Schweinereien

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Der Skandal des Fleischproduzenten Tönnies hat viele Menschen wachgerüttelt: Fleisch ist in Deutschland und anderswo viel zu billig. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) möchte diese Erkenntnis nutzen, um die Zustände in den Betrieben deutlich zu verbessern. Von Verbraucherinnen und Verbrauchern erhält sie dabei durchweg positive Signale. Auch andere Branchen sind bereit nachzuziehen.

Viel zu oft braucht es einen tragischen Unfall, ein Verbrechen oder eine ausgewachsene Krise, damit Missstände ans Licht kommen. So ist es jüngst auch in verschiedenen deutschen Fleischereibetrieben gewesen. Die dortigen Arbeitsverhältnisse und die Unterbringung der Arbeitskräfte waren ein sperrangelweit geöffnetes Tor für das Corona-Virus. Die bisherige Bilanz: Tausende Mitarbeiter aus mehreren Fleischereibetrieben haben sich mit dem gefährlichen Virus infiziert. Von Todesfällen in diesem Zusammenhang war bisher zum Glück nichts zu hören. Gleichwohl waren viele von den Zuständen in den Schlachtbetrieben schockiert. Immer lauter wird der Ruf nach drastischen Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter, die oft aus Ungarn oder Rumänien kommen.

Skandal mit Folgen

Der Tönnies-Skandal ist inzwischen seit mehreren Wochen publik. Viele sind nach dem ersten Entsetzen wieder zur Ruhe gekommen. Nun ist die Zeit, das Problem rational anzupacken. Und genau das soll jetzt geschehen: Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) kündigte an, dass der Fleischmarkt von Grund auf reformiert werden müsste. Der erste und vielleicht wichtigste Ansatzpunkt dabei ist der Fleischpreis. Die Ministerin ist sich sicher, dass sich an den unhaltbaren Zuständen in den Betrieben niemals etwas ändern wird, wenn Fleisch weiter zu lachhaften Discounterpreisen verscherbelt wird.

Weil sie als volksnahe Regierungsvertreterin immer auch die Sicht der Verbraucher im Blick hat, präsentierte sie erst kürzlich eine Idee, die Arbeiterwohl und Verbraucherbedürfnisse unter einen Hut bringt. Stolz verkündete sie am Montagabend die Einführung eines Mindestpreises für Fleisch. Dieser Preis wird für verschiedene Tiere pro Kilogramm Fleisch festgelegt. Die Verbraucher haben dann allerdings die Möglichkeit, auf freiwilliger Basis mehr Geld für das gekaufte Fleisch auszugeben. Die Ministerin verwies dabei auf das von ihr geplante Tierwohllabel, das ebenso auf Freiwilligkeit beruhte, allerdings schon heute erhebliche Verbesserungen in deutschen Ställen herbeigeführt hätte.

Die CDU-Politikerin nutzt bei ihrem Vorhaben die derzeitige Stimmung in der Bevölkerung. So sprachen sich seit Bekanntwerden des Skandals bei Tönnies immer wieder Bürgerinnen und Bürger dafür aus, dass sie bereit wären, deutlich mehr für Fleisch zu bezahlen. In den letzten Wochen fanden sich sogar zahlreiche Verbraucherverbände zusammen, die die Pläne der Ministerin vorantreiben. Die Allianz für Verbraucher mit Gewissen (AVG) erklärte, es wäre an der Zeit, dass alle Verbraucher ihr Konsum- und Einkaufverhalten dringend überdenken. Es könnte nicht sein, dass tumultartige Szenen entstünden, wenn die Packung Paprikalyoner für 89 Cent im Angebot wäre. Man sähe definitiv den Verbraucher in der Pflicht, damit staatliche Bemühungen nicht gegen die Wand führen wie seinerzeit mit den Milchpreisen.

