Auf wackeligen Beinen

Nach der Landtagswahl in Sachsen-Anhalt im Juni waren lange Koalitionsverhandlungen vorprogrammiert. Die Mehrheit aus CDU und SPD war so knapp, dass Rainer Haseloff sein Kabinett um die FDP erweiterte. Der Preis für so viel Kompromissbereitschaft ließ nicht lange auf sich warten: Haseloff gelang es erst im zweiten Wahlgang, sich zum Ministerpräsidenten wiederwählen zu lassen. Der Weg des neuen alten Regierungschefs ist nicht alternativlos: Eine Bündelung der demokratischen Kräfte wäre auch anders denkbar gewesen.

Munteres Zahlenspiel

Seit vergangenem Donnerstag ist es offiziell: Das Land Sachsen-Anhalt hat eine neue Regierung. Ministerpräsident bleibt Rainer Haseloff von der CDU. Er führt das Land fortan mit einer Deutschlandkoalition mit SPD und FDP. Wie bereits in Thüringen vor anderthalb Jahren zeichnete sich bereits am Wahlabend am 6. Juni ab, dass es zu langen Sondierungs- und Koalitionsverhandlungen kommen würde. Klarer Wahlsieger war zwar Haseloffs CDU, doch gestaltete es sich schwierig, die Bedürfnisse aller Koalitionspartner unter einen Hut zu bringen.

Umso erstaunlicher ist nun, dass es Ministerpräsident Haseloff gelungen ist, sich aus drei unterschiedlichen Lagern zum Regierungschef wählen zu lassen – wenn auch erst beim zweiten Anlauf. Immerhin ist die Regierungsbeteiligung der FDP rein rechnerisch überhaupt nicht vonnöten. Die CDU in Sachsen-Anhalt käme auch allein mit der SPD auf eine absolute Mehrheit. Die beiden Parteien stellen im Magdeburger Landtag derzeit 49 von 97 Sitzen, also genau die Anzahl an Mandaten, die für eine Mehrheitsbildung nötig ist.

Alles für die Mehrheit

Die Liberalen wurden als reiner Stabilitätsfaktor mit ins Boot geholt. Der erste Wahlgang vom Donnerstag zeigte, dass dieser Puffer eine gute Investition für Rainer Haseloff war. Selbst mit dieser breiten Mehrheit gelang es ihm zunächst nicht, auf die absolute Mehrheit zu kommen. Wie wäre der Wahlgang wohl ausgegangen, wenn die FDP nicht gewesen wäre?

Vermutlich hätte Haseloff eine noch herbere Niederlage einstecken müssen. Trotzdem ist es durchaus bedenklich, dass die rechnerische Mehrheit zulasten der Opposition erweitert wird. Rainer Haseloff mag die Landtagswahl zwar haushoch gewonnen haben, trotzdem verteilten sich abweichende Meinungen auf insgesamt fünf Parteien. Es ist nicht demokratisch, diese Vielfalt an Widerspruch durch Mehrheitsbeschaffungsmaßnahmen ungerecht kleinzuhalten.

Weniger Opposition, mehr AfD

Es ist nämlich einerseits keine Selbstverständlichkeit für die FDP, überhaupt in den Landtag eines ostdeutschen Bundeslands gewählt worden zu sein. Seit der Wiedervereinigung hatten es die Liberalen eher schwer, in diese Parlamente einzuziehen. Das Vertrauen der Wählerinnen und Wähler nun dazu zu nutzen, um auf Teufel komm‘ raus in der Regierung zu sitzen – das ist für die FDP schon einmal nach hinten losgegangen.

Diese Schwächung der Opposition hat aber noch einen anderen Effekt. Die Oppositionsführerin AfD hat nach der Fahnenflucht der FDP nun noch mehr Gewicht. Mit einem Konkurrenten weniger in der Opposition wird es ihr noch leichter fallen, sich als einzige wählbare Alternative zu gerieren.

