Der politische Star der Pandemie

Lesedauer: 9 Minuten

Ein Stück Stoff gegen die Pandemie – keiner anderen Maßnahme wird so viel Bedeutung beigemessen wie der Maske. Der Weg zur Maskenpflicht war lang – zu lang, wie einige sicherlich sagen werden. Auf den Tag genau seit drei Monaten ist in Baden-Württemberg das Tragen der Maske Pflicht. Viele setzen ganz aktuell große Hoffnungen in die Maske, eine zweite Welle der Pandemie möglichst milde ausfallen zu lassen. Eine ziemlich große Aufgabe für ein bisschen Stoff könnte man meinen. Doch aus den Kinderschuhen der Schutzmaßnahme ist die Maske längst herausgewachsen. Immer häufiger missbrauchen einige Spezialisten den Mund-Nase – Schutz dazu, politische Spielchen mit ihm zu treiben. Es wird dabei immer schwieriger zwischen rücksichtslosem Protest und bloßer Dummheit zu unterscheiden.

Wenn wir eines Tages die Pandemie überstanden haben, wenn sie vielleicht Jahrzehnte zurückliegt, was werden wir unseren Enkeln erzählen? Es ist unwahrscheinlich genug, dass wir dann noch in der Welt leben, wie wir sie jetzt kennen. Das Klima wird sich deutlich verändert haben, weite Teile der Erde werden nicht mehr bewohnbar sein, vielleicht hat uns bis dahin eine weitere Pandemie heimgesucht. Aber all diese Szenarien einmal ausgeblendet, was werden wir der Enkelgeneration über Corona sagen? Wir können von abstrakten wirtschaftlichen Folgen reden, die unsere Kindeskinder niemals begreifen werden, wenn sie in einer stabilen und wirtschaftlich starken Umgebung aufwachsen. Sie werden es zur Kenntnis nehmen, vielleicht Mitleid empfinden, so wie wir es tun, wenn wir uns die Lebensrealität unserer Großeltern und Vorfahren vor Augen führen. Aber eine Frage werden wir uns gefallen lassen müssen: Was war mit der Maske?

Gute Miene zum bösen Spiel

Denn wenn die Krankheit überwunden ist, verschwindet auch eine schwere Last. Die Rückkehr zur Normalität wird äußerst schwer, aber auch unverzichtbar. Was bleibt sind die Erinnerungen, über die natürlich niemand gerne reden wird. Aber es bleiben auch die Bilder von Menschen mit Maske, die bereits heute erstaunlich viele Menschen voller Inbrunst von sich machen. Der Masken-Selfie gehört in den Social Media bereits zum guten Stil. Stolz halten viele ihre Maske in die Kamera, als wäre die Pandemie ein schlechter Witz, ein Modegag, den es unbedingt auf Kamera festzuhalten gilt. Viel zu gut gelaunt werden wir unseren Enkeln auf diesen Fotos entgegenstrahlen wie es unsere eigenen Vorfahren taten, obwohl sie außerhalb der Fotos nicht viel zu lachen hatten.

Die Maske wird auf lange der Indikator dafür sein, wann ein Foto entstanden ist. „Das war doch bei Corona.“ Tatsächlich ist die Maske der offensichtlichste Ausdruck der Coronakrise. Sie ist nicht nur in den Medien omnipräsent. Bei jedem Gang nach draußen, bei jeder Bahnfahrt und bei jedem Einkauf erinnert sie uns daran, dass die Pandemie noch immer nicht überwunden ist. Von all den Maßnahmen, die zum Schutz vor dem Virus ergriffen wurden, ist die Maske die Maßnahme, die am meisten in die persönliche Freiheit der Menschen eingreift – zumindest kurzfristig. Denn jedes Mal, wenn wir die Maske aufziehen, müssen wir uns erneut an ihren fehlenden Tragekomfort gewöhnen. Abstandhalten kann doch jeder, Maske-Tragen aber will gelernt sein.

