Lockerung auf Bewährung

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Vor wenigen Tagen hat sich die Bund-Länder – Konferenz auf eine bundesweite Öffnungsstrategie verständigt. Die Huldigung des Inzidenzwerts wird beibehalten, Öffnungen unterliegen strengen Auflagen und jeder erhält das Anrecht auf regelmäßige kostenlose Schnelltests. Es wird schwierig, die beschlossenen Maßnahmen umzusetzen und gleichzeitig den Laden am Laufen zu halten. Auch der Wumms hinter den neuen Regelungen lässt Zweifel zu. Wichtig ist, die neuen Verordnungen nur als ein Puzzleteil im Kampf gegen die Pandemie zu sehen.

Trügerische Hoffnung

Seit dieser Woche dürfen nun endlich auch wieder Buchhandlungen und Gartencenter öffnen. Nach den Friseuren sind die Buch- und Blumenfreunde die nächsten, die in den exklusiven Genuss der Lockerungen kommen. Danach sind gastronomische Betriebe, Kultureinrichtungen und der restliche Einzelhandel vorgesehen – immer vorausgesetzt das Infektionsgeschehen lässt solche Lockerungen zu. Damit Infektionen künftig besser aufgedeckt und nachverfolgt werden können, setzt die Bundesregierung neben der Impfung nun auch auf die Schnelltests. Seit vergangenem Samstag sind diese teilweise für alle Menschen im Land käuflich zu erwerben. Diese systematische Ausweitung der Testkapazitäten soll unkontrollierte Infektionen in den geöffneten Bereichen verhindern.

Besonders die privaten Schnelltests bergen jedoch eine hohe Fehlerquote und erfüllen daher nicht den vorgesehen Zweck. Im Gegensatz zu vielen anderen Schnelltestverfahren geben die neuen Corona-Tests nämlich auch falsche Negativergebnisse aus. Das bedeutet, dass die Tests auch solche Menschen als gesund identifizieren, die sich in Wirklichkeit mit dem Virus infiziert haben. Viele Infektionen bleiben dadurch unerkannt, weil Symptome ebenfalls ausbleiben. Das ist für die Betroffenen weitaus weniger schlimm als für die Risikopatienten, denen sie das Virus unwissentlich weitergeben, weil sie sich durch die Schnelltests in Sicherheit wägen.

Corona-positiv und nichts geschieht

Zum Glück wurde die generelle Schwäche der Schnelltests transparent öffentlich gemacht. Jeder weiß darüber Bescheid. Und hier eröffnet sich das nächste Problem: Auch viele positiv Getestete werden das Ergebnis der Schnelltests unter Verschluss halten. Im eigenen Badezimmer mit einer möglichen Corona-Infektion konfrontiert, werden sie das Ergebnis für einen Fehlalarm halten. Wann sollen sie sich schließlich infiziert haben? Diese Menschen werden sich einem dringend notwendigen PCR-Test verweigern. Auch diese Corona-Fälle bleiben dadurch unerkannt und das Virus breitet sich weiter aus.

Denn das große Manko der privaten Schnelltests ist, dass bei positivem Befund kein automatischer Mechanismus greift. Jedem bleibt es im Grunde selbst überlassen, was er aus dem Testergebnis macht. Die meisten werden bestimmt verantwortungsvoll handeln und das Gesundheitsamt informieren, aber wie wenig Menschen nötig sind, um einen Corona-Hotspot zu erzeugen, haben die letzten Monate immer wieder eindrucksvoll gezeigt.

Fragen Sie Ihren Arzt oder Apotheker

Da ist es schon besser, wenn nun auch Apotheken Schnelltests anbieten. Hier kann zwar bei der Anwendung kaum gemogelt werden, an der Zuverlässigkeit der Tests änderts das aber nichts. Wenigstens erfolgt die Feststellung einer möglichen Infektion hier vor Zeugen und Verdachtsfälle können isoliert werden.