Dokumentierte Treue

Über ihren vermeintlichen Wahlsieg im Juni kann sich die CDU also nach wie vor nicht freuen. Der Abstand zur AfD ist zwar größer als erwartet, doch besonders in der CDU brodelt ein Richtungsstreit, der Haseloff einige Stimmen gekostet hat. Großes Streitthema in der Fraktion ist der Umgang mit der AfD. Haseloffs Brandmauerpolitik gefällt nicht jedem. Dieser Zwist wird einer der Gründe dafür sein, warum Haseloff im ersten Wahlgang insgesamt acht Stimmen abhandengekommen sind.

Um sich keinem falschen Verdacht auszusetzen, sah sich mindestens ein Abgeordneter der CDU beim zweiten Wahlgang dazu genötigt, seinen Stimmzettel mit dem Kreuz für Rainer Haseloff zu fotografieren. Diesen fragwürdigen Treueschwur nutzen die Grünen nun dazu, um gegen die Wahl vorzugehen. In jedem Fall verdeutlicht dieser Vorgang den Riss, der durch die CDU-Fraktion in Sachsen-Anhalt geht.

Auf wackeligen Beinen

Die wackelige Mehrheit, auf die sich Rainer Haseloff beruft, ist kein neues Phänomen. Seit Jahren verlieren rechnerische Mehrheiten nach Parlamentswahlen an Bedeutung. Immer wieder mussten gestandene Politiker erleben, wie sie von Gefährten aus den eigenen Reihen zu Fall gebracht wurden. Erinnert sei hier nur an den traurigen Fall von Heide Simonis (SPD). Einer der ihren verweigerte ihr in insgesamt vier Wahlgängen die Unterstützung und führte damit die ehemalige Ministerpräsidentin von Schleswig-Holstein vor.

Auch die scheidende Bundeskanzlerin Angela Merkel musste die Erfahrung machen, dass ihre Koalition nicht geschlossen hinter ihr steht. Bei ihrer Wiederwahl zur deutschen Bundeskanzlerin am 14. März 2018 fehlten ihr insgesamt 35 Stimmen. Selbst bei einer Großen Koalition ist diese Differenz bemerkenswert.

Eine Regierung für alle?

Diese unsteten Mehrheiten zeigen, dass es den Parteien zunehmend schwerfällt, die politischen Kräfte in klassischen Mehrheitskoalitionen zu bündeln. Oft wird in diesem Atemzug die AfD genannt, die die politische Ordnung durcheinanderbringt. Man rechtfertigt übergroße Koalitionen wie in Sachsen-Anhalt damit, dass sich die demokratischen Parteien gegen die AfD zusammenschließen müssten.

Die Verteidigung der Demokratie ist durchaus eine wichtige Aufgabe aller demokratischen Parteien. Eine Regierung sollte aber nicht nur den Kampf gegen die Undemokraten in einer Gesellschaft im Blick haben, sondern vor allem die Bedürfnisse der breiten Mehrheit. Bei zu großen Regierungskoalitionen schauen viele Menschen schnell in die Röhre. Unter dem Vorzeichen des Kompromisses ist es der Politik dann nicht mehr möglich, der politische Vielfalt in der Bevölkerung angemessen Rechnung zu tragen.

Angewandte Demokratie

Im übrigen könnten die Parteien der AfD auch ohne künstlich erzeugte Mehrheiten etwas entgegensetzen. Jenseits von Regierungsmehrheiten ist ein Zusammenschluss in Einzelfragen durchaus möglich. Das Stichwort ist hier „Toleranz“. Diese Toleranz kann sogar so weit gehen, dass die Parteien eine Regierung akzeptieren, die auf keine parlamentarische Mehrheit kommt. In Sachsen-Anhalt könnte davon besonders die FDP profitieren, die weiterhin keine Abstriche aus Rücksicht auf eine Koalition nehmen müsste.