Zeit zum Umdenken

Das Vorhaben der Landwirtschaftsministerin und der Verbraucherverbände stößt auf breite Zustimmung in der Bevölkerung. Viele Verbraucher sind ebenfalls der Meinung, es müsse sich dringend etwas ändern. Die anstehende Absenkung der Mehrwertsteuer ermutigt besonders viele Bürgerinnen und Bürger dazu, für Fleisch in Zukunft tiefer in die Tasche zu greifen. Doch trotz dieser steuerlichen Begünstigung müssen die meisten Kundinnen und Kunden Abstriche machen. Die alleinerziehende Friseurmeisterin und Kassiererin Fabienne R. stört das wenig. Sie erklärt: „Es ist mir unglaublich wichtig, meinen beiden Kindern die Werte zu vermitteln, auf die es im Leben ankommt. Ich möchte ihnen nichts auftischen, wofür andere auf unmenschliche Art geknechtet wurden. Deswegen zahle ich gerne etwas mehr, auch wenn das bedeutet, dass ich künftig ein bisschen länger arbeiten muss. Ich bin sehr froh, dass ich gerade die Zusage von der Wäscherei erhalten habe.“

Auch der pensionierte Kfz-Mechaniker Werner S. ist bereit, für einen höheren Fleischpreis stärker auf die Tube zu drücken. Erst neulich hat er seinen persönlichen Rekord von 65 Pfandflaschen an einem Nachmittag gebrochen. Ebenso viel Solidarität zeigt der 53-jährige Jürgen K. Der Hartz-IV – Empfänger hat sich dazu bereit erklärt, ab sofort auf sein Mittagessen zu verzichten, um sich abends ein schönes Kotelett zu fairen Bedingungen leisten zu können. Die Mittagszeit will er stattdessen dazu nutzen, noch mehr Bewerbungen zu schreiben.

Solidarität mit Wirkung

Die Fleischereibetriebe freuen sich über das Engagement ihrer Kundschaft. „Als Familienbetrieb wissen wir das Entgegenkommen der Verbraucher sehr zu schätzen. Durch die Mehreinnahmen können wir endlich unsere Mitarbeiter angemessen entlohnen“, erklärte am Nachmittag eine Sprecherin von Tönnies. Der Betrieb kündigte weitreichende Verbesserungen bei der Unterbringung seiner Arbeitskräfte an. So sollen die jetzigen Anlagen kernsaniert werden. Eine dauerhafte Versorgung mit Strom und Internet ist ebenso geplant. Außerdem soll den Arbeitern künftig den ganzen Tag Warmwasser zur Verfügung stehen, und nicht nur morgens und abends. „Wenn die gestiegenen Einnahmen das jetzige Level halten, dann können wir für die Zukunft sogar über Einzelunterbringungen der Arbeitskräfte nachdenken,“ fährt die Unternehmenssprecherin fort.

Den vielversprechenden Ankündigungen schlossen sich weitere Betriebe der Branche an. In einem knappen Pressestatement von Wiesenhof hieß es demnach: „Von den höheren Ausgaben für Fleisch profitiert nicht nur der Verbraucher. Auch wir als Produzent können für bessere Haltungsbedingungen sorgen. Wir reden hier immerhin von ganzen zwei DINA4-Blättern mehr Platz – für Vieh und Mitarbeiter wohlgemerkt.“

Geben und Nehmen

An den bemerkenswerten Entwicklungen in der Fleischbranche nehmen sich indes auch andere Bereiche ein Beispiel. Die bisher als Billigfluglinie verschriene Gesellschaft ryanair möchte es ihren Passagieren ab sofort ebenfalls ermöglichen, durch einen freiwilligen Aufpreis die Situation des Kabinenpersonals erheblich zu verbessern. ryanair verlangte bisher teilweise weniger als 30 Euro pro Ticket. Eine angemessene Entlohnung für Mitarbeiter war der Gesellschaft daher nicht zumutbar. „Hätten wir gewusst, wie zahlungswillig unsere Kundschaft ist, hätten wir unseren Mitarbeitern vieles erspart“, heißt es aus einer offiziellen Erklärung der Fluglinie.

