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit des Bundestags zu stärken. Denn im Kern wollen die Regierungsfraktionen sämtliche Überhangmandate abschaffen. Wenn eine Partei mehr Direktmandate gewinnt als ihr nach dem Zweitstimmenergebnis zustehen, soll sie fortan auf die Zusatzmandate verzichten. Ausgleichsmandate erübrigen sich bei dieser Sitzezuteilung.

Den schwarzen Peter zieht dabei die CSU. Es verwundert daher kaum, dass gerade diese Partei gegen die Pläne von SPD, Grünen und FDP auf die Barrikaden geht. Es ist fraglich, ob sie das auch tun würde, wenn einer anderen Partei so übel mitgespielt würde. Dennoch ist der Protest der bayrischen Volkspartei berechtigt.

Die Abschaffung der Überhangmandate bedeutet im Zweifel nämlich, dass nicht mehr der stimmenstärkste Kandidat eines Wahlkreises in den Bundestag einzieht. Ein starkes Erststimmenergebnis wäre fortan keine Eintrittskarte ins Parlament mehr. In einem mittlerweile so diversifizierten Spektrum von Parteien, die Aussichten auf einen Einzug in den Bundestag haben, ist diese Entscheidung völlig verfehlt. Manche Wahlkreise gelten schon bei Ergebnissen von um die 20 Prozent als gewonnen. Mit der vorgelegten Reform könnten sogar Kandidaten mit noch niedrigerem Ergebnis als Gewinner hervorgehen, obwohl sie das eigentlich gar nicht sind. Repräsentanz kann man so etwas dann nicht mehr nennen.

Das Ende der zwei Stimmen?

Einerseits bringt diese Methode das Gleichgewicht von Erst- und Zweitstimme aus der Balance. Andererseits nimmt sie potenziell Einfluss auf die Wahlentscheidung des Einzelnen. Künftig werden sich die Wählerinnen und Wähler genauer überlegen, ob sie dem Kandidaten ihres Vertrauens die Stimme geben oder lieber dem Vertreter einer anderen Partei, weil ihre erste Wahl wahrscheinlich sowieso nicht in den Bundestag einziehen wird.

Die aktuelle Wahlrechtsreform ist daher unvollständig. Die Abgeordneten in Berlin sollten sich ehrlichmachen und in diesem Zuge das Zwei-Stimmen – Wahlsystem komplett über Bord werfen. Damit würde die Repräsentanz des Wahlergebnisses wiederhergestellt werden, weil der Kandidat der stärksten Partei aus einem Wahlkreis wahrscheinlich in den Bundestag einziehen würde.

Kleine Parteien im Nachteil

Doch ein Wahlsystem mit nur einer Stimme ist nicht der Weisheit letzter Schluss. Zwar würde weiterhin die Parteienstimme die Sitzverteilung im Bundestag bestimmen und auch die Zustimmung in den jeweiligen Wahlkreisen für die Abgeordneten eine Rolle spielen, unter der Methodik würde aber die Bindung zwischen Wähler und Mandatsträger leiden. Als „Gewählte“ könnte man die Abgeordneten dann nur noch mit zwei zugedrückten Augen bezeichnen, immerhin standen sie persönlich nie zur Wahl. Sie profitieren andererseits auch indirekt von der Zustimmung zu ihrer Partei aus anderen Wahlkreisen. Läuft eine Partei in einem Wahlkreis mit einem besonders beliebten Politiker auf und wählen dort überdurchschnittlich viele Menschen diese Partei, dann hat das auch Auswirkungen auf mögliche Abgeordnete in weit entfernten Wahlkreisen.

Auch wenn das Ein-Stimmen – Wahlrecht die Repräsentanz im Bundestag weniger verzerren würde als die vorgelegte Wahlrechtsreform, hat es noch einen weiteren nicht zu unterschätzenden Makel. Es würde nämlich besonders die kleineren Parteien benachteiligen. Die Linke beispielsweise profitiert von jeher von einer hohen Zustimmung in einzelnen Wahlkreisen. Mehr als einmal hat die Grundmandatsklausel der Partei den Einzug in den Bundestag gesichert. Solche Parteien hätten es künftig schwerer, authentische Kandidaten aufzustellen, wenn ein Einzug in den Bundestag unwahrscheinlich ist.