Auch die zugesicherten wöchentlichen Gratis-Tests können die erhoffte Wirkung nicht voll entfalten. Bei ihnen handelt es sich ebenfalls um Schnelltests, die nicht zuverlässig genug sind, um das Infektionsgeschehen effektiv einzudämmen. Den Einlass im Einzelhandel oder den Besuch im Theater nun an aktuelle negative Schnelltests zu knüpfen, ist im Prinzip ein richtiger Ansatz im Kampf gegen die Pandemie. Durch die hohe Fehlerquote lässt sich aber auch das nicht wirkungsvoll umsetzen.

Essen nach Zeitplan

In einem weiteren Schritt sieht die aktuelle Öffnungsstrategie vor, den Einzelhandel und die Außengastronomie für solche Menschen zu öffnen, die zuvor einen Termin vereinbart haben. Die Idee dahinter ist simpel: Die Termine gewährleisten einerseits, dass sich nicht zu viele Personen in den jeweiligen Räumlichkeiten aufhalten und das Infektionsrisiko sinkt dadurch. Zum zweiten lassen sich mögliche Infektionen wieder leichter nachvollziehen. Schließlich haben die Besucherinnen und Besucher ihre persönlichen Daten im Vorfeld angegeben. Gepaart mit negativen Testergebnissen ist das eine gute Idee, dem Virus Einhalt zu gebieten.

Die Ausgestaltung dieser Pläne ist allerdings schwierig. Die Betriebe müssen sich die Frage stellen, welche Zeitfenster sie ihren Kunden und Besuchern eröffnen wollen. Bei Kulturbetrieben ist das leicht beantwortet. Hier liegt die Dauer der Vorstellung zugrunde. Doch bereits in der Gastronomie stößt die Umsetzung der vorgesehenen Strategie an ihre Grenzen. Wie lange braucht ein Mensch, um Vorspeise, Hauptgang und Nachtisch zu sich zu nehmen? Möchte er vielleicht ein zweites Getränk? Was passiert, wenn das Kartelesegerät zickt?

Hier ist eigentlich ein zeitlicher Puffer nötig, damit der Wechsel der Gäste so reibungslos wie möglich vonstattengehen kann. Das führt aber wieder zu Gewinneinbußen der Betriebe, weil sie in dieser Zeit des Wechsels kein Geld einnehmen. Besonders im Einzelhandel wird es hier zu Schwierigkeiten kommen. Wenn nach einer halben Stunde des Shoppens die Glocke läutet, verabschieden sich nicht alle Kunden automatisch. Manche zwängen sich in diesem Moment in der Umkleidekabine in das viel zu enge Oberteil oder sie stehen als letzter in der Schlange an der Kasse. Im übrigen laden nicht nur Klamottenläden zum Verweilen ein. Auch Buchhandlungen tun das. Hier ist eine Terminvergabe aber nicht vorgesehen.

Es wird auch immer wieder Kunden geben, die das Lokal oder das Geschäft vorzeitig verlassen. Lässt man andere Personen dann nachrücken? Wie macht man das, ohne Streitereien zwischen den Wartenden auszulösen? Auch hier steht der zu erwartende Profitverlust der Betriebe einer konsequenten Einhaltung der Regeln entgegen.

Neiddebatten in Sicht

Der frühe Vogel fängt den Wurm. So denken viele. Und genau diese Denkweise wird dazu führen, dass sich viele Menschen schon lange vor dem vereinbarten Termin vor den Geschäften tummeln – man möchte schließlich die ganze Zeit nutzen. Je größer das Geschäft, desto länger die Schlange davor. Was das für das Infektionsgeschehen bedeutet, muss bestimmt nicht erörtert werden. Die Geschäfte sind hier wieder einmal auf das Verantwortungsgefühl der Menschen angewiesen. Wenn das Abstandhalten aber auch an Supermarktkassen mit vorgezeichneten Trennlinien oft nicht reibungslos funktioniert, kann man sich die Zustände in deutschen Einkaufsstraßen lebhaft vorstellen.

Vorprogrammiert ist wohl auch, was geschieht, wenn sich der grüne Impfpass der EU durchsetzt. Dieser soll Auskunft darüber geben, ob jemand bereits gegen Covid-19 geimpft ist oder nicht. Weshalb es da einer neuen digitalen Impfpassvariante bedurfte, weiß so genau wahrscheinlich niemand. Klar hingegen ist, dass ein solcher Impfnachweis nur dann Sinn macht, wenn er mit entsprechenden Vergünstigungen verknüpft ist.