Solche Minderheitsregierungen würden dem Wunsch vieler Menschen im Volk entsprechen. Die Parteien müssten wieder echte Überzeugungsarbeit leisten. Es würde wieder eine lebendige Diskussion stattfinden. Die Hetzer von rechts hätten es schwerer, vom politischen Einheitsbrei zu faseln. In Zeiten, in denen es immer schwerer wird, stabile Mehrheiten zu bilden, wäre eine solche Lösung ein wahrer Gewinn für die Demokratie. Dieser Weg wäre ausdrücklich kein Einknicken vor der AfD. Viel eher würde man den Wunsch in der Bevölkerung nach Unterscheidbarkeit der Parteien ernstnehmen. Im Kampf für die Demokratie helfen keine Machtdemonstrationen. Es braucht Demokratiedemonstrationen.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Posttraumatische Regierungsstörung

Lesedauer: 6 Minuten

Die SPD hat es in den letzten Jahren nicht leicht gehabt: miserable Wahlergebnisse, unterirdische Umfragewerte und ein Koalitionspartner, der sie an der kurzen Leine hält. All das haben sich die Sozen sicher anders gewünscht. Und eine Zeit lang war diese Option auch zum Greifen nah. Hätten andere nicht in letzter Minute einen Rückzieher gemacht, hätte sich die SPD in der Opposition einrichten können. Dieses Jamaika-Trauma hat die Partei bis heute nicht verkraftet.

Zu früh gefreut

Wir erinnern uns: Nach der Bundestagswahl 2017 schauten mehrere Parteien dumm aus der Wäsche. Die Wahlbeteiligung war zwar leicht gestiegen, aber die Wählerinnen und Wähler haben ihre Stimmen dazu genutzt, um die etablierten Parteien abzuwatschen. Besonders heftig traf es dabei die regierungsführende Union und die mitregierende SPD. Letztere fuhr wiederholt ein historisch schlechtes Ergebnis ein. Der damalige Vorsitzende Martin Schulz erklärte noch am Wahlabend, dass die SPD in die Opposition ginge.

Diesen Gefallen machte das Schicksal dem Parteichef allerdings nicht. Nach Wochen zäher Sondierungsgespräche brach die FDP die Verhandlungen schließlich ab. Jamaika war vom Tisch. Und das obwohl Martin Schulz der FDP noch am Wahlabend prophezeit hatte: „Frau Merkel wird Ihnen sehr weit entgegenkommen.“ Anscheinend war FDP-Chef Lindner aber nicht dazu bereit, sich ebenfalls zu bewegen. Eine neue Regierung war wieder in weite Ferne gerückt. Alternative Koalitionsmöglichkeiten waren Mangelware. Kanzlerin Merkel sollte rechtbehalten: Gegen die Union konnte keine Regierung gebildet werden.

Vom Regen in die Traufe

Kurz flammte die Option Minderheitsregierung auf. Aber auch diese Konstellation war nicht realisierbar. Merkel wollte es nicht in Kauf nehmen, eventuell erst im dritten Wahlgang gewählt zu werden. Immerhin hätte das als Zeichen der Schwäche gewertet werden können. Kaum ist die AfD im Bundestag, kommt es zur ersten Minderheitsregierung in der bundesdeutschen Geschichte.

Auch praktisch wäre eine Minderheitsregierung nur schwer zustandegekommen. Das einzige halbwegs realistische Szenario wäre Schwarz-Gelb gewesen. Dazu hätte die SPD ihre Abgeordneten allerdings dazu bringen müssen, sich geschlossen zu enthalten. Die Füße stillhalten, um Union und FDP, den natürlichen Fressfeind von sozialer Politik, ins Amt zu hieven? Sicherlich ausgeschlossen für viele Sozialdemokraten.

