Generation Anti

Lesedauer: 7 Minuten

Hätte mir jemand noch vor wenigen Jahren gesagt, ich würde einmal einen Text schreiben, der sich gegen Demonstrationen richtet, bei denen Menschen für Grundrechte eintreten, ich hätte ihn vermutlich ausgelacht. Doch nun ist der Moment gekommen. Naja, fast zumindest. Denn um die Grundrechte geht es vielen Demonstranten heute in Wahrheit nicht. Es ist ein Trauerspiel, dass man inzwischen jede Demo, bei der es angeblich um die Grundrechte geht, genau hinterfragen muss, um nicht rechten oder linken Extremisten auf den Leim zu gehen. Selbst denken scheint immer mehr ein Tabu zu werden.

Wenn Rechte Rechte verteidigen

Gerade die Schwabenmetropole Stuttgart hat sich rasant zu einem Hotspot der sogenannten „Hygienedemos“ entwickelt. Woche für Woche lockt das Areal, auf welchem sonst eigentlich der Cannstatter Wasen stattfindet, tausende Menschen an. Von echter Hygiene in Zeiten der Pandemie ist bei diesen Aufläufen wenig zu spüren. Abstandsregeln werden missachtet, Reportern und Kamerateams werden die Viren im Nahkampf förmlich in die Fresse gedrückt, es wird gesungen und es wird laut protestiert. Mit großen Schildern machen viele der Demonstranten darauf aufmerksam, dass sie nicht bereit sind, ihre Grundrechte einfach so aufzugeben. Sie sind gekommen, um für ihre Rechte zu kämpfen.

Zumindest glauben sie das. Denn längst hat die extreme Rechte die Oberhand über diese Demos gewonnen. Was zunächst als linksalternativer Protest begann, wurde den roten Rebellen schneller aus der Hand gerissen als sie „Bolschewiki“ sagen konnten. Ein Konglomerat aus Reichsbürgern, AfDlern und anderen nationalistischen Gruppierungen weckt in vielen der Teilnehmern wieder einmal einen uralten Instinkt: das Nichtstun.

Anti-Fortschritt, Anti-Flüchtling, Anti-Pasti

Weil der Mensch aber nicht gerne zugibt, faul und träge zu sein, benutzen die ewig gestrigen die Demonstrationen als Fassade für ihren Putsch gegen die Solidarität in der Krise. Es ist nämlich auffallend, dass sich sämtliche Aktionen sogenannter Wutbürger immer für den Erhalt des Status quo einsetzen. Wer auf Hygienedemos geht, einen Pegida-Aufmarsch bereichert oder peinliche Teil-mich – Bilder in sozialen Medien postet, der nimmt für sich meist in Anspruch ein besonders kritischer Geist zu sein. In Wahrheit sind solche Leute allerdings vor allen Dingen Anti.

Sie sind Anti-Flüchtlinge, weil diese sich angeblich in unser Sozialsystem einschleichen und am Ende schuld daran sind, wenn die Oma keine angemessene Pflege im Heim bekommt. Sie sind Anti-Greta, weil diese die junge Generation manipuliert und uns alle ins Verderben reißen wird. Sie sind Anti – Corona-Maßnahmen, weil die Maßnahmen überhaupt nichts bringen und das Virus gar nicht so gefährlich ist wie die Rautenkanzlerin es immer predigt.

Noch nie hat sich jemand dieser Protestierenden, die sich penibel von den Gutmenschen abgrenzen, offensiv FÜR einen Fortschritt in der Gesellschaft eingesetzt. Diesen Schlechtmenschen reicht es offenbar vollkommen, jedwede Veränderung im Ansatz abzuwehren. Immerhin gab es kritische Widerworte in unserem Land viel zu lange nicht.

Würdevoller Protest?