Symptombekämpfung

Will die Regierung die repräsentative Demokratie nachhaltig erhalten, so wird ihr nichts anderes übrigbleiben als über einen Neuzuschnitt der Wahlkreise nachzudenken. Zugegeben platzen viele Wahlkreise schon heute aus allen Nähten, aber zumindest ließe sich auf diese Weise am ehesten die Repräsentanz im Bundestag beibehalten. Sicher ist, dass die Zahl der Abgeordneten bei einer Vergrößerung der Wahlkreise zwangsläufig zurückginge, weil weniger Wahlkreise vertreten werden müssten. Gleichzeitig ließe sich so das Problem mit den Überhang- und Ausgleichsmandaten lösen: Wenn es weniger Wahlkreise zu gewinnen gibt, können auch weniger von ihnen zusätzliche Mandate erzeugen.

Das Herumdoktern an Wahlrechtssystemen ist und bleibt aber reine Symptombekämpfung. Die Politiker in Berlin sollten sich lieber darauf konzentrieren, die weitere Diversifizierung des Parteienspektrums zu bremsen. Es ist nämlich maßgeblich die steigende Zahl der im Bundestag vertretenen Parteien, die das stetige Anwachsen des Parlaments maßgeblich begünstigen. Sahnt eine Partei regional ab, könnte ihr die bittere Konkurrenz mit einer anderen Partei in anderen Wahlkreisen schwer auf die Füße fallen.


Die Pluralität von Meinungen ist ein Gewinn für unsere Gesellschaft. Solange die Regierung aber keine Politik aus einem Guss liefert, werden sich manche Menschen immer benachteiligt fühlen. Grenzt man bestimmte Sichtweisen zusätzlich aus, schafft man neue Parteien, deren Bestehen auf mehreren Ebenen schädlich für die Demokratie ist. Es gibt einen Grund dafür, warum es in der Bundesrepublik über Jahrzehnte nur drei Fraktionen im Deutschen Bundestag gab. Keiner will in die 60er oder 70er Jahre zurück. Aber vielleicht täte uns ein politischer Stil ganz gut, der an die erfolgreichsten Jahre der zweiten deutschen Demokratie angelehnt ist.


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Die Ära der Unzufriedenheit

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Festgefahrene Querdenkerdemos, brutale Übergriffe in der Silvesternacht, enttarnte Reichsbürger – Deutschland geht es nicht gut. Die Politik will gegen diese Auswüchse von Gewalt und Brutalität vorgehen und die Demokratie stabilisieren. Sie verkennt dabei, dass das Problem viel tiefer liegt. Viele Menschen haben das Gefühl, dass mittlerweile alles den Bach runtergeht. Gepaart mit dem latenten Verdacht, führende Politiker seien nicht zu 100 Prozent am Wohl des Volks interessiert, macht sich eine Stimmung des Frusts und des Argwohns breit. Immer mehr Menschen haben das Gefühl, dass sie einerseits zur angeblichen Gefahr für die Demokratie stigmatisiert werden, andererseits aktiv von Teilhabe und Mitbestimmung ausgeschlossen sind. Es steht nicht gut um unser Land.

Eskalationen in der Multikrise

2020 beherrschte uns Corona, im Folgejahr spitzte sich die Lage weiter zu. 2022 griff Russland die Ukraine an. Tod, Leid und Vertreibung waren die Folge. Die Auswirkungen des Krieges waren bis weit in Europa spürbar: Inflation, Energiekrise und gesellschaftliche Spaltung macht den Menschen zu schaffen. All diese Ereignisse trafen uns unvorbereitet und sind mit Kalenderdaten untrennbar verbunden. Die Hoffnung, dass es bald besser werden muss, überlebte nicht einmal die erste Nacht des Jahres. Nie dagewesene Ausschreitungen und Krawalle begleiteten mancherorts die Silversterfeierlichkeiten. Mit beispielloser Brutalität griffen hauptsächlich junge Menschen Rettungs- und Einsatzkräfte an. Die Gewalt war hemmungslos und völlig ohne Sinn. Es ging einzig darum, Schaden zu verursachen.