Und so stand die SPD vor einer wahrlich schweren Entscheidung. Will sie erneut als Vaterlandsverräter dastehen oder der AfD die Oppositionsführung überlassen? Beides keine sehr verlockenden Aussichten. Die Sozialdemokraten befanden sich in einer äußerst schwierigen Situation. Kaum hatten die Mitglieder das katastrophale Wahlergebnis halbwegs verdaut, da stand schon wieder die GroKo vor der Tür. Dabei war es doch die ständige Kooperation mit der Union, die der SPD dieses niederschmetternde Ergebnis beschert hatte.

Die Handschrift der SPD

Den meisten Sozen muss klargewesen sein: Noch einmal vier Jahre GroKo könnte der Partei noch erheblicher schaden. Trotzdem war die große Koalition der einzige Weg, zu einer stabilen Mehrheitsregierung zu kommen. Und wie würde das Land wohl aussehen, ließe man eine Minderheitsregierung vier Jahre lang rumwurschdeln? Die letztendliche Entscheidung darüber machte sich die SPD nicht leicht. Mit einer Urabstimmung fragte sie alle ihre Mitglieder nach deren Meinung. Knapp ein Viertel der Mitglieder entzog sich dieser wegweisenden Entscheidung. Die Jusos riefen zum Boykott der GroKo durch neue Parteibeitritte auf. Die Zwickmühle der SPD war offensichtlich.

Doch das Votum der Mitglieder war klar: Fast zwei Drittel stimmten für Koalitionsverhandlungen mit der Union. Man drängte aber auf eine planmäßige Zwischenbilanz nach Ablauf der halben Legislaturperiode. Vielen war außerdem wichtig, dass der Koalitionsvertrag dieses Mal eine klar erkennbare sozialdemokratische Handschrift trüge. Ob die SPD dies wirklich durchsetzen konnte, muss jeder selbst entscheiden. Die Partei lässt aber weiterhin keine Gelegenheit aus, diese sozialdemokratische Zielrichtung des Vertrags zu betonen. Mit plakativen Gesetzestiteln wie dem Gute-KiTta – Gesetz möchten sie ihre Politik einer breiten Öffentlichkeit näherbringen. Fast obsessiv feiern die Sozen jeden noch so kleinen Erfolg, der sich in irgendeiner Weise in ein SPD-Bonbonpapier wickeln lässt.

Voll krass

Um wenigstens einige ihrer Herzensangelegenheiten umsetzen zu können, musste die SPD mehr als eine Kröte schlucken und so manche schmerzhafte Konzession machen. Trotzdem war die SPD bereit dazu, Verantwortung zu übernehmen. Im Endeffekt aber badet die Partei nur die Verfehlungen anderer aus. Dass es überhaupt wieder zu einer großen Koalition kommen musste, verdanken wir nicht zuletzt Union und FDP. Während die einen zu stur waren, einer Minderheitsregierung eine Chance zu geben, waren die anderen zu feige für eine Regierungsbeteiligung.

Die Zeche dafür zahlt die SPD. Hätten andere nicht gekniffen, wäre der ältesten Partei Deutschlands dieses fragwürdige Trauerspiel erspart geblieben. Man kann den Genossinnen und Genossen einiges vorwerfen, aber Drückeberger sind sie nicht. Um Verantwortung für das Land zu übernehmen, nahmen sie sogar die jetzigen Umfragewerte in Kauf – und die sind wirklich mehr als blamabel. Den wirklichen Drückebergern blieb ein solches erspart. Die Grünen profitieren von der Klimabewegung, Corona pushte die Union, die FDP ist aus anderen Gründen im Keller. Nur die SPD leidet weiter am Jamaika-Trauma.

Bei einer Rede am 2. Oktober im Bundestag sagte die Grünen-Fraktionsvorsitzende Göring-Eckhart in Richtung der Regierung: „Machen ist wie Wollen, nur krasser.“ Ihre Partei hatte die Chance, diese krasse Erfahrung zu machen. Anderen nun generell Zauderei vorzuwerfen, mutet dann schon eher zynisch an.