Gut, die gefühlt ewige GroKo macht eine kontroverse politische Debatte wirklich nicht einfach, aber wird euch dieses Argument nicht langsam langweilig? Die Menschen, die gestern zu Pegida gingen und sich heute Hygienedemonstranten schimpfen, werden nicht müde, die fehlende Debattenkultur in unserem Land zu beklagen. Angeblich hört ihnen seit Jahren keiner mehr zu. Hätten sie allerdings pünktlich ihre GEZ-Gebühren gezahlt, dann wüssten sie, dass AfD, Wutbürger und jüngst auch Hygienedemos die Medien seit geraumer Zeit dominieren.

Wer sich heute auf den Cannstatter Wasen stellt und laut die Rückgabe der Grundrechte einfordert, der vergisst einen wichtigen Aspekt: Die Demo ist genehmigt. Um Versammlungsfreiheit kann es diesen Menschen also nicht gehen, sie dürfen sich schließlich versammeln. Um Meinungs- und Redefreiheit sicherlich auch nicht, schließlich kann man mit deren halbpolitischen Ergüssen inzwischen ganze Bücherregale füllen. Religionsfreiheit fällt auch weg – die Kirchen, Synagogen und Moscheen dürfen inzwischen auch wieder gemeinsam Wenimmer anbeten. Bleibt noch die Würde des Menschen. Würdevoll benehmen sich diese Aufrührer jedenfalls nicht.

Neues gelingt nur mit Mut

Aufzustehen und seine Meinung zu sagen erfordert Mut. Partout gegen alles neue zu sein, tut das allerdings nicht. Wer generell alles neue verteufelt und nicht dazu bereit ist, sich zu bewegen, der ist nicht mutig. Und so jemand ist auch nicht kritisch. Er ist nur eines: bequem. Immer wieder missbraucht dieses Heer an trägen Protestlern den Begriff der Kritik im Namen der Bequemlichkeit.

Es ist verdammt einfach, gegen Neues zu sein. Verantwortung zu übernehmen und für Neues einzustehen, ist meist allerdings schwerer als gedacht. Von dieser Inbrunst, von diesem Mut und von dieser Leidenschaft ist bei den Hygienedemos nur wenig zu spüren. Denn wenn eine Marionette den Kopf schüttelt, dann ist das selten auf ihren Mut zurückzuführen. Konsequent verschließen die Demonstranten die Augen davor, in wessen Interesse sie eigentlich handeln. Sicherlich nicht im Namen der Demokratie, die ihnen so heilig scheint. Und sicher auch nicht im Sinne ihrer Mitmenschen, von denen jeder der Überträger eines überaus aggressiven Virus sein kann.

Demonstrativ verweigern sich die Hygienedemonstranten der Verantwortung, die sie schultern müssten, wenn sie die Augen aufmachen würden. Sie bemerken nicht, dass ihre Verantwortung nicht die über 8.000 Toten in Deutschland sind, die dem Virus bereits zum Opfer gefallen sind. Es sind die zigtausenden Toten mehr, die zur Debatte stünden, würden wir dem kopflosen Getöse der Demonstranten nachgeben. Es wäre unser kollabierendes Gesundheitssystem, das auf das Konto der Aufständischen ginge, würden wir ihrer Vorstellung der Pandemiebekämpfung folgen. Es ist beinahe zynisch, dass die Menschen, die sich angeblich so gut mit den Grundrechten auskennen, im Alltag in großer Zahl trotzdem Maske tragen. Das klitzekleine bisschen Rückgrat, welches sie auf den Demos zu besitzen vorgeben, wird damit sofort wieder vernichtet.

Ein Land voller Wissenschaftler

In dieser notorischen Unfähigkeit, sich der gesellschaftlichen Verantwortung zu stellen, schustern sich viele dieser Menschen ihre eigene Wahrheit zusammen. Diese Wahrheit schließt nicht ein, sich in seiner Position nur ein klein wenig zu bewegen, geschweige denn, anderen Menschen entgegenzukommen. In diesem unendlichen Kosmos aus reinem Egoismus zählt nur der eigene Bestand. Die allgemein geltende Maskenpflicht ist ein gut sichtbares Symbol dieser Krise. Augen und Herzen dieser Menschen waren aber schon während der letzten Krise gut bedeckt.