Auch Paketzustelldienste und Pflegeheimbetreiber hoffen auf den neuen Effekt. Es sei nicht mehr mit anzusehen, wie manche Heimbewohner vor sich hinvegetierten, nur weil die Angehörigen bisher den Gürtel so eng schnallten. Paketzusteller Mahmut F. sieht gleichermaßen einer rosigen Zukunft entgegen. Er ist sich sicher: „Wenn die Empfänger meiner Pakete in Zukunft ein saftiges Trinkgeld dazugeben, kann ich bald schon nach zwölf Stunden Feierabend machen und mehr Zeit mit meiner Familie verbringen.“

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Smartphone und Verantwortung in einer Hand

Beitragsbild: iXimus, pixabay.

Lesedauer: 9 Minuten

Gesundheitsminister Jens Spahn ist sich sicher: die Corona-App wird einen erheblichen Beitrag im Kampf gegen das Virus leisten. Fortan werden alle Nutzer gewarnt, wenn sie in den vergangenen zwei Wochen einem Risikokontakt ausgesetzt waren. Viele kritisierten das Projekt von Anfang an, Datenschützer waren die erbittertsten Opponenten. Kaum waren diese Bedenken ausgeräumt, sprach man die App nahezu heilig. Eines vergessen viele aber nach wie vor: Die neue App legt die Verantwortung sprichwörtlich in die Hand der Nutzer. Der Kampf gegen Corona ist aber keine Einzelaufgabe, es ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Die App kann dem im Zweifelsfall zuwiderlaufen.

Operation „Beruhigungssauger“

Seit Dienstag ist sie da: die Corona-App. Lange erwartet, häufig kritisiert, endlich fertig. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist sichtlich stolz auf diesen Meilenstein im Kampf gegen Corona. Die Corona-App war immer sein Herzensprojekt. Viel Gegenwind musste er gegen seine Pläne aushalten. Gerade Datenschützer gingen auf die Barrikaden, als sie von dem Mammutprojekt hörten. Auch bei vielen Oppositionellen und Bürgern schrillten die Alarmglocken: Eine neue App? Was ist mit dem Datenschutz? Verschwörungstheoretiker machten sich die Pläne des Ministers sogleich zunutze und schürten Ängste, die App sei nur ein weiterer Schritt in Richtung Totalüberwachung der Bevölkerung.

Spahn nahm sich die Kritik tatsächlich zu Herzen. Zu groß war wohl die Sorge, seiner Bewerbungsmappe für das Kanzleramt würde eine wichtige Referenz fehlen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Der dezentralen Lösung wurde tatsächlich der Vortritt gelassen. Die Daten werden also nicht auf einem zentralen Server gespeichert, die sogenannte Begegnungsprüfung findet auf den Endgeräten statt. Wie ein Kleinkind, dem man einen Lolli gibt, waren die Datenschützer augenblicklich still. Und die anderen: auch. Als das Thema Datenschutz vom Tisch war, verstummte auch die Kritik an dem Projekt.

Argumente mit notorischem Geltungsdrang

Wieder einmal hat es eine einzige Frage geschafft, die Debatte zu beherrschen. Fragen nach Zielgenauigkeit, Notwendigkeit und Benutzerfreundlichkeit der App mussten den kürzeren ziehen. Die Hauptrolle wurde dem Thema Datenschutz verliehen. Mit Sicherheit eine wichtige Frage, aber beileibe nicht die einzige, die es zu beantworten gilt.

Das Muster ist bekannt: Bei so vielen anderen Themen der letzten Jahre gab es immer wieder Einzelfragen und Teilaspekte, die die Diskussion dominierten. Beispiel Tempolimit: Das Thema Verkehrssicherheit wurde zwar in die Bewertung der Geschwindigkeitsbegrenzung einbezogen, Knackpunkt war aber immer die klimafreundliche Komponente der Maßnahme. Weniger Motorleistung verursacht weniger klimaschädliche Emissionen, das ist Fakt. Dass eine generelle Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn aber auch einen nicht unerheblichen Beitrag zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr beiträgt, sollte fakter sein.

