Maßnahmen für’s Papier

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Auch die neue Ampelregierung vermag es nicht, den Flickenteppich der Coronamaßnahmen durch ein einheitliches und transparentes Regelwerk zu ersetzen. Die geltenden Verordnungen sind teilweise so undurchsichtig, dass sich viele Menschen nicht sicher sind, welche Maßnahmen in ihrer Region gelten. Selbst Behörden und andere Einrichtungen sind mit dem Maßnahmenkatalog überfordert und lassen stringente Kontrollen immer häufiger sausen. Reißt dieser lapidare Umgang mit der Situation ein, wirkt sich das zweifellos negativ auf die Pandemiebekämpfung aus.

Lokal gegen global

Was gilt in meiner Stadt? Mit wie vielen Leuten darf ich mich treffen? Muss ich auch im Freien eine Maske tragen? Gibt es eine Sperrstunde für Ungeimpfte? Was muss ich beim Friseur vorzeigen? Eigentlich wollte die neue Ampelkoalition mit diesen Fragen aufräumen. Zwei der drei Regierungsparteien haben in den vergangenen Monaten in zahllosen Oppositionsreden immer wieder angemahnt, dass eine effektive Pandemiebekämpfung nur mit einheitlichen und transparenten Regeln möglich wäre. Die Menschen müssten Sicherheit darüber haben, welche Maßnahmen in ihrem Umfeld gälten.

Mit 2G in der Gastronomie sorgte die neue Regierung zwar in einem Bereich für Einheitlichkeit, viele andere Bereiche erinnern je nach Region aber weiterhin an einen Flickenteppich. Weil es mit fortschreitender Pandemie immer schwieriger wurde, alle Bundesländer unter einen Hut zu bringen, verkam die Bund-Länder- Runde immer mehr zur zeitraubenden Beschäftigungstherapie. Kaum waren ein paar einheitliche Regelungen beschlossen, da scherten die ersten Bundesländer gleich wieder aus.

Das Mantra vieler Landeschefs: Man müsse der globalen Pandemie lokal begegnen. Bedeutende Maßnahmen wie eine mögliche Maskenpflicht im Freien, eine FFP2-Maskenpflicht in Innenräumen oder die spezifischen Regelungen im Einzelhandel delegierte man daher auf Landes- oder sogar auf Kommunalebene. Diese ortsgebundene Vorgehensweise brachte aber nicht den gewünschten Erfolg. Viele Menschen sind schlicht überfordert mit der Vielzahl an Regelungen, die in einem Stadtkreis gelten oder eben nicht.

Zahnlose Tiger

Mit der Überforderung kommt häufig Resignation. Geht man heute in einem beliebigen Supermarkt einkaufen, erinnert außer den Masken wenig daran, dass weiterhin eine Pandemie ihr Unwesen treibt. Die Menschen gehen vor dem Tiefkühlregal wieder auf Tuchfühlung miteinander, das Abstandsgebot wird in der Eile konsequent ignoriert, die dazugehörigen Klebestreifen im Kassenbereich waren bereits nach der dritten Welle weggewetzt.

Ohne klare Ansage, was wo gilt, schustern sich viele ihre eigenen Regeln, getreu dem alten FDP-Motto: Ich weiß selbst, was gut für mich ist. Da hilft es auch nicht, wenn nun endlich einige sinnvolle flächendeckende Maßnahmen eingeführt wurden. Um die sich erneut zuspitzende Infektionslage wieder in den Griff zu bekommen, führte die neue Regierung noch vor ihrer Vereidigung die flächendeckende 3G-Regelung ein. Viele Bereiche, die zuvor nicht vom Infektionsschutzgesetz abgedeckt waren, unterliegen nun ebenfalls den Corona-Zugangsbeschränkungen.

Beispielsweise darf den öffentlichen Personenverkehr fortan nur noch nutzen, wer entweder geimpft, genesen oder aktuell negativ getestet ist. Diese Maßnahme hat viel zu lange auf sich warten lassen. Angesichts der immer stärker um sich greifenden Pandemiemüdigkeit, verpufft ihr Effekt leider ziemlich offensichtlich. Kontrollen zu 3G finden in den meisten Verkehrsbetrieben kaum statt, das Personal wird an anderen Stellen benötigt. Bei Beschäftigten und Kundschaft scheint die Bereitschaft nicht besonders groß, auf die strikte Einhaltung aller Regeln zu achten.