Blind und taub glaubten sie allen, die sie in ihrer engstirnigen Sichtweise bestärkten. Vieles, was einst als unscheinbare Fake News begonnen hat, ist inzwischen zu einer regelrechten Pseudowissenschaft ausgewachsen. Egal, wen man fragt, unser Land wimmelt plötzlich vor gut informierten Ärzten und Wissenschaftlern. Da könnten wir uns doch eigentlich glücklich schätzen. Doch außer gut gemeinten Ratschlägen und Binsenweisheiten kommt bei den Experten von heute selten was rum. Viel zu emsig sind sie damit beschäftigt, den Begriff „Wissenschaft“ zu vergewaltigen und für ihre kruden Ideen zu missbrauchen. Und das alles nur, weil sie es einfach nicht über sich bringen, von ihrem bequemen Sessel aufzustehen und für echte Veränderung einzustehen. Dabei brauchen wir mutige und starke Menschen heute mehr denn je.


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Das Heer der Unaufgeklärten

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Regelmäßig protestieren in mehreren Städten Menschen auf sogenannten Hygienedemos gegen die aktuellen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Sie wenden sich vor allem gegen die Beschneidung ihrer Grundrechte, die viele von ihnen mittlerweile als überzogen und unverhältnismäßig empfinden. Doch gerade solche Zusammenkünfte sind ein Hotspot für Menschen, deren Verhalten eine Aufrechterhaltung von strengen Maßnahmen erforderlich machen.

Maskenpflicht ohne Bewährung

Die Reproduktionszahl des Virus stieg jüngst wieder auf über 1. Das ist leider überhaupt kein Wunder, bedenkt man, dass eine Woche lang Läden und Geschäfte ohne Maskenpflicht geöffnet hatten. Doch was hilft es, die Versäumnisse der Vergangenheit immer wieder weinerlich ins Feld zu führen. Viel wichtiger ist es, aktuelle Missstände und Fehlentwicklungen anzugehen und zu beheben. Die Menschen sehen sich nach Freiheit und zu einer Rückkehr zur Normalität. Das ist nur allzu verständlich. Doch leider liegt eine solche Normalität noch in weiter Ferne. Selbst wenn viele Geschäfte wieder geöffnet haben – die Masken werden noch lange die Gesichter schmücken.

Doch bereits jetzt, nach zwei Wochen Maskenpflicht, beschweren sich viele über den fehlenden Tragekomfort der Mund-und-Nase – Bedeckung. Ein Hochgefühl ist das Teil wirklich nicht. Man sollte sich aber auch mal vor Augen führen, wann der hippe Stofffetzen überhaupt zu tragen ist: im öffentlichen Personennahverkehr und in Geschäften. Viel öfter müssen viele die Maske gar nicht aufsetzen. Wenn man nun noch bedenkt, dass viele die Maske gar nicht richtig verwenden, wirken die Wehklagen beinahe lächerlich.

Falschtragen mit Methode

In diesen Tagen will man wahrlich kein Türsteher vor deutschen Supermärkten sein. Unangenehme Diskussionen sind vorprogrammiert. Nicht nur die Einhaltung der zulässigen Kundenzahl müssen die Sicherheitskräfte im Blick behalten, ihren geschulten Augen darf auch kein Verstoß gegen die Maskenpflicht entgehen. Und hier reden wir nicht von den Idioten, die aus Protest keine Maske aufsetzen. Diese Minderheit ist zum Glück so verschwindend gering, dass sich nicht einmal ein Kurzbeitrag zu ihnen lohnt.