Die Maske als Politikum

Die Pflicht, Mund und Nase zu bedecken, wurde von Anfang an heiß diskutiert. Kommt die Maskenpflicht? Wie lange? Wo muss sie getragen werden? Inzwischen hat man sich beinahe an den Stofffetzen gewöhnt, da reden einzelne von Lockerungen. In einer dicht besiedelten Welt, in der Abstand halten oft gar nicht so leicht ist, belegte die Maske bald Platz 1 unter den Schutzmaßnahmen. Einerseits machte sie eine Ansteckung mit dem Virus trotz fehlendem Abstand bei korrekter Verwendung unwahrscheinlicher. Andererseits nutzen viele die Maske immer häufiger dazu, mit ihr ein politisches Statement zu setzen.

Denn häufig gibt die Maske, gewollt oder nicht gewollt, Aufschluss über die persönliche Haltung zur Pandemie. Falsch- oder Nichtträgern ist die eigene Gesundheit und die ihrer Mitmenschen entweder egal oder sie schätzen die Bedrohung aus unterschiedlichen Gründen nicht so groß ein. Andere wiederum instrumentalisieren die Maske dazu, um politisch Stellung zu beziehen. Sie tragen ihre Masken bewusst locker um den Hals oder unter dem Kinn, um bei Ansprache das Virus herunterzuspielen und von Grundrechtsverletzung und Totalüberwachung zu schwafeln.

Weil sie keinerlei Berührungspunkte mit dem Virus haben, mit der Maske gezwungenermaßen aber doch, ist die Bedrohung durch die Maske für sie realer. Wahrscheinlich kennen sie niemanden, der an dem Virus erkrankt oder gar gestorben ist, sie arbeiten vermutlich auch nicht in gesundheitlichen Einrichtungen und einen Nobelpreis für Medizin haben sie womöglich auch noch nie gewonnen. Darum schustern sie sich ihre heile Welt zusammen. Die Maske identifizieren sie in dieser Welt als Störenfried.

(K)eine heile Welt

Natürlich will jeder Mensch in einer Welt ohne Sorgen und Probleme leben. Denn Probleme zu erkennen und sie anzupacken, bedeutet Verantwortung zu übernehmen. Davor haben viele Menschen Angst. Und deswegen schauen sie zu Menschen auf, die ihnen das Gefühl geben, richtig zu handeln. Bundeskanzlerin Angela Merkel und ihr österreichischer Amtskollege Sebastian Kurz gehen regelmäßig mit gutem Beispiel voran und tragen Maske. Gestalten wie Jair Bolsonaro und Donald Trump hingegen nutzen die Maske rein für ihre politischen Zwecke. Erst vor kurzem zog der brasilianische Präsident trotz Corona-Erkrankung die Maske in Beisein von Kameras und Journalisten ab, um die Harmlosigkeit des Virus zu untermauern. Corona greift wohl doch schneller als erwartet das Gehirn an.

Doch scheinbar erreichen solche Politiker sehr viele Menschen. Sie schaffen es, den Menschen einzureden, dass in Wahrheit alles halb so wild ist und dass die da oben ein falsches Spiel treiben. Die Maske, als der greifbarste Ausdruck der Pandemiemaßnahmen mutiert für diese Menschen zum roten Tuch. Sie verteufeln diesen Eingriff in ihre Persönlichkeitsrechte und wehren sich mit Zähnen und Klauen dagegen. Keine Gelegenheit wird ausgelassen, Stunk gegen die Maskenpflicht zu machen. Das alles sei doch nur eine von Bill Gates initiierte Verschwörung, die Maske soll auch symbolisch die Redefreiheit beschneiden, manche reden vom Merkel-Maulkorb. Dann wiederum besteigen ebensolche Menschen ein öffentliches Nahverkehrsmittel und ziehen sich noch vor Öffnen der Türen die Maske ins Gesicht.