Die Neujahrsnacht 2023 ist für die wenigsten im Land repräsentativ und eignet sich doch hervorragend als Spiegel unserer Gesellschaft. Sie krankt an den Krisen unserer Zeit, auf die Politik, Wissenschaft und Wirtschaft seit vielen Jahren keine angemessenen Antworten mehr finden. Zu Jahresbeginn zeigte der Tumor aus Frust und Resignation seine hässliche Fratze.

Zeit der Unsicherheit

Die Übergriffe vom 1. Januar sind durch nichts zu rechtfertigen. Sie sind trotzdem nur die oberste Schicht einer allgemeinen Frustration, die in der Gesellschaft schon lange schwelt. Teilweise weltumspannende Krisen reihen sich seit Jahren aneinander. Die hohen Arbeitslosenzahlen zu Beginn des Jahrtausends gingen fast nahtlos über in eine Finanz- und Eurokrise, die vielen ihr Erspartes nahm. Politik und Wirtschaft bemühten sich zwar, gute Miene zum bösen Spiel zu machen, verloren durch ihre Machtlosigkeit aber viel von ihrer Glaubwürdigkeit.

Die Stimmung während der Flüchtlingskrise kippte bei vielen von einer allgemeinen Aufnahmeeuphorie in einen regelrechten Sozialneid mit den Geflüchteten. Corona brachte nicht wenige um ihre Existenz. Wer nicht das Privileg hatte, ins Home Office ausweichen zu dürfen, fürchtete in Kurzarbeit oder Beschäftigungsverbot um seine berufliche Zukunft. Die außer Kontrolle geratenen Energie- und Lebensmittelkosten treiben viele Menschen an den Rand der Verzweiflung. Nicht jeder sieht mehr den Zusammenhang zwischen Krieg in der Ukraine und den Preisschildern im Supermarkt. Eine Stimmung aus Misstrauen und Argwohn hat sich längst unter die allgemeine Frustration gemischt.

Blockierter Protest

Die Menschen haben mittlerweile immer häufiger das Gefühl, sie können sich auf nichts mehr verlassen. Vieles scheint von Zufall und Glück abhängig zu sein. Briefe kommen nicht oder nur mit erheblicher Verspätung ans Ziel, weil die Post schlechte Arbeit macht. Bus- und Bahnfahren wird besonders für Pendler immer mehr zur Hölle. Möchte man seine Hausapotheke aufstocken, um gegen die nächste Erkältungswelle gewappnet zu sein, sind selbst einfachste Arzneimittel in der Apotheke nicht mehr verfügbar. Noch größere Probleme machen die Lieferengpässe natürlich bei Behandlungen gegen Krebs oder andere lebensbedrohliche Krankheiten. Gepaart mit obskuren Vorschlägen aus der Ärzteschaft verlieren die Menschen völlig den Glauben an Vernunft und Verstand.

Man könnte zwischenzeitlich der Idee verfallen, die Politik wollte die Leidensfähigkeit der Menschen testen. Denn breite Demonstrationen und Proteste gegen den gegenwärtigen Politikstil gibt es nicht. Wenn die Menschen doch auf die Straße gehen und sich Querdenkerdemos anschließen, werden sie in die rechte Ecke gestellt und verlacht. Es ist kein Wunder, dass unter diesen Bedingungen kein wirkungsvoller Protest entstehen kann, wenn er von bestimmten politischen Strömungen nicht initiiert wird.

Politik als Schmierentheater

Viele Menschen fühlen sich den Entscheidungsträgern aus Politik und Wirtschaft hilflos ausgeliefert. Immer mehr haben sie das Gefühl, „die da oben“ machten Politik nur für sich selbst oder um irgendwelche lästigen Verpflichtungen aus Koalitionsverträgen zu erfüllen. Die Antwort auf steigende Lebenshaltungskosten klammerte Rentner und Studierende zunächst komplett aus. Selbst die Union kritisierte das und schließlich wurde nachgebessert.

Doch auch CDU und CSU haben sich in ihrer mittlerweile gut einjährigen Oppositionskarriere nicht gerade mit Ruhm bekleckert. Das Schmierentheater, das sie bei der Einführung des Bürgergelds aufführten, war ein Schlag ins Gesicht für alle Menschen, die sich nach Kräften abmühen, aus der Arbeitslosigkeit wieder herauszukommen. Endlich waren Verbesserungen für Menschen in prekären Verhältnissen zum Greifen nah. Doch die Union nutzte lieber ihre Mehrheit im Bundesrat, um selbst diese paar Korrekturen wieder einzukassieren.