Viel problematischer sind solche Menschen, die ihre Masken entweder komplett falsch aufsetzen oder sie zu spät aufsetzen und zu früh wieder abziehen. Jeder, der im Einzelhandel arbeitet, kann ein Lied davon singen: viel zu viele Kunden ziehen ihre Masken erst dann auf, wenn sie den Eingang bereits ein Dutzend Schritte hinter sich gelassen haben. Sie reißen die Bedeckung japsend und lechzend von ihren Gesichtern, kaum klappt der Kassierer die Kasse wieder zu.

Dieses konsequente Falschtragen macht jedoch das Gesamtergebnis der Maßnahme zunichte. Das Virus lauert nicht tief versteckt im Laden hinter den Pfandautomaten. Der Kampf gegen das Virus ist kein Boxkampf, wo der Gegner klar sichtbar in der anderen Ecke steht. Das Virus breitet sich im geschlossenen Raum rasend schnell aus. Wer sich im Kassenbereich nicht an die Maskenpflicht hält, der gefährdet auch die Goldgräber des Pfandguts am anderen Ende des Ladens.

Eine lästige Pflicht

Spricht man solche Menschen auf ihr Fehlverhalten an, so reagieren die meisten von ihnen mit Verharmlosungen oder spielen sich als gut getarnte Experten auf. Sie nehmen die Masken ja nur ganz kurz ab, um wieder richtig Luft zu bekommen. Die Schutzmasken brächten ja rein gar nicht, alles nur Panikmache. Vielleicht makaber, aber: Wenn das Virus dich erwischt, könnten die Atemprobleme bald von Dauer sein.

Ich bin davon überzeugt: Wer seine Maske falsch trägt oder sie zu früh abnimmt, der hat die Tragweite seines Handelns nicht verstanden. Diese Menschen begreifen die sinnvollen Schutzmaßnahmen als eine lästige Pflicht. Sie empfinden sie als eine Repression von Seiten des Staats, welche ihnen das Einkaufserlebnis vermiesen soll. Widerwillig fügen sich die meisten von ihnen den Maßnahmen – aber nur solange man auch wirklich am Einkaufen ist! Sobald der Geldbeutel wieder in der Tasche verstaut ist oder bevor man die erste Avocado bei der Qualitätsprüfung beinahe zerquetscht, ist man nicht einkaufen und muss auch keine Maske tragen. Blind befolgen sie die ungeliebten Regeln, ohne sie jemals hinterfragt zu haben.

Zwischen Empörung und Anpassung

Viele dieser Falschträger nehmen für sich in Anspruch, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Sie zeigen sich einerseits empört über die tiefgreifenden Einschnitte des Staats in ihr alltägliches Leben, andererseits versuchen sie, sich an die Maßnahmen zu halten – soweit ihr viel zu enger Horizont das überhaupt zulässt. Wer nämlich die Schutzmaske abnimmt, bevor die Zugtüren sich öffnen oder bevor der Ausgang des Supermarkts hinter dem Rücken ist, der hat den Sinn der Maßnahme überhaupt nicht verstanden.

Diese Menschen sind jenseits derer, die die Maßnahmen für vollkommenen Quatsch halten und deswegen demonstrativ darauf verzichten. Wer die Maske nämlich hinterfragt und zu dem Schluss kommt, dass sie überhaupt nichts bringt, eventuell sogar kontraproduktiv ist, der zieht sie einfach nicht auf. Wer die Maske hinterfragt, sich mit der Maßnahme auseinandersetzt und zu der Schlussfolgerung kommt, dass sie eine von vielen sinnvollen Maßnahmen ist, der zieht sie korrekt auf. Und zwar immer dann, wenn er oder sie einen nicht-privaten geschlossenen Raum betritt.

Hinterfragen muss kein Kraftakt sein

Die weitreichenden Maßnahmen einfach hinzunehmen, obwohl man der Meinung ist, der Staat diktiert das Tragen der Maske aus reiner Willkür, ist eine zutiefst unaufgeklärte und dumme Haltung. Alle diese Menschen – und sie sind zum Glück noch in der deutlichen Minderheit – glauben, den absoluten Durchblick zu haben. In Wirklichkeit aber raffen sie: nichts.