Ungewollt politisch

Diese Doppelmoral, dieses zwiespältige – ich bin eigentlich gegen die Maske, möchte mich aber nicht zu explizit gegen die Mehrheit stellen – ist eine unglaubliche Rückgratlosigkeit. Einerseits diffamiert man die Maske als direkten Eingriff in die Grundrechte, als einen Angriff auf die freie persönliche Entfaltung, andererseits fügt man sich der verhassten Obrigkeit. Teilweise schaffen es diese Menschen, die Maske im selben Moment zu politisieren und ihr gleichzeitig die politische Dimension zu nehmen.

Denn die Maske ist in erster Linie kein politisches Instrument. Sie ist eine sinnvolle Maßnahme, die dem Gesundheitsschutz dient. Erst die Ablehnung der Maske eröffnet ihr einen politischen Raum. Es sind nicht Menschen wie Merkel, Macron oder Kurz, die die Maske politisieren. Es sind die Bequemen, die Gegner der Maske, die keine Gelegenheit ungenutzt lassen, um die Maske in ein Politikum zu verwandeln.

Von Idiotie und Pandemie

Die Übergänge zwischen Idiotie und politischem Statement sind dabei fließend. Es wird zunehmend schwierig zu unterscheiden, wer die Maske aus Nachlässigkeit falsch trägt oder wer bewusst unser aller Gesundheit gefährdet. Solche, die die Maske permanent unterhalb der Nase tragen, sie aber wenigstens konsequent in Bus, Bahn und beim Einkaufen aufsetzen, gehen gerade noch so als Vollidioten durch. Vielleicht meinen es einige von ihnen nicht mal böse. Sie glauben, ihren Teil zur Pandemiebekämpfung beizutragen, obwohl sie dem Virus durch ihre grenzenlose Dummheit enormen Vorschub leisten. Möglicherweise sind sie zu bequem, um der Wahrheit ins Auge zu sehen. Lieber machen sie gute Miene zum bösen Spiel. Es gibt eine Verordnung, also wird sich daran gehalten. Solche Mitbürger sind die unpolitischsten Menschen, die man sich nur vorstellen kann. Sie halten den Mund – und die Maske unterstützt sie offensichtlich dabei.

Dann gibt es die Verweigerer. Deren egoistisches Verhalten macht es ihnen unmöglich, sich auf die Gnade der Idiotie zu berufen. Sie setzen sich mit Maske in öffentliche Verkehrsmittel und betreten mit Maske die Geschäfte des Einzelhandels. Die Maske schwingt allerdings locker um ihren Hals; ans Aufziehen denken diese Gefährder nicht. Ganz bewusst verweigern sie sich dem Kampf gegen das Virus. Die Maske besitzen sie einerseits zu Alibizwecken, andererseits, um den Menschen in ihrem Umfeld zu beweisen, dass das Virus nicht so schlimm ist und sie auch ohne Mund-Nase – Schutz gut durchkommen.

In vollem Bewusstsein der Fahrlässigkeit ihres Handelns bringen sie alle anderen Menschen in Gefahr. Sie sorgen mindestens indirekt für steigende Fallzahlen, knappe Krankenhauskapazitäten und nehmen denen die Maske weg, die sie dringend benötigen. Sie sind Terroristen am Gesundheitssystem und es ist mehr als bedauerlich, dass die Gesellschaft diese Menschen duldet und mitträgt.

Immer mehr Menschen scheinen es für unnötig zu halten, in Bus und Bahn die Maske korrekt aufzusetzen, wenn sie weniger als drei Stationen fahren. Sie wollen allen zeigen, dass sie die Lage jederzeit unter Kontrolle haben, dass sie stärker sind als das Virus. Dabei ist es ihre chronische Angst davor, Verantwortung zu übernehmen, die sich schon viel länger als die Corona-Pandemie global breitmacht. Wegsehen, sich nur um sich selbst kümmern, Ellbogen ausfahren und nichts wie geradeaus – diese generelle Haltung ist alles andere als hilfreich im Kampf gegen die Pandemie.