Grundlos ausgeschlossen

Diese Unlust, sich länger der pandemischen Situation anzupassen, wird auch in anderen Bereichen deutlich. Die Böllerverbote der vergangenen zwei Jahre waren nichts weiter als ein Witz. In jeder noch so kleinen Ortschaft stiegen die Raketen gen Himmel. Erneut wurden viele Tiere an den Rand der Verzweiflung getrieben. Den Menschen wiederum fällt es bei vielen Maßnahmen immer schwerer, den Zusammenhang zwischen Pandemiebekämpfung und persönlichem Verzicht herzustellen. Stattdessen sehen sie, dass sich die Infektionszahlen mit Beginn der kalten Jahreszeit wie einem Naturgesetz folgend erheben, während der Staat die Lage bei aller Bemühung nicht in den Griff bekommt. Das ist bester Nährboden für das Präventionsparadoxon.

Die fehlende Bereitschaft, bestimmte Regeln ernstzunehmen und zu kontrollieren, hat aber noch einen weiteren Grund. Besonders bei den jüngsten Maßnahmen erkennen viele nicht mehr die wissenschaftliche Grundlage der beschlossenen Verordnungen. Grundsätzlich ist die Datenlage seit Beginn der Pandemie mehr als lückenhaft. 2G in der Gastronomie zum Beispiel gilt bundesweit einheitlich, ohne einen Beleg dafür zu erbringen, dass Gaststätten und Restaurants relevante Pandemietreiber sind.

Viele weitere Maßnahmen sind zwischenzeitlich von der Coronainzidenz weitgehend entkoppelt. In manchen Bereichen spielt die regionale Infektionslage kaum noch eine Rolle, bestimmte Personengruppen werden pauschal ausgeschlossen. Es dämmert immer mehr Menschen, dass es bei diesen Bemühungen nicht vorrangig darum geht, andere zu schützen, sondern darum, Ungeimpfte zu gängeln. Der Infektionsschutz ist lediglich Fassade dieser Eingriffe.

Die schwindende Seriosität der Maßnahmen hat zur Folge, dass sie im besten Falle stiefmütterlich behandelt werden. Das fällt bei weniger sinnvollen Maßnahmen nicht so stark auf den Kampf gegen die Pandemie zurück. Weitaus ernster wird die Lage, wenn diese Stimmung der laxen Handhabung auf die wirklich notwendigen Maßnahmen abfärbt. Sind Maßnahmen gegen die Pandemie wissenschaftlich nicht haltbar, bewirken sie oft das Gegenteil dessen, wofür sie augenscheinlich gemacht sind. Sie befördern ein Klima der Sorg- und Achtlosigkeit, obwohl erhöhte Wachsamkeit weiterhin das Gebot der Stunde ist.


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Smartphone und Verantwortung in einer Hand

Beitragsbild: iXimus, pixabay.

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Gesundheitsminister Jens Spahn ist sich sicher: die Corona-App wird einen erheblichen Beitrag im Kampf gegen das Virus leisten. Fortan werden alle Nutzer gewarnt, wenn sie in den vergangenen zwei Wochen einem Risikokontakt ausgesetzt waren. Viele kritisierten das Projekt von Anfang an, Datenschützer waren die erbittertsten Opponenten. Kaum waren diese Bedenken ausgeräumt, sprach man die App nahezu heilig. Eines vergessen viele aber nach wie vor: Die neue App legt die Verantwortung sprichwörtlich in die Hand der Nutzer. Der Kampf gegen Corona ist aber keine Einzelaufgabe, es ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Die App kann dem im Zweifelsfall zuwiderlaufen.

Operation „Beruhigungssauger“

Seit Dienstag ist sie da: die Corona-App. Lange erwartet, häufig kritisiert, endlich fertig. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist sichtlich stolz auf diesen Meilenstein im Kampf gegen Corona. Die Corona-App war immer sein Herzensprojekt. Viel Gegenwind musste er gegen seine Pläne aushalten. Gerade Datenschützer gingen auf die Barrikaden, als sie von dem Mammutprojekt hörten. Auch bei vielen Oppositionellen und Bürgern schrillten die Alarmglocken: Eine neue App? Was ist mit dem Datenschutz? Verschwörungstheoretiker machten sich die Pläne des Ministers sogleich zunutze und schürten Ängste, die App sei nur ein weiterer Schritt in Richtung Totalüberwachung der Bevölkerung.