Immer wieder lenkten andere, teilweise schlicht unwichtigere Nebenfragen von der echten Problematik ab. Dabei gibt es gerade bei der Corona-App so viele andere Fragen, die es dringend zu beantworten gilt. Stattdessen verbeißen sich viele Kritiker beinahe fetischhaft in das Totschlagargument Datensicherheit. Ob auch bei den Bürgern durch den besseren Datenschutz das Vertrauen in die App gewachsen ist, werden die nächsten Tage und Wochen zeigen. Man sollte aber dringend aufhören zu meinen, man könne mit der Reduzierung von großen Sachverhalten auf ein einziges Thema die Bürger für dumm verkaufen.

Keine Maßnahme wie die anderen

Es gibt neben Datentransparenz noch einige weitere Fragen, von denen der Erfolg der App abhängen sollte. Es wurde wenig danach gefragt, wie zielgenau die neue Anwendung arbeitet, und wenn, dann nur um einen Datenmissbrauch mit Standortdaten zu verhindern. Noch seltener kam die Frage auf, wie viel Nutzen die App tatsächlich entfalten kann. In der Theorie ist die App eine gute Sache. Neben weiteren Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie ist sie eine sinnvolle Ergänzung, um die Menschen zu schützen. Keine der geltenden Maßnahmen kann alleine den Kampf gegen Corona aufnehmen. Masken sind ohne Abstand praktisch Stoffverschwendung. Genau so wird auch die App nur dann den größtmöglichen Erfolg haben, wenn die anderen Maßnahmen eingehalten werden.

Und daran habe ich starke Zweifel. Denn die App reiht sich nahtlos in die Serie von Lockerungen ein, die oftmals das Prädikat „fahrlässig“ verdienen. In erster Linie ist die App nämlich ein Frühwarnsystem, um Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass sie Kontakt zu einer mit Corona infizierten Person hatten. Sie ist deshalb nicht Maßnahmen wie der Maskenpflicht und dem Abstandsgebot gleichzusetzen. Im Gegensatz zu diesen expliziten Schutzmaßnahmen hemmt sie nicht das Infizierungsrisiko ihrer Nutzer. Sie meldet Erkrankungsfälle im näheren Umfeld, um etwaigen Risikokontakten vorzubeugen.

Unverbindliche Handlungsempfehlung

Wie bereits die Lockerungen vor ihr, macht die App den Infektionsschutz noch mehr zur Privatsache. Immer weniger müssen Bürgerinnen und Bürger lästige Regeln beachten, die eine Ausbreitung des Virus verhindern sollen. Und tatsächlich ist bis auf die Maskenpflicht fast wieder der Normalzustand eingetreten. An Supermarktkassen ist wieder Gruppenkuscheln angesagt. Die Abstandslinien sind von tollwütigen Klopapierkäufern längst weggewetzt worden. Immer mehr Massenaufläufe in Parks, bei Demos und leider auch Corona-Partys entwickeln sich zu neuen Infektionsherden. Nach monatelanger staatsverordneter Flaute müssen manche Gaststätten inzwischen beinahe schon überlegen, wegen Überlastung zu schließen. Gerade dort ist die Handhabung der Verordnungen besonders lax. In den vergangenen Wochen waren immer wieder Restaurants in Verbindung mit Coronafällen in den Medien.

Die neue App kann leicht zu noch mehr Unvorsicht verleiten. Bereits bei der Maske war sonnenklar, dass manche Menschen schlichtweg unfähig dazu waren, sie richtig aufzusetzen. Mit ihrer Leichtsinnigkeit gefährdeten sie ihre Mitmenschen und leisteten dem Virus erheblichen Vorschub. Es ist zugegeben ziemlich blauäugig zu glauben, diese Menschen ließen sich von einer unverbindlichen Handlungsempfehlung einer App Vorschriften machen. Sobald auf ihren Bildschirmen erscheint, dass sie so und so viele Risikokontakte hatten, werden sie verächtlich abwinken. „Jetzt will mir der Staat auch schon vorschreiben, wann ich zum Arzt zu gehen habe. Ich weiß selbst am besten, was gut für mich ist.“ An dieser Stelle pochen sie auf Selbstbestimmung und Datenschutz, beim nächsten facebook-Post ist ihnen das egal.