Mehr zum Thema:

Kein Rückgrat

Hamsterkäufe und anderer Volkssport

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Kein Rudeltier

Lesedauer: 8 Minuten

Schneller, weiter höher – das Erfolgsrezept für Innovation treibt die Menschen von jeher an. Laufend fühlt man sich herausgefordert, andere zu überbieten. Keiner will in einem schlechten Licht dastehen. Wer nicht mitkommt, wird notfalls auch im Regen stehengelassen. Der Mensch kann nicht mit seinen Artgenossen, aber eben auch nicht ohne. Gemeinsam bewegen sie sich wie eine Herde ständig weiter. Den Schritt geben die Ersten vor, ihn zu halten ist Aufgabe der Mitte. Rücksicht und Solidarität sind in einer solchen Konstellation Werte, die oft auf der Strecke bleiben.

Going with the Flow

Follower auf Instagram, Likes auf facebook – die Währung in den sozialen Medien ist von Klicks abhängig. Jeder will sich profilieren, keiner schlecht dastehen. Wer nicht mitmacht, hat schon verloren. Ein neuer Foodporn auf Instagram. Manche verdrehen genervt die Augen, andere klatschen heftig Applaus. Entziehen kann sich solchen Trends keiner, nicht mal Totalverweigerer. Denn die müssen sich zumindest dafür rechtfertigen, dass sie die neueste App noch nicht auf ihrem nagelneuen Smartphone installiert haben.

Mitmachen und sich irgendwie über Wasser halten. Mit dem Strom schwimmen. So denken und handeln viele. Bloß nicht abgehängt werden. In dieser Umgebung keimen viele neue Ideen auf. Mancheine Errungenschaft setzt sich durch – die eine nur kurzfristig, die andere auf Dauer. Es gab eine Zeit, da war das Telefon der heißeste Scheiß. Wer es hatte, war ein Trendsetter. Heute ist es eine Selbstverständlichkeit. Und so war es bei vielen Neuerungen: kaum einer hypet heute noch das Internet wie es unsere Vorfahren aus den 1990ern gemacht haben. Es ist fester Bestandteil unseres Lebens geworden. Keiner tut sich mehr besonders damit hervor, wenn er verkündet, dass er jetzt Internet hat.

Zusehen und lernen

Einige wenige fangen damit an. Es werden immer mehr, dann muss es ja gut sein. So wird ein Hype zum Massenphänomen. Dieses Prinzip funktioniert bei wirklichen Innovationen wie Auto, Telefon und Internet genau so wie bei nicht so erfreulichen Erscheinungen wie Hamsterkäufen. Was?! Das Klopapier wird knapp, jeder kauft sich eine Rolle? Schnell auch noch gegen akute Diarrhoe wappnen. Nicht dass die zwanzig Dosensuppen schlecht geworden sind.

Nach diesem Muster hat sich der Mensch schon immer fortbewegt. Schauen, was die anderen machen, es nachmachen, es besser machen. Dieses Fressneid-Gen wohnt praktisch jedem Menschen inne. Manche haben es gut im Griff, andere sind im Griff. Denn viel zu oft befördert diese Art des Handelns ein unreflektiertes Denken. Viel zu viele Menschen gehen davon aus, dass etwas automatisch gut ist, wenn viele es machen. Im schlimmsten Fall legen sie dann noch eins oben drauf, um zu beweisen, dass sie es am besten können.

Die Maskenpflicht wurde zunächst von den meisten akzeptiert, weil sie glaubten, es wäre eine sinnvolle Maßnahme. Dann hatten sie das erste Mal eine Maske auf und -huch! Brille beschlagen. Auweia, Schweiß im Gesicht! Hätten sich nicht so viele an die Maskenpflicht gehalten, hätten einige das Teil bereits nach einmaligem Tragen in die Ecke verbannt. Eigentlich hatten sie gar keinen Bock auf den Fetzen, aber alle machten es, also besser ruhig sein. Inzwischen gibt es die Maskenpflicht seit mehreren Monaten, irgendwann ist auch mal gut. Die im April noch schwiegen, werden immer lauter.