Spahn nahm sich die Kritik tatsächlich zu Herzen. Zu groß war wohl die Sorge, seiner Bewerbungsmappe für das Kanzleramt würde eine wichtige Referenz fehlen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Der dezentralen Lösung wurde tatsächlich der Vortritt gelassen. Die Daten werden also nicht auf einem zentralen Server gespeichert, die sogenannte Begegnungsprüfung findet auf den Endgeräten statt. Wie ein Kleinkind, dem man einen Lolli gibt, waren die Datenschützer augenblicklich still. Und die anderen: auch. Als das Thema Datenschutz vom Tisch war, verstummte auch die Kritik an dem Projekt.

Argumente mit notorischem Geltungsdrang

Wieder einmal hat es eine einzige Frage geschafft, die Debatte zu beherrschen. Fragen nach Zielgenauigkeit, Notwendigkeit und Benutzerfreundlichkeit der App mussten den kürzeren ziehen. Die Hauptrolle wurde dem Thema Datenschutz verliehen. Mit Sicherheit eine wichtige Frage, aber beileibe nicht die einzige, die es zu beantworten gilt.

Das Muster ist bekannt: Bei so vielen anderen Themen der letzten Jahre gab es immer wieder Einzelfragen und Teilaspekte, die die Diskussion dominierten. Beispiel Tempolimit: Das Thema Verkehrssicherheit wurde zwar in die Bewertung der Geschwindigkeitsbegrenzung einbezogen, Knackpunkt war aber immer die klimafreundliche Komponente der Maßnahme. Weniger Motorleistung verursacht weniger klimaschädliche Emissionen, das ist Fakt. Dass eine generelle Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn aber auch einen nicht unerheblichen Beitrag zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr beiträgt, sollte fakter sein.

Immer wieder lenkten andere, teilweise schlicht unwichtigere Nebenfragen von der echten Problematik ab. Dabei gibt es gerade bei der Corona-App so viele andere Fragen, die es dringend zu beantworten gilt. Stattdessen verbeißen sich viele Kritiker beinahe fetischhaft in das Totschlagargument Datensicherheit. Ob auch bei den Bürgern durch den besseren Datenschutz das Vertrauen in die App gewachsen ist, werden die nächsten Tage und Wochen zeigen. Man sollte aber dringend aufhören zu meinen, man könne mit der Reduzierung von großen Sachverhalten auf ein einziges Thema die Bürger für dumm verkaufen.

Keine Maßnahme wie die anderen

Es gibt neben Datentransparenz noch einige weitere Fragen, von denen der Erfolg der App abhängen sollte. Es wurde wenig danach gefragt, wie zielgenau die neue Anwendung arbeitet, und wenn, dann nur um einen Datenmissbrauch mit Standortdaten zu verhindern. Noch seltener kam die Frage auf, wie viel Nutzen die App tatsächlich entfalten kann. In der Theorie ist die App eine gute Sache. Neben weiteren Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie ist sie eine sinnvolle Ergänzung, um die Menschen zu schützen. Keine der geltenden Maßnahmen kann alleine den Kampf gegen Corona aufnehmen. Masken sind ohne Abstand praktisch Stoffverschwendung. Genau so wird auch die App nur dann den größtmöglichen Erfolg haben, wenn die anderen Maßnahmen eingehalten werden.

Und daran habe ich starke Zweifel. Denn die App reiht sich nahtlos in die Serie von Lockerungen ein, die oftmals das Prädikat „fahrlässig“ verdienen. In erster Linie ist die App nämlich ein Frühwarnsystem, um Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass sie Kontakt zu einer mit Corona infizierten Person hatten. Sie ist deshalb nicht Maßnahmen wie der Maskenpflicht und dem Abstandsgebot gleichzusetzen. Im Gegensatz zu diesen expliziten Schutzmaßnahmen hemmt sie nicht das Infizierungsrisiko ihrer Nutzer. Sie meldet Erkrankungsfälle im näheren Umfeld, um etwaigen Risikokontakten vorzubeugen.