Diese Impfpflicht durch die Vordertür provoziert Neiddebatten geradezu. Durch das derzeitige Impftempo in Deutschland werden diese Debatten weiter angeheizt. Wo kommen wir denn dahin, wenn bestimmte Berufsgruppen eher wieder ins Kino oder in die Kneipe dürfen als andere?

Ein Schimmer Hoffnung

Zudem gibt es überhaupt keine medizinische Notwendigkeit für impfstatusabhängige Lockerungen. Es ist allgemein bekannt, dass die bisher entwickelten Präparate nur unzureichend vor einer Infektion mit dem Virus schützen. Die wenigen Fälle, in denen eine Infektion erfolgreich verhindert wurde, sind eher begrüßenswerte Side Effects der Wirkstoffe. Öffnungen auf dieser Grundlage sind daher sogar kontraproduktiv. Die Gäste und Kunden sind zwar selbst vor schweren Krankheitsverläufen gefeit, nicht aber zwangsläufig andere Personen, zu denen sie außerhalb der Geschäfte Kontakt haben.

Die jetzt beschlossenen Maßnahmen und Voraussetzungen für Lockerungen machen nur dann Sinn, wenn sie nicht das Ende der Fahnenstange sind. Nur wer die regelmäßigen Schnelltestverfahren in Anspruch nimmt, Kontakte auf ein Minimum begrenzt, die Abstandsregeln einhält und konsequent die Maske trägt, verlangsamt die Ausbreitung des Virus erheblich. Vielleicht kriegen wir das ja dieses Mal hin…


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Nicht allein

Lesedauer: 7 Minuten

Es gab einmal eine Zeit, da war Corona der heißeste Scheiß. Jeder sprach darüber, jeder hatte Angst davor, jeder war vorsichtig. An Corona hat sich zwischenzeitlich wenig geändert, außer dass es fragwürdigen mutierten Zuwachs bekommen hat. Der Umgang mit der Pandemie hat sich allerdings sehr gewandelt – in vielen Bereichen leider nicht zum positiven. Ein gefühlt ewiger Lockdown und eine fehlende plausible Öffnungsstrategie erzeugte viel eher eine kontraproduktive Pandemiemüdigkeit. Doch ein laxer Umgang mit dem Virus ist und bleibt gefährlich.

Vier Nullen für Corona

Zu Jahresbeginn sah es so aus, als würden die verschärften Maßnahmen gegen das Coronavirus tatsächlich fruchten. Die Infektionszahlen und der Inzidenzwert gingen kontinuierlich zurück. Mit deutlich über 10.000 Neuinfektionen pro Tag lagen die Zahlen zwar weiterhin viel zu hoch, aber von den 30.000 im November und Dezember war man glücklicherweise wieder weit entfernt. Doch seit einigen Tagen verändern sich die Werte kaum noch. Es scheint, als hätten sie sich bei um die 10.000 eingependelt.

Die unweigerliche Schlussfolgerung daraus: Die jetzt geltenden Maßnahmen sind erschöpft. Ihre Wirksamkeit ist an ihre Grenzen gestoßen. Das mag so stimmen, aber was wäre dann der nächste Schritt? Nehmen wir die anhaltend hohen Zahlen in Kauf oder schärfen wir erneut nach? Sollen Restaurants und weite Teile des Einzelhandels noch länger geschlossen bleiben? Oder müssen wir unseren Blick noch stärker auf einen Bereich richten, der in den letzten Monaten immer mehr aus der Wahrnehmung geraten ist?

Die Privatpandemie

Es ist ein unumstößlicher Fakt, dass die jetzigen Infektionen nicht von Kontakten beim Friseur oder im Fitnessstudio herrühren können – die Geschäfte haben schließlich dicht. Der Übeltäter muss an anderer Stelle zu finden sein und da bleiben im Grunde nur zwei größere Felder übrig: die Arbeitsstätten der Menschen und der private Raum. Trotz fehlender Home-Office – Pflicht sind viele Betriebe und Unternehmen wieder auf das Arbeiten von zu Hause umgestiegen. Viel bedeutender für das Infektionsgeschehen sind hingegen private Treffen, bei der munter gegen die Kontaktbeschränkungen verstoßen wird.