Polarisierung reloaded

Schon vor der App hat sich immer mehr gezeigt: Corona spaltet. Wieder einmal haben die Menschen die Wahl, zu welchem Pol sie sich eher hingezogen fühlen. Sind es die Hygienedemonstranten, die Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme in ihren Reihen dulden oder sind es die Übervorsichtigen, die an der Kasse lieber drei Striche Abstand halten? Jede noch so belanglose Äußerung, jede noch so lapidare Handlung kann zu einer unwiderruflichen Einteilung in eines der Lager führen.

Vor einigen Wochen schrieb ich auf diesem Blog noch, dass ich nicht glaube, dass Corona das gleiche Polarisierungspotenzial hätte wie die Flüchtlings- oder die Klimakrise. Ich habe mich geirrt. In Wahrheit birgt die jetzige Krise ein noch größeres Polarisierungsrisiko als die Krisen zuvor.

Konsens und mehr nicht?

Und woran liegt das? Weil es keine Einigkeit gibt. Der Politiker Gregor Gysi meinte jüngst, dass der Zoff erst losging, als die ersten Lockerungen zur Debatte standen. Völlig richtig. Davor waren die getroffenen Maßnahmen ganz besonders streng. Kaum einer hatte die Möglichkeit, ungestraft aus der Reihe zu tanzen.

Die Maßnahmen erreichten dabei beinahe die Qualität von Strafgesetzen. Und im Prinzip haben sie auch so funktioniert. Die Strafandrohung war zwar nicht so hoch wie bei Strafgesetzen, aber der Druck war trotzdem da. Würde man heute oder morgen die Strafen aus dem Gesetzbuch streichen, so gäbe es weiterhin einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass man andere Menschen nicht misshandelt, sie nicht umbringt und auch niemandem etwas wegnimmt. Dieser recht lockere Konsens würde aber immer mehr aufgeweicht werden. Viele würden dann zwar die Nase rümpfen, wenn jemand im Laden klaut, passieren würde aber nichts. Genau das gleiche lässt sich seit den Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen beobachten.

Die Lockerungen übertragen nämlich immer mehr Verantwortung auf den Einzelnen. Als die Maßnahmen streng waren, waren die meisten von dieser Verantwortung befreit. Sie mussten sich schlicht an Regeln halten. Durch die Lockerungen können die Menschen nun mehr und mehr selbst entscheiden, welche Maßnahmen sie als sinnvoll erachten und an welche sie sich halten wollen. Sie können sich ihre eigene Meinung machen. Das ist prinzipiell gut. Es liegt allerdings in der Natur unterschiedlicher Meinungen, miteinander zu konkurrieren. Kommt dann noch die akute Krisenkomponente dazu, ist die Polarisierung vorprogrammiert. So gut die Idee einer Corona-App auch sein mag, sie wird dem enormen Polarisierungspotenzial der Krise nicht beikommen können.


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Kein Rückgrat

Lesedauer: 8 Minuten

Das Jahr ist noch nicht einmal halb zu Ende und doch hat sich die Welt so rasch verändert wie lange nicht. Ein aggressives Virus hält weite Teile der Erde weiter in Atem. In mehreren Ländern drohen die Gesundheitssysteme zusammenzubrechen, es herrscht Not, Armut, Hunger. Deutschland ist im Vergleich zu anderen Nationen bisher vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. Auch hierzulande liegt die Zahl der Todesopfer erschreckend hoch, vor einem generellen Kollaps stand unser Land aber nicht. Die getroffenen Maßnahmen kamen zwar spät, aber sie kamen. Zwischenzeitlich finden sie die Zustimmung von weit mehr als der Hälfte der Bürgerinnen und Bürger im Land. Doch Umfragen sind leider nur Umfragen. Reden und Handeln der Leute sind in dieser Angelegenheit nicht kongruent.