Sie glauben, dass sie sich unbedingt gegen die Mehrheit stellen müssten, würden sie es wagen, die Schutzmaßnahmen zu hinterfragen. Sie glauben, dass Hinterfragen immer mit einem Auflehnen gegen die Herrschenden verbunden ist. Dass ein kritischer Geist immer zu einer Anti-Haltung führen muss und gleichbedeutend mit einem Verlassen der bequemen Position ist. Doch das ist nicht so.

Überzeugungstäter

Wer für sich in Anspruch nimmt, aufgeklärt zu sein, der muss die Dinge laufend hinterfragen. Und das bedeutet nicht einen notorischen Zwang zur Ablehnung. Ein kritisches Hinterfragen kann auch immer dazu führen, dass man bestimmte Dinge ablehnt, keine Frage. Aber es kann auch dazu führen, dass man Maßnahmen als zielführend anerkennt und sie versteht. Denn Dinge zu hinterfragen ist immer die Vorstufe dazu, von etwas überzeugt zu sein.

Doch solche, die nicht hinterfragen, die sind nicht überzeugt. Und das macht die Sache so gefährlich. Weil sie von den Maßnahmen anscheinend nicht überzeugt sind, sind sie leichte Beute für jene, die mit kruden Verschwörungstheorien Stunk machen. Die ganz wenigen, die schon jetzt mit voller Absicht querschießen können viele von denen, die sich um der Regel willen an die Regeln halten leicht auf ihre Seite ziehen, wenn die Stimmung erst einmal kippt. Und die Stimmung hat sich bereits verändert. Die Bundeskanzlerin bezeichnet die Debatten über Lockerungen genervt als „Orgien“. Vielleicht hat sie mit diesem Begriff doch nicht ganz so unrecht. Denn schaut man inzwischen zu Stoßzeiten wieder in die Geschäfte, so erscheint das Wort Orgie fast angebracht.

In der jetzigen Krise wird einmal mehr deutlich: Gefährliche Dynamiken beginnen im kleinen. Die zum Glück wenigen Negativbeispiele jetzt sind nur die Vorhut. Die Nachhut sind die vielen, die ihre Ignoranz derzeit noch gut verstecken können. Solche, die die Regeln halbherzig befolgen, nur um nicht als Gefährder in der Pandemie verfemt zu sein. Auch sie sind in der deutlichen Minderheit. Doch es sind diese Menschen, die dafür sorgen, dass die Schutzmaßnahmen erhalten bleiben und sich dann wundern, warum es keine Lockerungen gibt. Denn selbst ein einziger Regelbrecher im Supermarkt oder im Zug reicht aus, um hunderte in Gefahr zu bringen.


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Auf Umwegen durch die Krise

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Die Coronakrise verlangt uns allen enorm viel ab: Rücksicht, Disziplin, Verzicht, Wachsamkeit, Solidarität. Nach den ersten Lockerungen der vergangenen Woche ging ein Aufatmen durch das Land. Doch es ist viel zu früh, bereits jetzt Entwarnung zu geben. Um dies zu verdeutlichen, gilt ab morgen bundesweit die Maskenpflicht. Die Maßnahme ist gut und richtig, kommt aber zu spät. Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Regierung steht auf dem Spiel. Mit jedem neuen Infizierten schwindet dieses Vertrauen. Der Zickzackkurs der Länder verunsichert die Menschen zusätzlich in einer Zeit, in der Zusammenhalt das Gebot der Stunde ist.

Nach Wochen des Shutdowns dürfen seit vergangenem Montag kleinere Geschäfte wieder öffnen. Gerade diese Läden hatten unter den harten Sicherheitsmaßnahmen gegen die Pandemie besonders zu leiden. Viele Mitarbeiter wurden in Kurzarbeit geschickt, Geld für Mieten und Pachten konnten nicht erwirtschaftet werden. Die Lockerung der Maßnahmen ist für diese Unternehmen eine gute Nachricht. Natürlich müssen die allgemeinen Abstandsregeln weiter eingehalten werden. Es gibt außerdem klare Regeln, wie viele Kunden sich auf welchem Raum aufhalten dürfen.

