Kein Rudeltier

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Schneller, weiter höher – das Erfolgsrezept für Innovation treibt die Menschen von jeher an. Laufend fühlt man sich herausgefordert, andere zu überbieten. Keiner will in einem schlechten Licht dastehen. Wer nicht mitkommt, wird notfalls auch im Regen stehengelassen. Der Mensch kann nicht mit seinen Artgenossen, aber eben auch nicht ohne. Gemeinsam bewegen sie sich wie eine Herde ständig weiter. Den Schritt geben die Ersten vor, ihn zu halten ist Aufgabe der Mitte. Rücksicht und Solidarität sind in einer solchen Konstellation Werte, die oft auf der Strecke bleiben.

Going with the Flow

Follower auf Instagram, Likes auf facebook – die Währung in den sozialen Medien ist von Klicks abhängig. Jeder will sich profilieren, keiner schlecht dastehen. Wer nicht mitmacht, hat schon verloren. Ein neuer Foodporn auf Instagram. Manche verdrehen genervt die Augen, andere klatschen heftig Applaus. Entziehen kann sich solchen Trends keiner, nicht mal Totalverweigerer. Denn die müssen sich zumindest dafür rechtfertigen, dass sie die neueste App noch nicht auf ihrem nagelneuen Smartphone installiert haben.

Mitmachen und sich irgendwie über Wasser halten. Mit dem Strom schwimmen. So denken und handeln viele. Bloß nicht abgehängt werden. In dieser Umgebung keimen viele neue Ideen auf. Mancheine Errungenschaft setzt sich durch – die eine nur kurzfristig, die andere auf Dauer. Es gab eine Zeit, da war das Telefon der heißeste Scheiß. Wer es hatte, war ein Trendsetter. Heute ist es eine Selbstverständlichkeit. Und so war es bei vielen Neuerungen: kaum einer hypet heute noch das Internet wie es unsere Vorfahren aus den 1990ern gemacht haben. Es ist fester Bestandteil unseres Lebens geworden. Keiner tut sich mehr besonders damit hervor, wenn er verkündet, dass er jetzt Internet hat.

Zusehen und lernen

Einige wenige fangen damit an. Es werden immer mehr, dann muss es ja gut sein. So wird ein Hype zum Massenphänomen. Dieses Prinzip funktioniert bei wirklichen Innovationen wie Auto, Telefon und Internet genau so wie bei nicht so erfreulichen Erscheinungen wie Hamsterkäufen. Was?! Das Klopapier wird knapp, jeder kauft sich eine Rolle? Schnell auch noch gegen akute Diarrhoe wappnen. Nicht dass die zwanzig Dosensuppen schlecht geworden sind.

Nach diesem Muster hat sich der Mensch schon immer fortbewegt. Schauen, was die anderen machen, es nachmachen, es besser machen. Dieses Fressneid-Gen wohnt praktisch jedem Menschen inne. Manche haben es gut im Griff, andere sind im Griff. Denn viel zu oft befördert diese Art des Handelns ein unreflektiertes Denken. Viel zu viele Menschen gehen davon aus, dass etwas automatisch gut ist, wenn viele es machen. Im schlimmsten Fall legen sie dann noch eins oben drauf, um zu beweisen, dass sie es am besten können.

Die Maskenpflicht wurde zunächst von den meisten akzeptiert, weil sie glaubten, es wäre eine sinnvolle Maßnahme. Dann hatten sie das erste Mal eine Maske auf und -huch! Brille beschlagen. Auweia, Schweiß im Gesicht! Hätten sich nicht so viele an die Maskenpflicht gehalten, hätten einige das Teil bereits nach einmaligem Tragen in die Ecke verbannt. Eigentlich hatten sie gar keinen Bock auf den Fetzen, aber alle machten es, also besser ruhig sein. Inzwischen gibt es die Maskenpflicht seit mehreren Monaten, irgendwann ist auch mal gut. Die im April noch schwiegen, werden immer lauter.

Kein Rudeltier

Wie in einer Herde orientieren sich die Menschen stets daran, was die anderen machen. Denn ein Rudeltier ist der Mensch garantiert nicht. Dafür ist er viel zu innovativ, viel zu dynamisch und viel zu egoistisch. In der Herde zählt einzig das Vorankommen, der Fokus liegt auf der Mitte, wenn nicht gar auf der Spitze. Ein Rudel hingegen orientiert sich immer an den schwächsten aus seinen Reihen. Die Herde hat kein Problem damit, die schwächsten Glieder abzukoppeln. Wer nicht mithalten kann, wird zum Sterben zurückgelassen.