Es ist immer das gleiche: Geht es um Maßnahmen, die der Mehrheit der Menschen im Land wirklich etwas bringen, mahlen die politischen Mühlen besonders langsam. Es ist gut, wenn tiefgreifende Maßnahmen angemessen diskutiert werden. Das Rumgeeiere beim Deutschlandticket ist aber ein Tiefpunkt in der politischen Geschichte der Bundesrepublik. Monatelang wurde die Eintrittskarte in den beinahe kostenlosen ÖPNV als 49-Euro – Ticket vermarktet. Damit war eigentlich schon alles gesagt: Nicht die entlastende Wirkung des Tickets stand im Vordergrund, auch nicht der Zeitpunkt der Einführung, sondern die Kosten, die damit verbunden waren. Eine Schande.

Unrepräsentative Demokratie

Unsere Demokratie funktioniert nicht mehr – zumindest nicht für jeden. Gewalttätige Ausschreitungen, routinemäßige Querdenkerdemos, Umsturzpläne der Reichsbürger – all diese besorgniserregenden Entwicklungen deuten darauf hin. Daneben gibt es einen beträchtlichen Teil von Bürgerinnen und Bürgern, die sich von keiner der etablierten politischen Parteien mehr angesprochen fühlen. Wenn sie überhaupt noch wählen, entscheiden sie sich für das kleinste Übel. Was für ein Armutszeugnis für jede Demokratie!

Immer mehr Menschen in Deutschland haben keine politische Vertretung mehr. Manche bleiben daher den Wahlen ganz fern. Sie hören auf, sich politisch zu äußern und werden deswegen im politischen Spektrum nicht mehr erfasst. Oft sind das einkommensschwache Menschen, die vielleicht alleinerziehend oder seit längerem arbeitslos sind. Viele Menschen mit gesichertem oder sogar sehr hohem Einkommen gehen dafür umso häufiger zur Wahl. Sie artikulieren ihre politischen Interessen und bekommen in vielen Fällen, was sie bestellt haben. Ein Teufelskreis, der nur schwer zu durchbrechen ist.

Parteien wie die FDP und die Grünen haben es somit besonders leicht. Sie punkten besonders bei Gutverdienern in den Städten. Viele ihrer Wähler fahren ein E-Auto. Bei der letzten Bundestagswahl erreichten gerade die Grünen mit 14,8 Prozent das beste Ergebnis ihrer Parteigeschichte. Wenn aber immer mehr Geringverdiener nicht mehr zur Wahl gehen, verliert ein solches Ergebnis an Repräsentanz. In einer gesunden Demokratie lägen die Grünen heute vermutlich nicht bei knapp 15, sondern nur bei 10 Prozent.

Die Klientelisierung der Politik

Im Vorfeld der Bundestagswahl wurde viel über das Selbstverständnis von Volksparteien gesprochen. Erstmals traten im Kanzlerduell nicht nur CDU und SPD gegeneinander an. Auch Annalena Bearbock (Grüne) war stets bemüht, das Bild einer künftigen Volkspartei zu zeichnen. Niemand nahm ihr das so recht ab. Es gibt dafür auch einen einfachen Grund: Auf Bundesebene sind die Grünen weiterhin eine Klientelpartei. Sie fokussieren sich auf die Interessen bestimmter Milieus und können daher nicht glaubwürdig den Anspruch einer Volkspartei vertreten.

Verfällt eine Nischenpartei dieser Versuchung doch, dann geht das nur, wenn sie bestimmte Wählergruppen ausschließt und ihre eigene Klientel zur Mehrheit erhebt. Das tut einer Demokratie auf Dauer nicht gut. Es ist nicht die Mehrheit. Leider schließen sich auch die ehemaligen Volksparteien diesem Trend an. Ihre sinkenden Zustimmungswerte haben sie dem Anspruch darauf, eine Volkspartei zu sein, sowieso beraubt. Anstatt sich die Zustimmung in der Bevölkerung durch ehrliche und bürgernahe Politik zurückzuerkämpfen, richten sie sich lieber in der Rolle einer Klientelpartei ein, die nur vorgibt, für das ganze Volk zu stehen.