Die Kombi macht’s

Viele Geschäfte behelfen sich mit einer Zählung über Einkaufskörbe. Jeder Kunde nimmt einen Korb mit ins Geschäft. Sind alle Körbe aufgebraucht, so wird auch niemand mehr in den Laden gelassen. Das hilft, den Kundenstrom zu regulieren, nicht aber, um das Einkaufsverhalten der Kundschaft zu kontrollieren. So ist durch diese Maßnahme nicht gewährleistet, dass sich alle Kunden an den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand von zwei Metern halten. In vollgestellten Geschäften wie kleinen Klamottenläden ist das selbst mit besonderer Vorsicht nicht ohne weiteres einzuhalten. Dicht an dicht stehen dort die gut bestückten Kleiderständer. Aneinander vorbeizukommen, ohne sich dem Verdacht der sexuellen Belästigung auszusetzen – schier unmöglich.

Umso sinnvoller ist die Maskenpflicht, die ab morgen im öffentlichen Personenverkehr und in geschlossenen Räumen wie Supermärkten und Buchhandlungen gilt – oder eben in der Mottenkiste nebenan. Denn gerade zwischen Kunde und Mitarbeiter ist Abstandhalten meist leichter gesagt als getan. Die Bedeckung von Mund und Nase mit einer Maske – oder einem für die Jahreszeit unüblichen Schal – ist dabei eine praktikable Ergänzung zum Katalog der Sicherheitsmaßnahmen. Wichtig ist nur, dass das eine das andere nicht ersetzt. Wer eine Maske trägt, darf nicht auf Tuchfühlung mit seinen Mitmenschen gehen. Denn ein besonders umfassender Schutz ist nur dann gegeben, wenn Abstand und Maske Hand in Hand gehen.

Es mutet allerdings schon ein wenig merkwürdig an, dass die neugeöffneten Geschäfte nun eine ganze Woche lang hemmungslos dem ungeschützten Rein und Raus der Kunden ausgesetzt waren. Kaum gewöhnt sich der Otto-Normalverbraucher an die wiedergewonnene Freiheit, da drückt ihm der Staat sprichwörtlich eine Maske auf’s Gesicht. Alles angeblich zum Schutz der Gesundheit. Eben jene Gesundheit, die dem Staat eine ganze Woche lang ziemlich egal war, oder wie soll man das verstehen?

Maskenpflicht ohne Masken

Fakt ist: Geschäfte zu öffnen, ohne gleichzeitig andere Schutzmaßnahmen einzuführen, war ein grober Fehler. Mit den Ladenöffnungen hätte sofort eine Maskenpflicht greifen müssen. Der Druck aus der Wirtschaft war aber offenbar so groß, dass der Staat die langersehnten Wiederöffnungen nicht länger hinauszögern konnte. Mit einer Maskenpflicht zauderte er aus einem anderen Grund. Selbstgenähte Masken sind doch nicht deshalb im Trend, weil so viele Mitbürgerinnen und Mitbürger die Liebe zur Nähmaschine entdeckt haben, sondern weil der Staat schlicht unfähig ist, seine Bürger in ausreichendem Maße mit Masken zu versorgen.

Weil der Schutz der Bevölkerung aber doch noch eine hohe Priorität seitens der Regierung genießt, kam die Maskenpflicht dann doch. Ist ja auch egal, wie der Durchschnittsbürger da rankommt. Bei den Menschen kommt an: Es ging eine Woche lang ohne, aber jetzt bitte nur noch mit Maske. Kein Wunder also, dass viele das hippe Teil eher als Panikmache oder gar als Repression empfinden.