Kein Rudeltier

Wie in einer Herde orientieren sich die Menschen stets daran, was die anderen machen. Denn ein Rudeltier ist der Mensch garantiert nicht. Dafür ist er viel zu innovativ, viel zu dynamisch und viel zu egoistisch. In der Herde zählt einzig das Vorankommen, der Fokus liegt auf der Mitte, wenn nicht gar auf der Spitze. Ein Rudel hingegen orientiert sich immer an den schwächsten aus seinen Reihen. Die Herde hat kein Problem damit, die schwächsten Glieder abzukoppeln. Wer nicht mithalten kann, wird zum Sterben zurückgelassen.

Gerade in der Sozialstruktur unserer heutigen Gesellschaft wird dieser Ellbogengedanke immer deutlicher. Sozialschwachen wird bereits durch diese Begrifflichkeit eingetrichtert, dass sie schwächer sind als andere. Auf sie wird herabgesehen, sie zählen weniger in der Gesellschaft. Anders als ein gewisser Slogan propagiert, gewinnt in unserer Gesellschaft immer mehr das Ich, immer weniger das Wir. Getrimmt werden wir darauf bereits sehr früh und in immer stärkerem Ausmaß. Einst zeigte das Fernsehgerät kleinen Gruppen, wo es langging. Heute wurde die Röhre von handlichen Smartphones abgelöst, die jedem in Privatvorstellungen den Weg zum ewigen Glück weisen.

Stärker als die anderen

Auch wenn jedes Herdenmitglied die anderen indirekt antreibt, hat jeder die Möglichkeit, zu jedem beliebigen Zeitpunkt aus der Herde auszubrechen. Denn in der Herde bleibt jeder ein Individuum. Die wenigsten trauen sich diesen Ausbruch überhaupt, noch wenigeren wird gefolgt. Deswegen begnügen sich die meisten damit, die anderen einfach zu überholen, um das Tempo zu beeinflussen. Dann fühlen sie sich ganz besonders stark, übersehen allerdings, dass sie weiterhin an die Herde gebunden sind. Diese vermeintliche Individualität befriedigt den Selbstgeltungsdrang, der jedem Menschen innewohnt. Echte Solidarität wird dadurch jedoch eher verhindert. Warum soll ich für jemanden aufkommen, der so penetrant aus der Reihe tanzt? Der entweder einen Ausbruchsversuch gewagt hat oder nicht schnell genug ist, um hinterherzukommen.

In einer Gesellschaft, die in solchen Mustern denkt, haben es die Schwachen immer schwer. Das persönliche Vorankommen wird über alles gestellt, was es blockieren könnte, wird als Bedrohung bekämpft. Mit dieser Grundeinstellung begegnen viele übrigens auch den Flüchtlingen aus Syrien und anderswo, die vor Krieg, Tod und Vertreibung flüchten. Sie sehen diese Menschen als Klotz am Bein, deren Mission daraus besteht, sie zu schröpfen. Sie geben die Missachtung, die sie bis vor kurzem selbst zu spüren bekamen an die neuen Schwächsten weiter, ohne zu merken, dass sie sich damit zum Handlanger der Stärksten machen.

Der Zug hält nur in der Krise

Jetzt erlebt die Menschheit eine für alle nie dagewesene Pandemie, die viele Gesundheitssysteme an den Rand des Zusammenbruchs treibt. Menschen leiden und Menschen sterben. Menschen helfen aber auch. Viele tun das unter den widrigsten Umständen beruflich, andere unterstützen Freunde, Bekannte und Nachbarn. Von einer riesigen Welle der Solidarität ist die Rede. Was wir in den letzten Wochen und Monaten allerdings beobachtet haben, ist nicht zwangsläufig Solidarität. Es ist Barmherzigkeit. Echte Solidarität entsteht nicht plötzlich. Sie braucht Zeit, um sich zu entfalten. Und sie überdauert die Krise. Sie ist vor der Krise da und sie ist nach der Krise da.