Ein Jahr, zwei Realitäten

Deutschland im Juni 2020: Das Land ist weiterhin im Ausnahmezustand. Maskenpflicht, Abstandsgebote und eine eingeschränkte Infrastruktur bestimmen trotz deutlicher Lockerungen das öffentliche Leben. Die Gastronomie erholt sich nur schleppend von dem generellen Lock-down ihrer Geschäfte, Solo-Selbstständige bangen um ihre Existenz, viele andere Beschäftigte weilen weiter in Kurzarbeit. Bei anderen haben die drastischen Maßnahmen trotz aller Bemühungen nicht gewirkt: sie sind am Coronavirus erkrankt, müssen ins Krankenhaus, manche ringen mit dem Tode.

Auch Deutschland im Juni 2020: Menschen drängen sich dicht an dicht auf öffentlichen Plätzen, sie führen im Zug nur zu Alibizwecken eine Maske mit sich, manche feiern wilde Corona-Partys. Das warme, sommerliche Wetter kann seine Wirkung auf das Virus so nicht voll entfalten. Ein Einbruch bei den Neuinfektionszahlen steht weiterhin aus. An so etwas wie einen Normalzustand ist im Gesundheitswesen weiter nicht zu denken.

Beide Bilder passen so gar nicht zueinander. Es ist, als würde man zwei unterschiedliche Welten betrachten. Der Unterschied geht weiter auseinander als es sonst zwischen Theorie und Praxis üblich ist. Denn die weiterhin viel zu hohen Infektionszahlen, die Selbstständigen mit krassen finanziellen Einbußen und die Oma, die ihre Enkel vor Gezeiten das letzte Mal gesehen hat – das ist viel mehr als reine Theorie. Es ist die Wirklichkeit.

Allein gegen alle

Angesichts dessen, dass zwei Drittel der Deutschen die Maßnahmen gegen das Coronavirus als genau richtig bewerten, ist es schon verwunderlich, dass im Juni, also im dritten Monat in Folge, weiterhin relativ strenge Maßnahmen gelten. Und das obwohl sich doch zwei Drittel der Menschen so brav an die Verordnungen und Vorschriften halten. Aber Moment! Wieder gibt es einen himmelweiten Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Viele Menschen behaupten einfach nur, dass sie die Maßnahmen richtig finden. Ihr Handeln entspricht dem leider nicht immer.

Denn wenn zwei Drittel die Maßnahmen tatsächlich aus voller Überzeugung mittragen, dann bleibt noch ein Drittel übrig, welches die Maßnahmen entweder total doof findet oder als viel zu lasch einschätzt. Jene, die die Vorkehrungen als übertrieben ansehen, dürften also nicht mal ganz ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Trotzdem gehört der typische Falschträger zum Bild, wenn man heute einkaufen geht, mit der Bahn fährt oder einen Brief bei der Post aufgibt.

Es ist beinahe zum Verzweifeln. Man hat das Gefühl, man sei der einzige, der die Maßnahmen korrekt einhält. Und genau das denken die notorischen Falschträger auch: dass sie die einzigen sind. Was macht es denn, wenn ich die Maske heute ausnahmsweise mal nicht über die Nase ziehe? Als ob ich dann jemanden anstecken würde. In China fällt ein Sack Reis um (und vermutlich gleich noch ein Corona-Kranker hinterher). Diese Menschen sind unfähig dazu, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Sie verlassen sich einzig auf die anderen. Ist doch nicht mein Kampf, sollen andere den doch führen. Und genau das tun sie. Die Richtigträger kämpfen gegen Corona. Die Hygienedemonstranten und Totalverweigerer kämpfen gegen die massiven Einschränkungen. Falschträger allerdings kämpfen gar nicht. Sie haben schlicht keinen Arsch in der Hose.

Ordnungsfeind Mensch

Gerade jetzt hört man einen Satz besonders oft: „Bitte achten Sie auf sich und andere!“ Die gute Nachricht: Der Satz ist total lieb gemeint. Die schlechte Nachricht: Aufeinander Acht geben hat schon zu Normalzeiten nicht geklappt. Die einfache Regel „Zuerst aussteigen lassen, dann einsteigen“ wird auch während Corona munter weiter gebrochen. Als hätten die Menschen panische Angst davor, der besonders gehässige Zugfahrer lässt die Zugtüren genau in dem Moment zuschlagen, wenn der letzte Fahrgast ausgestiegen ist. Wie Mäuse auf der Flucht quetschen sich viele auch in der derzeitigen Situation unter den triefend nassen Achselhöhlen ihrer Mitmenschen ins Zugabteil hinein. In einer ungesunden Mischung aus Grenzdebilität und aufgestautem Sexmangel verdrängen sie, dass die Welt seit Monaten von einem aggressiven Virus heimgesucht wird.