Der Corona-Flickenteppich

Dass die Maskenpflicht nun Sache der Länder ist und jedes Bundesland zeitlich versetzt eine solche Pflicht beschlossen hat, macht die Sache nicht besser. Diese unstete Koordinierung der Maßnahmen verunsichert die Menschen zusätzlich und führt zu Vertrauensverlust gegenüber der Handlungsfähigkeit des Staats. Das können wir momentan am allerwenigsten gebrauchen.

Man darf eines nicht vergessen: Die Schutzmaßnahmen greifen sofort, ihr Erfolg ist aber erst Wochen später nachweisbar. Zur Zeit geht man von einer Inkubationszeit von zwei Wochen oder mehr aus. Das heißt, ein Infizierter kann durchaus über drei Wochen unbehelligt als anonymer Superspreader unterwegs sein. Wer in der Zeit ohne Maskenpflicht ungeschützt beim Bücherstöbern war oder der Nähstube einen Besuch abgestattet hat, der wird auch erst in ein paar Wochen positiv getestet werden – sofern er oder sie sich angesteckt hat. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie manch passionierte Gegner der Maskenpflicht dann argumentieren werden, die verblödete Pflicht brächte ja gar nichts. Und viele werden auf sie hören.

Vertrauensfragen

Die verspätete Einführung der Maskenpflicht wird dazu führen, dass Zweifler und Skeptiker, Bequeme und Faule, aber leider auch Verschwörungstheoretiker und andere Idioten deutlichen Aufwind erfahren werden. Gepaart mit der mangelhaften Koordinierung der Krise seitens der Regierung wird ein deutlicher Vertrauensverlust in den Staat unabwendbar sein.

Bisher setzte die Regierung auf Freiwilligkeit. Man traute den Bürgerinnen und Bürgern zu, selbst entscheiden zu können, was das beste ist. Ausgangsbeschränkungen und Ladenschließungen wurden nur sehr widerwillig eingeführt. Das ist Zeugnis dafür, dass die Regierung den rechtsstaatlichen Auftrag sehr ernstnimmt. Viele folgten diesem guten Beispiel. Schon lange bevor die Maske zur Pflicht wurde, erledigten viele ihren Einkauf nur noch mit einem Schutz auf Mund und Nase. Doch es gab auch solche, die auf die Sicherungsmaßnahmen pfiffen. Das Wort „Coronapartys“ ist schon jetzt Top-Kandidat bei der Wahl zum Unwort des Jahres 2020.

Wer nicht ausreichend Abstand hält und wer keine Maske trägt, gefährdet sich dabei viel weniger als all die anderen. Deswegen ist es solchen Menschen ja auch egal. Diese Menschen sind in der deutlichen Unterzahl – aber sie sind trotzdem zu viele. Sie sind zu viele als dass sich eine Gruppendynamik durchsetzt, die für den Gesundheitsschutz kämpft – ganz ohne Verordnungen und Verbote. Es macht nämlich einen himmelweiten Unterschied, ob ich mich an die Regeln halte, weil ich es muss, oder ob ich mich daran halte, weil ich es will. Man kann manchen Leuten die Warteschlange auf dem Boden aufzeichnen; sie sind trotzdem zu blöd dafür…

In der aktuellen Situation ist es äußert blauäugig, auf die Vernunft der Menschen zu setzen. Die allermeisten haben begriffen, wie wichtig Abstand und Schutz in der Krise sind. Doch zu viele werden auch in Zukunft querschießen. Wer kontrolliert denn die Einhaltung der Maskenpflicht im Zug, wenn seit Wochen keine Schaffner und Kontrolleure mehr Dienst machen? Die Antwort liegt auf der Hand: Es wird den Menschen selbst überlassen, sich zu kontrollieren. Dieses Vertrauen, so ehrenhaft es auch ist, wurde in den letzten Wochen und vor allem seit vergangenem Montag viel zu oft ausgenutzt als dass es auch zukünftig glaubwürdig ausgesprochen werden kann.


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