Die Auswahl wird dadurch diverser, aber keinesfalls einfacher. Immer mehr Menschen fühlen sich durch einen solchen Politikstil verprellt. Tun sie ihren Protest kund, werden sie oftmals verlacht und beschimpft. Mit der Klientelisierung der Politik kommt leider auch die Spaltung. Es ist naiv, dabei an nur zwei Seiten zu denken, die auseinanderbrechen. Die politische Spaltung in Deutschland kennt nicht nur eine Richtung. Das Stadium der Polarisierung ist vorüber. Die politische Landschaft gleicht einem Scherbenhaufen.


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Ein linkes Problemkind?

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Krise bei den Linken: Mit seinen Äußerungen zur militärischen Unterstützung der Ukraine hat der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow eine Grundsatzdebatte losgetreten. Viele Mitglieder der Partei wenden sich entsetzt ab – in den letzten Tagen kam es verstärkt zu Parteiaustritten. Andere halten dem umstrittenen Politiker treu die Stange. Die Belastbarkeit der Partei wird erneut auf die Probe gestellt.

Ein Ministerpräsident schießt quer

Der thüringische Ministerpräsident Bodo Ramelow (Die Linke) begrüßt die Lieferung von Waffen an die Ukraine zur militärischen Unterstützung gegen Russland. Mit diesem Kurswechsel stößt der Politiker nun auf heftigen Gegenwind aus der eigenen Partei. Gegen die Ideen von Ramelow gehen einige seiner Genossinnen und Genossen regelrecht auf die Barrikaden. Sie werfen ihm eine Spaltung der Partei aus machtpolitischem Kalkül vor.

Die Kritik aus den eigenen Reihen reicht von bissigen Kommentaren in den sozialen Medien bis hin zu Parteiaustritten, die seit Ramelows Äußerungen spürbar in die Höhe schnellten. Mehre Linke-Abgeordnete, darunter auch Mitglieder der Fraktion im Erfurter Landtag, werfen dem Ministerpräsidenten eine Sozialdemokratisierung der Partei und eine geschmacklose Anbiederung an potentielle künftige Koalitionspartner vor. Vereinzelt fordern manche explizit den Rücktritt des Thüringer Regierungschefs oder legen ihm einen Parteiaustritt nahe. Nach ihrer Auffassung habe er nach seinen jüngsten Äußerungen nichts mehr in der Partei verloren.

Ähnlich sieht es auch die Linksjugend solid. Die Jugendorganisation hat sogar eine Petition gestartet, mit der sie ein Parteiausschlussverfahren erwirken möchte. Eine Sprecherin sieht in den Äußerungen Ramelows einen Bruch mit dem Grundsatzprogramm der Partei: „Was Bodo Ramelow gesagt hat, ist in einer pazifistischen Partei untragbar. Mit seinen Äußerungen kann er sich zu den Kriegstreibern von Grünen und CDU gesellen.“

Umstrittener Regierungschef

Die radikale Reaktion der Jugendorganisation trifft in der Gesamt-Partei auf breite Unterstützung. Aus der Parteizentrale hieß es am Montag knapp: „Die Äußerungen von Bodo Ramelow spiegeln nicht die Meinung der Partei Die Linke wider. Waffenlieferungen lehnen wir strikt ab.“

Seit längerem ist Ramelow der Führung der Partei ein Dorn im Auge. Sie wirft ihm vor, durch seinen Kurs Wähler vertrieben zu haben, die sich eine deutlich linkere Partei wünschten. Unter Ramelow, so die Spitze der Partei, habe sich Die Linke immer weiter Richtung Mitte bewegt und sei heute praktisch nicht mehr von SPD und Grünen unterscheidbar. Die beiden Koalitionspartner habe er damit kaputtregiert und müsse nun nach neuen Bündnissen Ausschau halten. Auch den Skandal um das Spiel Candy Crush haben viele in der Partei noch nicht verdaut.