Selbst wenn man solche Szenarien noch nicht selbst beobachtet hat, lassen sich fünfstellige Infektionszahlen nicht ausschließlich mit Ansteckungen im Büro erklären. Jeder weiß, dass der private Raum in vielen Fällen ein Hotspot ist, aber kaum jemand redet darüber. Einerseits sind Treffen in den eigenen vier Wänden kaum staatlicher Kontrolle unterworfen – und das ist gut so – andererseits herrscht bei vielen das Gefühl vor, allein mit ihrem Fehlverhalten zu sein.

Egozentrische Verdrängung

Statt sich nur mit einer anderen Person zu treffen, tun sich viele dieser Menschen gleich mit vier oder fünf Mitmenschen zusammen. Manche machen das regelmäßig, andere sporadisch. In einer bemerkenswerten egozentrischen Verdrängungsleistung blenden sie die etwaige Existenz anderer Regelbrecher konsequent aus. Sie scheinen offenbar zu vergessen, dass jeder, auch sie selbst, ein potentieller Superspreader ist. Sie ignorieren die Tatsache, dass ihre zahlreichen Gäste auch nach der Feier ein Leben haben und jedwede Bakterien und Viren in die Welt hinaustragen und an weitere Kontakte abgeben.

Obwohl sie sich in ihrem eigenen Zuhause absolut sicher fühlen, bleiben ihre Aktivitäten natürlich nicht vollkommen unbemerkt. Es gibt immer Menschen, die das Fehlverhalten mitbekommen. Mancheiner schüttelt darüber fassungslos den Kopf, andere lassen sich selbst zu einer rauschenden Party am nächsten Wochenende hinreißen – bei den anderen ist ja auch nichts schlimmeres passiert. Dass manche mit der Corona-Party von letzter Nacht geradezu herumprahlen, befördert die Kettenreaktion zusätzlich. Und solange man draußen die Maske trägt…

Danke für gar nichts

Die Menschen haben keine Lust mehr auf Corona. Und die Menschen haben keine Lust mehr, Kontakte einzuschränken, nur mit Maske einzukaufen und auf den Friseurbesuch zu verzichten. Neuerdings spricht man hier von einer Pandemiemüdigkeit. Jeder, dem diese Maßnahmen stinken und der sich nach dem Normalzustand sehnt, verhält sich absolut menschlich. Absolut unmenschlich ist es allerdings, eine Verlängerung des Endlos-Lockdowns herbeizuführen. Es ist zumutbar, seine Kontakte für eine begrenzte Zeit auf ein Minimum zu reduzieren. Es gibt keine zwingende Notwendigkeit, ständig miteinander abzuhängen. Man muss atmen und man muss einkaufen. Man muss aber keine Partys feiern.

Die Dauer des aktuellen Lockdowns lässt sich mit Müh‘ und Not vielleicht noch inkompetenten Politikern andichten. Die Höhe der Infektionszahlen sicher nicht. Hierfür sind in erster Linie die verantwortlich, die anscheinend nie gelernt haben bis 1 zu zählen und denen jegliches Rückgrat fehlt. Ihnen ist es zu verdanken, dass die vielen Anständigen im Land noch sehr lange Zeit auf große kulturelle Veranstaltungen, auf Besuche im Kino und nicht zuletzt auf ausgiebiges Feiern verzichten müssen. Sie sind schuld daran, dass einen noch lange ein ungutes Gefühl beschleicht, selbst wenn man sich an die Vorgaben hält.

Es gibt einen harten Kern an Idioten, welche die Maßnahmen von Anfang an mit Füßen getreten haben oder zumindest sehr früh damit anfingen. Dann gibt es wiederum solche Menschen, die sich zwar lange an die Regeln hielten, inzwischen aber auch immer öfter Ausnahmen machen, weil sie die Einschränkungen leid sind. Um zu verhindern, dass auch diese Menschen das nächste Superspreader-Event schmeißen, müssen Kontakte zukünftig wieder klar nachverfolgbar sein. In Restaurants, Bars und Kinos mit strengen Hygieneauflagen ginge das sicherlich leichter als in den heimischen Wohnzimmern.