Mehr zum Thema:

Von Rassismus und Hypermoral

Mit Wumms in den Abgrund

Wider die Demokratie – Der Fehler GroKo

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Ohne Ausgleich

Lesedauer: 9 Minuten

Nach zähen Verhandlungen hat sich die Regierungskoalition vergangene Woche nicht nur auf eine Verlängerung des Kurzarbeitergelds geeinigt. Auch eine Reform des Wahlrechts nimmt die Regierung nun endlich in Angriff. Der Kompromiss von Union und SPD ist allerdings mehr als enttäuschend. Herausgekommen ist eine Lösung, die vor allem die CSU pusht, während die Opposition in die Röhre schaut. Der Ausblick auf eine umfassendere Reform bis 2025 klingt daneben wie ein schlechter Witz.

Das verflixte siebte Jahr

Paukenschlag. Mit dem kürzlich beschlossenen ersten Schritt zu einer Wahlrechtsreform hat die Bundesregierung nun endlich ein Projekt praktisch in Angriff genommen, das bereits seit 2013 theoretisch auf dem Tisch liegt: eine Reform des Wahlrechts. Die ganz Schlauen werden bemerkt haben, dass das exakt die Zeit ist, seit der die GroKo am Drücker ist. Sieben Jahre lang passierte aber so gut wie nichts. Doch selbst die Große Koalition muss nun einsehen, dass 709 Abgeordnete im Bundestag jeglichen Rahmen sprengen und es den Bürgerinnen und Bürgern nicht zu erklären ist, warum der nächste Bundestag im Zweifelsfall mehr als 800 Abgeordnete beherbergen sollte.

Aus der letzten Wahlperiode hat die Opposition wohl gelernt, dass von der Regierung bei diesem Thema ganz bestimmt kein großer Wurf zu erwarten ist. Deswegen setzten es drei der vier Oppositionsfraktionen in der laufenden Legislaturperiode immer wieder auf die Tagesordnung. Und weil die Opposition nun einmal Opposition ist, werden ihre Vorschläge von der Regierung natürlich abgelehnt.

Doch weil man vor einer Horde von mehr als 700 Abgeordneten nicht mehr die Augen verschließen konnte, stand die Regierung zuletzt unter dringendem Zugzwang. Nachdem es gerade der Unionfraktion gelungen war, das Thema sieben Jahre lang zu verschleppen, kommt die Einigung nun sogar noch später als auf den sprichwörtlich letzten Drücker. Denn bereits im Frühjahr wies die Opposition darauf hin, dass eine Entscheidung allerspätestens bis zur parlamentarischen Sommerpause 2020 vorliegen müsste. Andernfalls wäre eine deutliche Verkleinerung des Parlaments ausgeschlossen. Und genau so wird es jetzt auch kommen. Der von der Regierung beschlossene erste Schritt ist bestenfalls dazu geeignet, eine Vergrößerung des Bundestags bedingt zu verhindern. Deutlich kleiner wird er durch diesen Tippelschritt aber nicht.

Verweigerung mit Ankündigung

Der Kompromiss der Regierungskoalition sieht vor, dass eine bestimmte Anzahl von Überhangmandaten nicht mehr ausgeglichen wird. Diese Entscheidung nimmt also nur Einfluss auf die Stimmauszählung im September 2021, nicht aber auf die generelle Richtgröße des Bundestags. Sie ist also bloße Symptombekämpfung und wenig nachhaltig. Erst im zweiten Schritt zur Bundestagswahl 2025 soll ein Konzept folgen, das die Anzahl an Abgeordneten wieder auf ein erträgliches Maß senken soll. Die Bundesregierung hat also erneut vier Jahre lang Zeit, das Problem zu verschleppen und am Ende wieder nicht zu lösen. Vielleicht werden dann bei der Wahl 2025 noch mehr Überhangmandate nicht ausgeglichen.