Petition und Gegenpetition

Auf eine mögliche Spaltung seiner Partei angesprochen, hat Ramelow selbst seine Positionen immer wieder verteidigt. Seiner Ansicht nach müsse man die Lage ideologiefrei und ohne Denkverbote bewerten. Mit Russland habe man es mit einer Atommacht zu tun, der nur mit konsequenter Härte begegnet werden könne. Die schnelle Beendigung des Kriegs und des Sterbens habe für ihn oberste Priorität. Nichts liege ihm mehr am Herzen als die Leben der Menschen, die unter dem Krieg leiden.

Die Berichterstattungen über die Kritik an seinen Äußerungen hält der Politiker für überzogen. Er gesteht ein, dass es eine Strömung in seiner Partei gibt, die an Abrüstungsfantasien und Diplomatie festhalte und damit die westlichen Werte von Frieden und Freiheit verrate. Diese Strömung hält er für überrepräsentiert, weil sie die Gesamtmeinung der Partei nicht authentisch wiedergebe. Laut eigenen Angaben genieße er enormen Rückhalt in der Partei. Neben der Petition, die seinen Ausschluss aus der Partei fordert, gebe es eine weitere Petition, die sich für seine Ansichten starkmacht. Er bedauert, dass darüber fast gar nicht berichtet würde. Auf die Namen der ihn unterstützenden Mitglieder und Abgeordneten angesprochen, reagiert er bislang ausweichend und macht keine näheren Angaben dazu.

Fakt ist, dass es tatsächlich eine Gruppe von Abgeordneten im Thüringer Landtag gibt, welche die Positionen des Ministerpräsidenten unterstützen. Das sogenannte Ramelow-Lager macht bereits seit Jahren durch Provokationen und gezielte Grenzüberschreitungen von sich reden. Die Parteiführung macht Ramelow unter anderem für das starke Abschneiden der AfD bei der Landtagswahl in Thüringen 2019 verantwortlich. Die rechtsextreme Partei war dort deutlich zweitstärkste Kraft geworden.

Fataler Zeitpunkt

Einige Mitglieder des Parteivorstands, aber auch Abgeordnete aus dem Bundes- und den Landtagen kritisieren Ramelow außerdem für den Zeitpunkt seiner Äußerungen. „Wir sitzen nicht in vielen westdeutschen Parlamenten. Eine solche Debatte gerade einmal ein halbes Jahr vor der Bremenwahl vom Zaun zu brechen, ist absolut destruktiv“, lässt sich ein Parteimitglied zitieren, das lieber anonym bleiben möchte.

Auch Politikwissenschaftler schlagen Alarm. Sie sehen die Gefahr, dass Die Linke aus den wenigen westdeutschen Landesparlamenten, in denen sie vertreten ist, wieder herausgewählt werden könnte. Prof. Dr. Ingmar Schneck von der Universität Freiburg warnt deshalb eindringlich: „Sollte die Parteiführung den schwelenden Zwist zwischen dem Ramelow-Lager und dem Rest der Partei nicht in den Griff bekommen, droht der Partei bei anstehenden Wahlen ein Debakel.“

Aus der offiziellen Erklärung des Parteivorstands heißt es weiterhin, dass die umstrittenen Äußerungen von Bodo Ramelow noch mehr Menschen zu „kriegstreibenden Parteien wie CDU und Grünen“ führen würden. Laut Einschätzung des obersten Gremiums der Partei würde sich Die Linke damit überflüssig machen. Entsprechend laut ist schon jetzt der Zuspruch, den Ramelow von Vertretern der genannten Parteien erhalten hat.

Beispielsweise wurde von den Grünen jüngst ein Motiv für geplante Wahlkampfplakate zur Bremenwahl geleaked. Auf dem Plakat ist die Silhouette von Bodo Ramelow zu sehen. In weißen Lettern steht auf grünem Grund geschrieben: „Bodo hat recht.“ Ramelow selbst ließ verlauten, gegen diese Vereinnahmung seiner Position gerichtlich vorzugehen. Er erklärte außerdem sinngemäß, man könne vernünftige Argumente nicht in Grund und Boden stampfen, weil die gegnerische Seite dazu applaudiert.


Es zeichnet sich ein Richtungsstreit bei den Linken ab. Welche Seite sich behaupten wird, werden die nächsten Monate zeigen. Momentan behält die Parteiführung noch die Oberhand, aber spätestens nach der Bürgerschaftswahl in Bremen wird sich die Partei erneut mit der Ramelow-Frage beschäftigen müssen.

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