Eine aus der Krise geborene Solidarität, so erfreulich sie auch sein mag, ist selten von langer Dauer. In einer Gesellschaft, die wenig an Solidarität gewohnt ist, schlägt sie nach einiger Zeit eher in Frust um. Genau das ist momentan bei der Maskenpflicht zu beobachten. Wer wirklich solidarisch ist, der trägt jetzt eine Maske, gerade um Not zu verhindern. Das ist übrigens auch der Unterschied zwischen Solidarität und Barmherzigkeit: das eine verhindert Not, während das andere die Not lindert.

Die Konjunkturprogramme der Bundesregierung sollten daher auch eher Barmherzpakete heißen. Oder vielleicht auch Herdentreiberpakete. Denn sie versorgen in der Krise unverhältnismäßig die, welche sich vor der Krise wirklicher Solidarität stets entzogen haben – und es auch nach der Krise wahrscheinlich weiter tun werden. Sie stopfen die Löcher derer, die es eben gerade zu verantworten haben, dass andere von schweren Zeiten so hart getroffen werden. Nun lecken sie sich ihre Wunden, denn der Zug ist für alle vorerst zum Stillstand gekommen. Doch bald wird die Herde weiterziehen, angeleitet von den Schnellsten, während die Langsameren immer weiter zurückliegen.


Mehr zum Thema:

Hamsterkäufe und anderer Volkssport

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Smartphone und Verantwortung in einer Hand

Beitragsbild: iXimus, pixabay.

Lesedauer: 9 Minuten

Gesundheitsminister Jens Spahn ist sich sicher: die Corona-App wird einen erheblichen Beitrag im Kampf gegen das Virus leisten. Fortan werden alle Nutzer gewarnt, wenn sie in den vergangenen zwei Wochen einem Risikokontakt ausgesetzt waren. Viele kritisierten das Projekt von Anfang an, Datenschützer waren die erbittertsten Opponenten. Kaum waren diese Bedenken ausgeräumt, sprach man die App nahezu heilig. Eines vergessen viele aber nach wie vor: Die neue App legt die Verantwortung sprichwörtlich in die Hand der Nutzer. Der Kampf gegen Corona ist aber keine Einzelaufgabe, es ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Die App kann dem im Zweifelsfall zuwiderlaufen.

Operation „Beruhigungssauger“

Seit Dienstag ist sie da: die Corona-App. Lange erwartet, häufig kritisiert, endlich fertig. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist sichtlich stolz auf diesen Meilenstein im Kampf gegen Corona. Die Corona-App war immer sein Herzensprojekt. Viel Gegenwind musste er gegen seine Pläne aushalten. Gerade Datenschützer gingen auf die Barrikaden, als sie von dem Mammutprojekt hörten. Auch bei vielen Oppositionellen und Bürgern schrillten die Alarmglocken: Eine neue App? Was ist mit dem Datenschutz? Verschwörungstheoretiker machten sich die Pläne des Ministers sogleich zunutze und schürten Ängste, die App sei nur ein weiterer Schritt in Richtung Totalüberwachung der Bevölkerung.

Spahn nahm sich die Kritik tatsächlich zu Herzen. Zu groß war wohl die Sorge, seiner Bewerbungsmappe für das Kanzleramt würde eine wichtige Referenz fehlen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Der dezentralen Lösung wurde tatsächlich der Vortritt gelassen. Die Daten werden also nicht auf einem zentralen Server gespeichert, die sogenannte Begegnungsprüfung findet auf den Endgeräten statt. Wie ein Kleinkind, dem man einen Lolli gibt, waren die Datenschützer augenblicklich still. Und die anderen: auch. Als das Thema Datenschutz vom Tisch war, verstummte auch die Kritik an dem Projekt.

Argumente mit notorischem Geltungsdrang

Wieder einmal hat es eine einzige Frage geschafft, die Debatte zu beherrschen. Fragen nach Zielgenauigkeit, Notwendigkeit und Benutzerfreundlichkeit der App mussten den kürzeren ziehen. Die Hauptrolle wurde dem Thema Datenschutz verliehen. Mit Sicherheit eine wichtige Frage, aber beileibe nicht die einzige, die es zu beantworten gilt.