Dabei macht es der Staat seinen Bürgen doch spielend einfach. Die geltenden Maßnahmen sind doch wirklich kein Hexenwerk. Niemand muss studiert haben, um in geschlossenen, nicht-privaten Räumen eine Maske zu tragen. Es bedarf keiner geistigen Glanzleistung, die rechte Tür als Eingang und die linke als Ausgang zu benutzen. Anscheinend ist der Mensch aber doch nicht so ordnungsliebend wie ihm immer nachgesagt wird. Denn bereits vor Corona kamen die Menschen regelmäßig auf der falschen Seite die viel zu breite Treppe heruntergerauscht. Anscheinend fahren sie so aber zum Glück nicht Auto, sonst wären sie heute ja gar nicht mehr da. Immer deutlicher wird: Wo sich der Ellbogen etabliert hat, da hat Rücksicht keine Chance.

Kopflosigkeit mit Folgen

Doch zurück zu den Zahlen und Fakten: Die meisten werden vermuten, dass aktuell von den Hygienedemonstranten die größte Gefahr ausgeht. Tatsächlich versuchen Verschwörungstheoretiker sämtlicher Couleur nach Kräften, das Vertrauen in Regierung und Rechtsstaat auszuhöhlen. Sie zeichnen eine Rechtlosigkeit und Willkür, die es so nicht gibt. Doch die eigentliche Gefahr geht von all den Menschen aus, die die Gesundheit anderer fahrlässig auf’s Spiel setzen. Die konsequent nicht verstehen wollen, warum der Stofffetzen Mund-Nase – Schutz heißt.

Es ist doch überhaupt kein Wunder, dass die Zahl der ablehnenden so gering ist, wenn die übergroße Zahl derer, die die Maßnahmen tatsächlich ablehnen, nicht dazu steht. Man soll ja fair bleiben: vielen der chronischen Falschträgern geht es gar nicht um ein Statement. Sie sind sich einfach der Konsequenzen ihres Handelns überhaupt nicht bewusst. Sie begreifen nicht, dass sie durch ihr konsequentes Verweigern zum Stellungbeziehen den wirklichen Gegnern enormen Vorschub leisten. Denn wer die Maßnahmen zu lax handhabt, der sorgt indirekt zu steigenden Infektionszahlen und damit zu stärkeren Eingriffen. Letztendlich ist das Wasser auf die Mühlen derer, die auch noch das letzte bisschen Vertrauen in die Menschlichkeit auslöschen wollen.

Ja aber nein

Viel zu lange hat man es sich in einer Gesellschaft des Wegsehens und des Aussitzens bequem gemacht. Gegen Dinge ankämpfen oder für etwas einstehen – das ist schon lange aus der Mode. Wie in Trance sagen viel zu viele lieber Ja und Amen. Rechte Kräfte machen sich das perfide zunutze, indem sie behaupten, gewisse Dinge dürften heute nicht mehr bedenklos gesagt werden. Und es stimmt: viele Äußerungen sind mit enormem Widerspruch verbunden. Das wären sie vor zehn oder zwanzig Jahren aber auch schon gewesen, hätte jemand gewagt, sie auszusprechen.

Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Wer alles immer nur abnickt, der hat nicht nur verlernt, abzulehnen, sondern auch Dinge gutzuheißen. Die angebliche Zustimmung verliert an Wert. Und deshalb behaupten so viele, die Maßnahmen gegen Corona wären genau richtig. Sie können ja gar nicht zu hart oder zu lasch sein, sonst müsste man ja Stellung beziehen. Lieber nickt man gehorsam ab…und zieht die Maske runter, sobald der Kontrolleur weiterzieht.


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