Posttraumatische Regierungsstörung

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Die SPD hat es in den letzten Jahren nicht leicht gehabt: miserable Wahlergebnisse, unterirdische Umfragewerte und ein Koalitionspartner, der sie an der kurzen Leine hält. All das haben sich die Sozen sicher anders gewünscht. Und eine Zeit lang war diese Option auch zum Greifen nah. Hätten andere nicht in letzter Minute einen Rückzieher gemacht, hätte sich die SPD in der Opposition einrichten können. Dieses Jamaika-Trauma hat die Partei bis heute nicht verkraftet.

Zu früh gefreut

Wir erinnern uns: Nach der Bundestagswahl 2017 schauten mehrere Parteien dumm aus der Wäsche. Die Wahlbeteiligung war zwar leicht gestiegen, aber die Wählerinnen und Wähler haben ihre Stimmen dazu genutzt, um die etablierten Parteien abzuwatschen. Besonders heftig traf es dabei die regierungsführende Union und die mitregierende SPD. Letztere fuhr wiederholt ein historisch schlechtes Ergebnis ein. Der damalige Vorsitzende Martin Schulz erklärte noch am Wahlabend, dass die SPD in die Opposition ginge.

Diesen Gefallen machte das Schicksal dem Parteichef allerdings nicht. Nach Wochen zäher Sondierungsgespräche brach die FDP die Verhandlungen schließlich ab. Jamaika war vom Tisch. Und das obwohl Martin Schulz der FDP noch am Wahlabend prophezeit hatte: „Frau Merkel wird Ihnen sehr weit entgegenkommen.“ Anscheinend war FDP-Chef Lindner aber nicht dazu bereit, sich ebenfalls zu bewegen. Eine neue Regierung war wieder in weite Ferne gerückt. Alternative Koalitionsmöglichkeiten waren Mangelware. Kanzlerin Merkel sollte rechtbehalten: Gegen die Union konnte keine Regierung gebildet werden.

Vom Regen in die Traufe

Kurz flammte die Option Minderheitsregierung auf. Aber auch diese Konstellation war nicht realisierbar. Merkel wollte es nicht in Kauf nehmen, eventuell erst im dritten Wahlgang gewählt zu werden. Immerhin hätte das als Zeichen der Schwäche gewertet werden können. Kaum ist die AfD im Bundestag, kommt es zur ersten Minderheitsregierung in der bundesdeutschen Geschichte.

Auch praktisch wäre eine Minderheitsregierung nur schwer zustandegekommen. Das einzige halbwegs realistische Szenario wäre Schwarz-Gelb gewesen. Dazu hätte die SPD ihre Abgeordneten allerdings dazu bringen müssen, sich geschlossen zu enthalten. Die Füße stillhalten, um Union und FDP, den natürlichen Fressfeind von sozialer Politik, ins Amt zu hieven? Sicherlich ausgeschlossen für viele Sozialdemokraten.

Und so stand die SPD vor einer wahrlich schweren Entscheidung. Will sie erneut als Vaterlandsverräter dastehen oder der AfD die Oppositionsführung überlassen? Beides keine sehr verlockenden Aussichten. Die Sozialdemokraten befanden sich in einer äußerst schwierigen Situation. Kaum hatten die Mitglieder das katastrophale Wahlergebnis halbwegs verdaut, da stand schon wieder die GroKo vor der Tür. Dabei war es doch die ständige Kooperation mit der Union, die der SPD dieses niederschmetternde Ergebnis beschert hatte.

Die Handschrift der SPD

Den meisten Sozen muss klargewesen sein: Noch einmal vier Jahre GroKo könnte der Partei noch erheblicher schaden. Trotzdem war die große Koalition der einzige Weg, zu einer stabilen Mehrheitsregierung zu kommen. Und wie würde das Land wohl aussehen, ließe man eine Minderheitsregierung vier Jahre lang rumwurschdeln? Die letztendliche Entscheidung darüber machte sich die SPD nicht leicht. Mit einer Urabstimmung fragte sie alle ihre Mitglieder nach deren Meinung. Knapp ein Viertel der Mitglieder entzog sich dieser wegweisenden Entscheidung. Die Jusos riefen zum Boykott der GroKo durch neue Parteibeitritte auf. Die Zwickmühle der SPD war offensichtlich.

Doch das Votum der Mitglieder war klar: Fast zwei Drittel stimmten für Koalitionsverhandlungen mit der Union. Man drängte aber auf eine planmäßige Zwischenbilanz nach Ablauf der halben Legislaturperiode. Vielen war außerdem wichtig, dass der Koalitionsvertrag dieses Mal eine klar erkennbare sozialdemokratische Handschrift trüge. Ob die SPD dies wirklich durchsetzen konnte, muss jeder selbst entscheiden. Die Partei lässt aber weiterhin keine Gelegenheit aus, diese sozialdemokratische Zielrichtung des Vertrags zu betonen. Mit plakativen Gesetzestiteln wie dem Gute-KiTta – Gesetz möchten sie ihre Politik einer breiten Öffentlichkeit näherbringen. Fast obsessiv feiern die Sozen jeden noch so kleinen Erfolg, der sich in irgendeiner Weise in ein SPD-Bonbonpapier wickeln lässt.

Voll krass

Um wenigstens einige ihrer Herzensangelegenheiten umsetzen zu können, musste die SPD mehr als eine Kröte schlucken und so manche schmerzhafte Konzession machen. Trotzdem war die SPD bereit dazu, Verantwortung zu übernehmen. Im Endeffekt aber badet die Partei nur die Verfehlungen anderer aus. Dass es überhaupt wieder zu einer großen Koalition kommen musste, verdanken wir nicht zuletzt Union und FDP. Während die einen zu stur waren, einer Minderheitsregierung eine Chance zu geben, waren die anderen zu feige für eine Regierungsbeteiligung.

Die Zeche dafür zahlt die SPD. Hätten andere nicht gekniffen, wäre der ältesten Partei Deutschlands dieses fragwürdige Trauerspiel erspart geblieben. Man kann den Genossinnen und Genossen einiges vorwerfen, aber Drückeberger sind sie nicht. Um Verantwortung für das Land zu übernehmen, nahmen sie sogar die jetzigen Umfragewerte in Kauf – und die sind wirklich mehr als blamabel. Den wirklichen Drückebergern blieb ein solches erspart. Die Grünen profitieren von der Klimabewegung, Corona pushte die Union, die FDP ist aus anderen Gründen im Keller. Nur die SPD leidet weiter am Jamaika-Trauma.

Bei einer Rede am 2. Oktober im Bundestag sagte die Grünen-Fraktionsvorsitzende Göring-Eckhart in Richtung der Regierung: „Machen ist wie Wollen, nur krasser.“ Ihre Partei hatte die Chance, diese krasse Erfahrung zu machen. Anderen nun generell Zauderei vorzuwerfen, mutet dann schon eher zynisch an.


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