Raus aus der Illegalität

Die vorsichtige Öffnung von gastronomischen Betrieben und Einrichtungen des Kulturbereichs hätte gleich mehrere wünschenswerte Effekte. Einerseits wäre das Infektionsgeschehen zumindest teilweise wieder kontrollierbar. Immerhin lassen sich Besuche an solchen Orten und etwaige Kontakte leicht nachverfolgen. Wie mit legalen Drogen könnte man das Pandemiegeschehen so schrittweise in den Griff bekommen, weil sich Risikokontakte weniger im Verborgenen abspielen, sondern in aller Öffentlichkeit.

Auf der anderen Seite würden sich viele Menschen nicht mehr so eingesperrt fühlen wie sie es jetzt tun. Wichtige menschliche Bedürfnisse wie die Pflege sozialer Kontakte könnten ganz regelkonform erfüllt werden. Natürlich birgt der Besuch einer Kneipe in Pandemiezeiten ein nicht zu unterschätzendes Risiko. Weil aber in der Öffentlichkeit jeder Maske tragen muss, ist das Risiko einer Ansteckung auch nicht höher, als wenn man sich im privaten Raum trifft – ohne Maske.

Gerade weil das Gefühl des Eingesperrtseins entschärft würde, hätten es die selbsternannten Querdenker schwerer, ihre Scharen zu rekrutieren. Natürlich würden sich auch weiterhin Menschen angesprochen fühlen, wenn von Abschaffung der Demokratie und DDR 2.0 die Rede ist, aber immerhin hätten die meisten Menschen weniger Grund, frustriert zu sein. Der Kampf gegen die Pandemie ginge weiter. Die Kumpanei mit dem Virus im privaten Raum wäre eingedämmt.


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Beitragsbild: iXimus, pixabay.

Lesedauer: 9 Minuten

Gesundheitsminister Jens Spahn ist sich sicher: die Corona-App wird einen erheblichen Beitrag im Kampf gegen das Virus leisten. Fortan werden alle Nutzer gewarnt, wenn sie in den vergangenen zwei Wochen einem Risikokontakt ausgesetzt waren. Viele kritisierten das Projekt von Anfang an, Datenschützer waren die erbittertsten Opponenten. Kaum waren diese Bedenken ausgeräumt, sprach man die App nahezu heilig. Eines vergessen viele aber nach wie vor: Die neue App legt die Verantwortung sprichwörtlich in die Hand der Nutzer. Der Kampf gegen Corona ist aber keine Einzelaufgabe, es ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Die App kann dem im Zweifelsfall zuwiderlaufen.

Operation „Beruhigungssauger“

Seit Dienstag ist sie da: die Corona-App. Lange erwartet, häufig kritisiert, endlich fertig. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist sichtlich stolz auf diesen Meilenstein im Kampf gegen Corona. Die Corona-App war immer sein Herzensprojekt. Viel Gegenwind musste er gegen seine Pläne aushalten. Gerade Datenschützer gingen auf die Barrikaden, als sie von dem Mammutprojekt hörten. Auch bei vielen Oppositionellen und Bürgern schrillten die Alarmglocken: Eine neue App? Was ist mit dem Datenschutz? Verschwörungstheoretiker machten sich die Pläne des Ministers sogleich zunutze und schürten Ängste, die App sei nur ein weiterer Schritt in Richtung Totalüberwachung der Bevölkerung.

Spahn nahm sich die Kritik tatsächlich zu Herzen. Zu groß war wohl die Sorge, seiner Bewerbungsmappe für das Kanzleramt würde eine wichtige Referenz fehlen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Der dezentralen Lösung wurde tatsächlich der Vortritt gelassen. Die Daten werden also nicht auf einem zentralen Server gespeichert, die sogenannte Begegnungsprüfung findet auf den Endgeräten statt. Wie ein Kleinkind, dem man einen Lolli gibt, waren die Datenschützer augenblicklich still. Und die anderen: auch. Als das Thema Datenschutz vom Tisch war, verstummte auch die Kritik an dem Projekt.