Der Koalitionsausschuss beriet in der gleichen Sitzung übrigens auch über die Verlängerung einiger Corona-bedingten Maßnahmen. Das prominenteste Ergebnis ist bestimmt die Verlängerung des Kurzarbeitergelds. Gerade weil mit Union und SPD zwei im Prinzip grundverschiedene Fraktionen in der Regierung sitzen, waren zähe Verhandlungen vorprogrammiert. Es ist allerdings schon ziemlich bedenklich, dass die Parteien diese Diskussion schneller abgefrühstückt haben als die Wahlrechtsreform. An diesem Punkt saßen sie in der Sitzung nämlich wesentlich länger.

Die Koalition muss über ein an und für sich so untergeordnetes Thema also länger diskutieren als über einschneidende arbeits- und wirtschaftspolitische Maßnahmen. Denn die Wahlrechtsreform ist doch nur deshalb so dringend, weil sie seit Jahren verschleppt wurde. Selbst FDP, Linke und Grüne sind einvernehmlich – und vor allem schneller – zu einem Kompromiss gekommen. Ganz offensichtlich ist selbst diese unübliche Konstellation inzwischen handlungsfähiger als die Bundesregierung.

Ungleiche Wahl

Aber natürlich ist das Thema Wahlrechtsreform für den gemeinen Parlamentarier existenzbedrohender als die Weiterzahlung von Kurzarbeitergeld. Die Wahrscheinlichkeit, dass einer der Entscheidungsträger von Kurzarbeitergeld abhängig sein wird, ist verschwindend gering. Die nächste Bundestagswahl aber kommt bestimmt. Und da will man natürlich das beste für sich rausholen. Alles eine Frage der Motivation.

Geht es nach der Bundesregierung, sollen bei der kommenden Wahl im nächsten Jahr drei Überhangmandate nicht mehr durch Ausgleichsmandate kompensiert werden. Die Nachteile dieser Überlegung liegen auf der Hand. Vor allem die Unionsfraktion profitiert von der großen Anzahl an Überhangmandaten. Würden diese nicht mehr ausgeglichen werden, stünde diese Fraktion besser da als die übrigen Fraktionen. Das ist mit dem Gleichheitsprinzip der Wahl nicht vereinbar. Denn zwangläufig würden Stimmen für die jetzige Opposition dadurch entwertet werden. Wer für AfD, FDP, Linke oder Grüne stimmte, der hätte bei der Wahl 2021 weniger Einfluss als solche Wähler, die CDU, CSU oder SPD wählten.

Gegen den Wählerwillen

Die Zahl 3 klingt dabei harmloser als sie letztendlich ist. Denn drei nicht auszugleichende Überhangmandate heißen nicht automatisch, dass es nur drei Sitze weniger gibt. Ein einzelnes Überhangmandat kann zu mehreren Ausgleichsmandaten führen. Es ist also zu erwarten, dass bei dem jetzt vorgeschlagenen Konzept alle Oppositionsfraktionen den schwarzen Peter ziehen werden. Denn eine Kappung der Ausgleichsmandate verzerrt das Zweitstimmenergebnis immer.

Das könnte weitreichende Folgen für die kommende Wahl haben, aber auch für die Demokratie an sich. Wer mit der jetzigen Regierung nicht einverstanden ist, der wählt natürlich Opposition. Aber warum sollte er das tun, wenn seine Stimme im Zweifel weniger wiegt als eine Stimme für das Weiter so? Die jetzt getroffene Lösung geht an dem bestehenden Problem also blindlinks vorbei und schafft zudem ein weiteres: Sie ist ein Anreiz zum Nichtwählen.