Das Muster ist bekannt: Bei so vielen anderen Themen der letzten Jahre gab es immer wieder Einzelfragen und Teilaspekte, die die Diskussion dominierten. Beispiel Tempolimit: Das Thema Verkehrssicherheit wurde zwar in die Bewertung der Geschwindigkeitsbegrenzung einbezogen, Knackpunkt war aber immer die klimafreundliche Komponente der Maßnahme. Weniger Motorleistung verursacht weniger klimaschädliche Emissionen, das ist Fakt. Dass eine generelle Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn aber auch einen nicht unerheblichen Beitrag zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr beiträgt, sollte fakter sein.

Immer wieder lenkten andere, teilweise schlicht unwichtigere Nebenfragen von der echten Problematik ab. Dabei gibt es gerade bei der Corona-App so viele andere Fragen, die es dringend zu beantworten gilt. Stattdessen verbeißen sich viele Kritiker beinahe fetischhaft in das Totschlagargument Datensicherheit. Ob auch bei den Bürgern durch den besseren Datenschutz das Vertrauen in die App gewachsen ist, werden die nächsten Tage und Wochen zeigen. Man sollte aber dringend aufhören zu meinen, man könne mit der Reduzierung von großen Sachverhalten auf ein einziges Thema die Bürger für dumm verkaufen.

Keine Maßnahme wie die anderen

Es gibt neben Datentransparenz noch einige weitere Fragen, von denen der Erfolg der App abhängen sollte. Es wurde wenig danach gefragt, wie zielgenau die neue Anwendung arbeitet, und wenn, dann nur um einen Datenmissbrauch mit Standortdaten zu verhindern. Noch seltener kam die Frage auf, wie viel Nutzen die App tatsächlich entfalten kann. In der Theorie ist die App eine gute Sache. Neben weiteren Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie ist sie eine sinnvolle Ergänzung, um die Menschen zu schützen. Keine der geltenden Maßnahmen kann alleine den Kampf gegen Corona aufnehmen. Masken sind ohne Abstand praktisch Stoffverschwendung. Genau so wird auch die App nur dann den größtmöglichen Erfolg haben, wenn die anderen Maßnahmen eingehalten werden.

Und daran habe ich starke Zweifel. Denn die App reiht sich nahtlos in die Serie von Lockerungen ein, die oftmals das Prädikat „fahrlässig“ verdienen. In erster Linie ist die App nämlich ein Frühwarnsystem, um Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass sie Kontakt zu einer mit Corona infizierten Person hatten. Sie ist deshalb nicht Maßnahmen wie der Maskenpflicht und dem Abstandsgebot gleichzusetzen. Im Gegensatz zu diesen expliziten Schutzmaßnahmen hemmt sie nicht das Infizierungsrisiko ihrer Nutzer. Sie meldet Erkrankungsfälle im näheren Umfeld, um etwaigen Risikokontakten vorzubeugen.

Unverbindliche Handlungsempfehlung

Wie bereits die Lockerungen vor ihr, macht die App den Infektionsschutz noch mehr zur Privatsache. Immer weniger müssen Bürgerinnen und Bürger lästige Regeln beachten, die eine Ausbreitung des Virus verhindern sollen. Und tatsächlich ist bis auf die Maskenpflicht fast wieder der Normalzustand eingetreten. An Supermarktkassen ist wieder Gruppenkuscheln angesagt. Die Abstandslinien sind von tollwütigen Klopapierkäufern längst weggewetzt worden. Immer mehr Massenaufläufe in Parks, bei Demos und leider auch Corona-Partys entwickeln sich zu neuen Infektionsherden. Nach monatelanger staatsverordneter Flaute müssen manche Gaststätten inzwischen beinahe schon überlegen, wegen Überlastung zu schließen. Gerade dort ist die Handhabung der Verordnungen besonders lax. In den vergangenen Wochen waren immer wieder Restaurants in Verbindung mit Coronafällen in den Medien.