Gerade in der Sozialstruktur unserer heutigen Gesellschaft wird dieser Ellbogengedanke immer deutlicher. Sozialschwachen wird bereits durch diese Begrifflichkeit eingetrichtert, dass sie schwächer sind als andere. Auf sie wird herabgesehen, sie zählen weniger in der Gesellschaft. Anders als ein gewisser Slogan propagiert, gewinnt in unserer Gesellschaft immer mehr das Ich, immer weniger das Wir. Getrimmt werden wir darauf bereits sehr früh und in immer stärkerem Ausmaß. Einst zeigte das Fernsehgerät kleinen Gruppen, wo es langging. Heute wurde die Röhre von handlichen Smartphones abgelöst, die jedem in Privatvorstellungen den Weg zum ewigen Glück weisen.

Stärker als die anderen

Auch wenn jedes Herdenmitglied die anderen indirekt antreibt, hat jeder die Möglichkeit, zu jedem beliebigen Zeitpunkt aus der Herde auszubrechen. Denn in der Herde bleibt jeder ein Individuum. Die wenigsten trauen sich diesen Ausbruch überhaupt, noch wenigeren wird gefolgt. Deswegen begnügen sich die meisten damit, die anderen einfach zu überholen, um das Tempo zu beeinflussen. Dann fühlen sie sich ganz besonders stark, übersehen allerdings, dass sie weiterhin an die Herde gebunden sind. Diese vermeintliche Individualität befriedigt den Selbstgeltungsdrang, der jedem Menschen innewohnt. Echte Solidarität wird dadurch jedoch eher verhindert. Warum soll ich für jemanden aufkommen, der so penetrant aus der Reihe tanzt? Der entweder einen Ausbruchsversuch gewagt hat oder nicht schnell genug ist, um hinterherzukommen.

In einer Gesellschaft, die in solchen Mustern denkt, haben es die Schwachen immer schwer. Das persönliche Vorankommen wird über alles gestellt, was es blockieren könnte, wird als Bedrohung bekämpft. Mit dieser Grundeinstellung begegnen viele übrigens auch den Flüchtlingen aus Syrien und anderswo, die vor Krieg, Tod und Vertreibung flüchten. Sie sehen diese Menschen als Klotz am Bein, deren Mission daraus besteht, sie zu schröpfen. Sie geben die Missachtung, die sie bis vor kurzem selbst zu spüren bekamen an die neuen Schwächsten weiter, ohne zu merken, dass sie sich damit zum Handlanger der Stärksten machen.

Der Zug hält nur in der Krise

Jetzt erlebt die Menschheit eine für alle nie dagewesene Pandemie, die viele Gesundheitssysteme an den Rand des Zusammenbruchs treibt. Menschen leiden und Menschen sterben. Menschen helfen aber auch. Viele tun das unter den widrigsten Umständen beruflich, andere unterstützen Freunde, Bekannte und Nachbarn. Von einer riesigen Welle der Solidarität ist die Rede. Was wir in den letzten Wochen und Monaten allerdings beobachtet haben, ist nicht zwangsläufig Solidarität. Es ist Barmherzigkeit. Echte Solidarität entsteht nicht plötzlich. Sie braucht Zeit, um sich zu entfalten. Und sie überdauert die Krise. Sie ist vor der Krise da und sie ist nach der Krise da.

Eine aus der Krise geborene Solidarität, so erfreulich sie auch sein mag, ist selten von langer Dauer. In einer Gesellschaft, die wenig an Solidarität gewohnt ist, schlägt sie nach einiger Zeit eher in Frust um. Genau das ist momentan bei der Maskenpflicht zu beobachten. Wer wirklich solidarisch ist, der trägt jetzt eine Maske, gerade um Not zu verhindern. Das ist übrigens auch der Unterschied zwischen Solidarität und Barmherzigkeit: das eine verhindert Not, während das andere die Not lindert.

Die Konjunkturprogramme der Bundesregierung sollten daher auch eher Barmherzpakete heißen. Oder vielleicht auch Herdentreiberpakete. Denn sie versorgen in der Krise unverhältnismäßig die, welche sich vor der Krise wirklicher Solidarität stets entzogen haben – und es auch nach der Krise wahrscheinlich weiter tun werden. Sie stopfen die Löcher derer, die es eben gerade zu verantworten haben, dass andere von schweren Zeiten so hart getroffen werden. Nun lecken sie sich ihre Wunden, denn der Zug ist für alle vorerst zum Stillstand gekommen. Doch bald wird die Herde weiterziehen, angeleitet von den Schnellsten, während die Langsameren immer weiter zurückliegen.


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