Argumente mit notorischem Geltungsdrang

Wieder einmal hat es eine einzige Frage geschafft, die Debatte zu beherrschen. Fragen nach Zielgenauigkeit, Notwendigkeit und Benutzerfreundlichkeit der App mussten den kürzeren ziehen. Die Hauptrolle wurde dem Thema Datenschutz verliehen. Mit Sicherheit eine wichtige Frage, aber beileibe nicht die einzige, die es zu beantworten gilt.

Das Muster ist bekannt: Bei so vielen anderen Themen der letzten Jahre gab es immer wieder Einzelfragen und Teilaspekte, die die Diskussion dominierten. Beispiel Tempolimit: Das Thema Verkehrssicherheit wurde zwar in die Bewertung der Geschwindigkeitsbegrenzung einbezogen, Knackpunkt war aber immer die klimafreundliche Komponente der Maßnahme. Weniger Motorleistung verursacht weniger klimaschädliche Emissionen, das ist Fakt. Dass eine generelle Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn aber auch einen nicht unerheblichen Beitrag zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr beiträgt, sollte fakter sein.

Immer wieder lenkten andere, teilweise schlicht unwichtigere Nebenfragen von der echten Problematik ab. Dabei gibt es gerade bei der Corona-App so viele andere Fragen, die es dringend zu beantworten gilt. Stattdessen verbeißen sich viele Kritiker beinahe fetischhaft in das Totschlagargument Datensicherheit. Ob auch bei den Bürgern durch den besseren Datenschutz das Vertrauen in die App gewachsen ist, werden die nächsten Tage und Wochen zeigen. Man sollte aber dringend aufhören zu meinen, man könne mit der Reduzierung von großen Sachverhalten auf ein einziges Thema die Bürger für dumm verkaufen.

Keine Maßnahme wie die anderen

Es gibt neben Datentransparenz noch einige weitere Fragen, von denen der Erfolg der App abhängen sollte. Es wurde wenig danach gefragt, wie zielgenau die neue Anwendung arbeitet, und wenn, dann nur um einen Datenmissbrauch mit Standortdaten zu verhindern. Noch seltener kam die Frage auf, wie viel Nutzen die App tatsächlich entfalten kann. In der Theorie ist die App eine gute Sache. Neben weiteren Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie ist sie eine sinnvolle Ergänzung, um die Menschen zu schützen. Keine der geltenden Maßnahmen kann alleine den Kampf gegen Corona aufnehmen. Masken sind ohne Abstand praktisch Stoffverschwendung. Genau so wird auch die App nur dann den größtmöglichen Erfolg haben, wenn die anderen Maßnahmen eingehalten werden.

Und daran habe ich starke Zweifel. Denn die App reiht sich nahtlos in die Serie von Lockerungen ein, die oftmals das Prädikat „fahrlässig“ verdienen. In erster Linie ist die App nämlich ein Frühwarnsystem, um Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass sie Kontakt zu einer mit Corona infizierten Person hatten. Sie ist deshalb nicht Maßnahmen wie der Maskenpflicht und dem Abstandsgebot gleichzusetzen. Im Gegensatz zu diesen expliziten Schutzmaßnahmen hemmt sie nicht das Infizierungsrisiko ihrer Nutzer. Sie meldet Erkrankungsfälle im näheren Umfeld, um etwaigen Risikokontakten vorzubeugen.

Unverbindliche Handlungsempfehlung

Wie bereits die Lockerungen vor ihr, macht die App den Infektionsschutz noch mehr zur Privatsache. Immer weniger müssen Bürgerinnen und Bürger lästige Regeln beachten, die eine Ausbreitung des Virus verhindern sollen. Und tatsächlich ist bis auf die Maskenpflicht fast wieder der Normalzustand eingetreten. An Supermarktkassen ist wieder Gruppenkuscheln angesagt. Die Abstandslinien sind von tollwütigen Klopapierkäufern längst weggewetzt worden. Immer mehr Massenaufläufe in Parks, bei Demos und leider auch Corona-Partys entwickeln sich zu neuen Infektionsherden. Nach monatelanger staatsverordneter Flaute müssen manche Gaststätten inzwischen beinahe schon überlegen, wegen Überlastung zu schließen. Gerade dort ist die Handhabung der Verordnungen besonders lax. In den vergangenen Wochen waren immer wieder Restaurants in Verbindung mit Coronafällen in den Medien.