Unverbindliche Handlungsempfehlung

Wie bereits die Lockerungen vor ihr, macht die App den Infektionsschutz noch mehr zur Privatsache. Immer weniger müssen Bürgerinnen und Bürger lästige Regeln beachten, die eine Ausbreitung des Virus verhindern sollen. Und tatsächlich ist bis auf die Maskenpflicht fast wieder der Normalzustand eingetreten. An Supermarktkassen ist wieder Gruppenkuscheln angesagt. Die Abstandslinien sind von tollwütigen Klopapierkäufern längst weggewetzt worden. Immer mehr Massenaufläufe in Parks, bei Demos und leider auch Corona-Partys entwickeln sich zu neuen Infektionsherden. Nach monatelanger staatsverordneter Flaute müssen manche Gaststätten inzwischen beinahe schon überlegen, wegen Überlastung zu schließen. Gerade dort ist die Handhabung der Verordnungen besonders lax. In den vergangenen Wochen waren immer wieder Restaurants in Verbindung mit Coronafällen in den Medien.

Die neue App kann leicht zu noch mehr Unvorsicht verleiten. Bereits bei der Maske war sonnenklar, dass manche Menschen schlichtweg unfähig dazu waren, sie richtig aufzusetzen. Mit ihrer Leichtsinnigkeit gefährdeten sie ihre Mitmenschen und leisteten dem Virus erheblichen Vorschub. Es ist zugegeben ziemlich blauäugig zu glauben, diese Menschen ließen sich von einer unverbindlichen Handlungsempfehlung einer App Vorschriften machen. Sobald auf ihren Bildschirmen erscheint, dass sie so und so viele Risikokontakte hatten, werden sie verächtlich abwinken. „Jetzt will mir der Staat auch schon vorschreiben, wann ich zum Arzt zu gehen habe. Ich weiß selbst am besten, was gut für mich ist.“ An dieser Stelle pochen sie auf Selbstbestimmung und Datenschutz, beim nächsten facebook-Post ist ihnen das egal.

Polarisierung reloaded

Schon vor der App hat sich immer mehr gezeigt: Corona spaltet. Wieder einmal haben die Menschen die Wahl, zu welchem Pol sie sich eher hingezogen fühlen. Sind es die Hygienedemonstranten, die Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme in ihren Reihen dulden oder sind es die Übervorsichtigen, die an der Kasse lieber drei Striche Abstand halten? Jede noch so belanglose Äußerung, jede noch so lapidare Handlung kann zu einer unwiderruflichen Einteilung in eines der Lager führen.

Vor einigen Wochen schrieb ich auf diesem Blog noch, dass ich nicht glaube, dass Corona das gleiche Polarisierungspotenzial hätte wie die Flüchtlings- oder die Klimakrise. Ich habe mich geirrt. In Wahrheit birgt die jetzige Krise ein noch größeres Polarisierungsrisiko als die Krisen zuvor.

Konsens und mehr nicht?

Und woran liegt das? Weil es keine Einigkeit gibt. Der Politiker Gregor Gysi meinte jüngst, dass der Zoff erst losging, als die ersten Lockerungen zur Debatte standen. Völlig richtig. Davor waren die getroffenen Maßnahmen ganz besonders streng. Kaum einer hatte die Möglichkeit, ungestraft aus der Reihe zu tanzen.

Die Maßnahmen erreichten dabei beinahe die Qualität von Strafgesetzen. Und im Prinzip haben sie auch so funktioniert. Die Strafandrohung war zwar nicht so hoch wie bei Strafgesetzen, aber der Druck war trotzdem da. Würde man heute oder morgen die Strafen aus dem Gesetzbuch streichen, so gäbe es weiterhin einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass man andere Menschen nicht misshandelt, sie nicht umbringt und auch niemandem etwas wegnimmt. Dieser recht lockere Konsens würde aber immer mehr aufgeweicht werden. Viele würden dann zwar die Nase rümpfen, wenn jemand im Laden klaut, passieren würde aber nichts. Genau das gleiche lässt sich seit den Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen beobachten.

Die Lockerungen übertragen nämlich immer mehr Verantwortung auf den Einzelnen. Als die Maßnahmen streng waren, waren die meisten von dieser Verantwortung befreit. Sie mussten sich schlicht an Regeln halten. Durch die Lockerungen können die Menschen nun mehr und mehr selbst entscheiden, welche Maßnahmen sie als sinnvoll erachten und an welche sie sich halten wollen. Sie können sich ihre eigene Meinung machen. Das ist prinzipiell gut. Es liegt allerdings in der Natur unterschiedlicher Meinungen, miteinander zu konkurrieren. Kommt dann noch die akute Krisenkomponente dazu, ist die Polarisierung vorprogrammiert. So gut die Idee einer Corona-App auch sein mag, sie wird dem enormen Polarisierungspotenzial der Krise nicht beikommen können.


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