Denn ein Wechsel auf der Regierungsbank wird durch den Kompromiss von Union und SPD unwahrscheinlicher. Die gefühlt ewig regierende Union würde so noch weiter künstlich an der Macht gehalten werden. Mit einer repräsentativen Demokratie hat das dann nur noch wenig zu tun. Der Volkswille würde nämlich nicht mehr 1:1 abgebildet werden. Es gäbe mehr Direktmandate als Listenmandate. Bisher wird jedes direkte Überhangmandat mit einem Ausgleichsmandat von den Landeslisten aufgewogen. Mit der neuen Regelung wäre das nicht mehr so.

Wider die Verfassung

Auch hier sorgt die Union allerdings für einen Klopfer. Überschüssige Direktmandate sollen künftig mit Listenmandaten der gleichen Fraktion aus anderen Bundesländern verrechnet werden. Selbst innerhalb der Unionsfraktion ist die CSU also klar im Vorteil. Denn gerade diese bayrische Provinzpartei erzielt traditionell die meisten Überhangmandate. Jetzt kann sie der Schwesterpartei ungehindert Listenmandate aus anderen Bundesländern absaugen. Das führt nicht nur zu einer ungerechten Bevorteilung der CSU, sondern zu einer noch tiefergreifenden Benachteiligung aller Listenmandate insgesamt.

Der Vorschlag von Union und SPD zeigt außerdem deutlich, dass die Parteien überhaupt nicht verstanden haben, wo das Problem liegt. Okay, der Bundestag schwillt seit Jahren immer weiter an. Das liegt hauptsächlich an den außer Kontrolle geratenden Überhangmandaten. Anstatt dann den Ausgleichsmandaten an den Kragen zu gehen, sollte man sich zu allererst fragen, woher diese Flut an Überhangmandaten überhaupt kommt. Aus Bayern, könnte man jetzt flapsig sagen. Aber das ist nur die halbe Wahrheit. Überhangmandate entstehen immer dann, wenn eine Partei mehr Direktmandate erzielt als ihr laut Zweitstimmenergebnis zusteht. Warum war das früher kein Problem?

In den Nachkriegsjahrzehnten saßen sehr lange nur drei Fraktionen im Bundestag: die Union, die SPD und die FDP. Andere Parteien hatten selten eine Aussicht darauf, ins Parlament gewählt zu werden. Auch aus diesem Grund haben die Wählerinnen und Wähler seltener für sie gestimmt. Dann kamen die Grünen als vierte Kraft mit Turnschuhen in den Bundestag gelatscht. Nach dem Mauerfall gesellte sich die PDS dazu und seit einigen Jahren erweitert die AfD das Parteienspektrum im Bundestag. Die Wählerinnen und Wähler haben also eine größere Auswahl an Parteien, die den Einzug wahrscheinlich schaffen werden. Umso größer ist auch die Bereitschaft, Erst- und Zweitstimme unterschiedlich zu vergeben. Auf diese Weise kann das Erststimmenergebnis erheblich vom Ergebnis der Zweitstimmen abweichen. Überhangmandate entstehen.

Letztendlich gibt es nur eine Möglichkeit, diese Überhangmandate demokratisch in Grenzen zu halten: durch eine Neuzuschneidung der Wahlkreise. Die Zahl der Wahlkreise muss deutlich verringert werden. Damit sinkt auch die Richtgröße des Bundestags. Überhangmandate entstehen trotzdem, aber nicht mehr in so großer Zahl, schließlich gibt es ja weniger Wahlkreise. Außerdem kann der Anspruch an eine Wahlrechtsreform nicht sein, möglichst viele Überhangmandate zu verhindern. Die Entscheidung, Erst- und Zweitstimme unterschiedlich zu vergeben, ist ein Ausdruck lebendiger Demokratie und des freien Wählerwillens. Der aktuellste Vorstoß beschneidet den Einfluss der Wählerinnen und Wähler allerdings. Er ist nicht gerecht; er ist nicht demokratisch. Er ist verfassungswidrig.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!