Die neue App kann leicht zu noch mehr Unvorsicht verleiten. Bereits bei der Maske war sonnenklar, dass manche Menschen schlichtweg unfähig dazu waren, sie richtig aufzusetzen. Mit ihrer Leichtsinnigkeit gefährdeten sie ihre Mitmenschen und leisteten dem Virus erheblichen Vorschub. Es ist zugegeben ziemlich blauäugig zu glauben, diese Menschen ließen sich von einer unverbindlichen Handlungsempfehlung einer App Vorschriften machen. Sobald auf ihren Bildschirmen erscheint, dass sie so und so viele Risikokontakte hatten, werden sie verächtlich abwinken. „Jetzt will mir der Staat auch schon vorschreiben, wann ich zum Arzt zu gehen habe. Ich weiß selbst am besten, was gut für mich ist.“ An dieser Stelle pochen sie auf Selbstbestimmung und Datenschutz, beim nächsten facebook-Post ist ihnen das egal.

Polarisierung reloaded

Schon vor der App hat sich immer mehr gezeigt: Corona spaltet. Wieder einmal haben die Menschen die Wahl, zu welchem Pol sie sich eher hingezogen fühlen. Sind es die Hygienedemonstranten, die Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme in ihren Reihen dulden oder sind es die Übervorsichtigen, die an der Kasse lieber drei Striche Abstand halten? Jede noch so belanglose Äußerung, jede noch so lapidare Handlung kann zu einer unwiderruflichen Einteilung in eines der Lager führen.

Vor einigen Wochen schrieb ich auf diesem Blog noch, dass ich nicht glaube, dass Corona das gleiche Polarisierungspotenzial hätte wie die Flüchtlings- oder die Klimakrise. Ich habe mich geirrt. In Wahrheit birgt die jetzige Krise ein noch größeres Polarisierungsrisiko als die Krisen zuvor.

Konsens und mehr nicht?

Und woran liegt das? Weil es keine Einigkeit gibt. Der Politiker Gregor Gysi meinte jüngst, dass der Zoff erst losging, als die ersten Lockerungen zur Debatte standen. Völlig richtig. Davor waren die getroffenen Maßnahmen ganz besonders streng. Kaum einer hatte die Möglichkeit, ungestraft aus der Reihe zu tanzen.

Die Maßnahmen erreichten dabei beinahe die Qualität von Strafgesetzen. Und im Prinzip haben sie auch so funktioniert. Die Strafandrohung war zwar nicht so hoch wie bei Strafgesetzen, aber der Druck war trotzdem da. Würde man heute oder morgen die Strafen aus dem Gesetzbuch streichen, so gäbe es weiterhin einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass man andere Menschen nicht misshandelt, sie nicht umbringt und auch niemandem etwas wegnimmt. Dieser recht lockere Konsens würde aber immer mehr aufgeweicht werden. Viele würden dann zwar die Nase rümpfen, wenn jemand im Laden klaut, passieren würde aber nichts. Genau das gleiche lässt sich seit den Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen beobachten.

Die Lockerungen übertragen nämlich immer mehr Verantwortung auf den Einzelnen. Als die Maßnahmen streng waren, waren die meisten von dieser Verantwortung befreit. Sie mussten sich schlicht an Regeln halten. Durch die Lockerungen können die Menschen nun mehr und mehr selbst entscheiden, welche Maßnahmen sie als sinnvoll erachten und an welche sie sich halten wollen. Sie können sich ihre eigene Meinung machen. Das ist prinzipiell gut. Es liegt allerdings in der Natur unterschiedlicher Meinungen, miteinander zu konkurrieren. Kommt dann noch die akute Krisenkomponente dazu, ist die Polarisierung vorprogrammiert. So gut die Idee einer Corona-App auch sein mag, sie wird dem enormen Polarisierungspotenzial der Krise nicht beikommen können.


Mehr zum Thema:

Kein Rückgrat

Gefühlte Demokratie

Das Heer der Unaufgeklärten

Auf Umwegen durch die Krise

Die Stunde der Volksparteien

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!