Die neue App kann leicht zu noch mehr Unvorsicht verleiten. Bereits bei der Maske war sonnenklar, dass manche Menschen schlichtweg unfähig dazu waren, sie richtig aufzusetzen. Mit ihrer Leichtsinnigkeit gefährdeten sie ihre Mitmenschen und leisteten dem Virus erheblichen Vorschub. Es ist zugegeben ziemlich blauäugig zu glauben, diese Menschen ließen sich von einer unverbindlichen Handlungsempfehlung einer App Vorschriften machen. Sobald auf ihren Bildschirmen erscheint, dass sie so und so viele Risikokontakte hatten, werden sie verächtlich abwinken. „Jetzt will mir der Staat auch schon vorschreiben, wann ich zum Arzt zu gehen habe. Ich weiß selbst am besten, was gut für mich ist.“ An dieser Stelle pochen sie auf Selbstbestimmung und Datenschutz, beim nächsten facebook-Post ist ihnen das egal.

Polarisierung reloaded

Schon vor der App hat sich immer mehr gezeigt: Corona spaltet. Wieder einmal haben die Menschen die Wahl, zu welchem Pol sie sich eher hingezogen fühlen. Sind es die Hygienedemonstranten, die Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme in ihren Reihen dulden oder sind es die Übervorsichtigen, die an der Kasse lieber drei Striche Abstand halten? Jede noch so belanglose Äußerung, jede noch so lapidare Handlung kann zu einer unwiderruflichen Einteilung in eines der Lager führen.

Vor einigen Wochen schrieb ich auf diesem Blog noch, dass ich nicht glaube, dass Corona das gleiche Polarisierungspotenzial hätte wie die Flüchtlings- oder die Klimakrise. Ich habe mich geirrt. In Wahrheit birgt die jetzige Krise ein noch größeres Polarisierungsrisiko als die Krisen zuvor.

Konsens und mehr nicht?

Und woran liegt das? Weil es keine Einigkeit gibt. Der Politiker Gregor Gysi meinte jüngst, dass der Zoff erst losging, als die ersten Lockerungen zur Debatte standen. Völlig richtig. Davor waren die getroffenen Maßnahmen ganz besonders streng. Kaum einer hatte die Möglichkeit, ungestraft aus der Reihe zu tanzen.

Die Maßnahmen erreichten dabei beinahe die Qualität von Strafgesetzen. Und im Prinzip haben sie auch so funktioniert. Die Strafandrohung war zwar nicht so hoch wie bei Strafgesetzen, aber der Druck war trotzdem da. Würde man heute oder morgen die Strafen aus dem Gesetzbuch streichen, so gäbe es weiterhin einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass man andere Menschen nicht misshandelt, sie nicht umbringt und auch niemandem etwas wegnimmt. Dieser recht lockere Konsens würde aber immer mehr aufgeweicht werden. Viele würden dann zwar die Nase rümpfen, wenn jemand im Laden klaut, passieren würde aber nichts. Genau das gleiche lässt sich seit den Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen beobachten.

Die Lockerungen übertragen nämlich immer mehr Verantwortung auf den Einzelnen. Als die Maßnahmen streng waren, waren die meisten von dieser Verantwortung befreit. Sie mussten sich schlicht an Regeln halten. Durch die Lockerungen können die Menschen nun mehr und mehr selbst entscheiden, welche Maßnahmen sie als sinnvoll erachten und an welche sie sich halten wollen. Sie können sich ihre eigene Meinung machen. Das ist prinzipiell gut. Es liegt allerdings in der Natur unterschiedlicher Meinungen, miteinander zu konkurrieren. Kommt dann noch die akute Krisenkomponente dazu, ist die Polarisierung vorprogrammiert. So gut die Idee einer Corona-App auch sein mag, sie wird dem enormen Polarisierungspotenzial der Krise nicht beikommen können.


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