Vertrauensbildende Maßnahmen

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Es helfen keine Lippenbekenntnisse, keine Ultimaten und anscheinend auch keine Rücktritte und Parteiaustritte. Die Union wird das Gespenst der Korruption nicht los. Mit den Herren Nüßlein und Löbe haben CDU und CSU erneut eindrucksvoll unter Beweis gestellt, das vielen in ihren Parteien nicht zu trauen ist. Das strukturelle Problem in der Union lässt sich kaum noch wegreden. Wie die Parteien und die Fraktion mit diesem Problem umgeht, ist eine Sache. Eine andere ist, welchen enormen Schaden Skandale wie die Maskenaffäre tatsächlich verursachen.

Einen Schritt voraus

Eigentlich sollte dieser Beitrag mit den Verfehlungen der beiden Bundestagsabgeordneten Nüßlein und Löbel beginnen. Doch wie es im Leben nun einmal so ist, holen die Ereignisse selbst den fleißigsten Blogschreiber gerne einmal ein. Pünktlich zur Einführung des neuen Lobbyregisters gab nun auch der thüringische CDU-Abgeordnete Mark Hauptmann sein Mandat auf. Neben einer Verwicklung in die Maskenaffäre seiner Fraktionskollegen war er wohl in Lobbytätigkeiten für Aserbaidschan verstrickt.

Die dubiosen Nebentätigkeiten von Unionspolitikern haben ein wenig was von Zeitschleife. Immerhin sind die drei jüngsten aufgedeckten Skandale nur das vorläufige Ende einer langen Kette von Ungereimtheiten, Schattenkonten und Korruption. Auffallend ist dabei jedoch, dass bei den meisten dieser Enthüllungen Politikerinnen und Politiker von CDU und CSU im Brennpunkt standen.

Nüßlein, Amthor, Schäuble

Die Liste an unrühmlichen Vorgängern von Hauptmann, Löbel und Nüßlein ist ellenlang. Die neuesten lobbyistischen Entgleisungen kamen zu einer Zeit, als die Entdeckung der fragwürdigen Nebentätigkeiten des Youngsters Philipp Amthor noch lange nicht verdaut waren. Aber auch davor hat sich die Union häufig nicht gerade mit Ruhm bekleckert.

Es ist noch gar nicht so lange her, da stand die Unbestechlichkeit unseres Staatsoberhaupts in Frage. Geschickt zog sich der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff durch seinen Rücktritt aus der Affäre. Das Strafverfahren gegen ihn ging ohne einen Schuldspruch zu Ende. Davor hatten die schwarzen Konten von Wolfgang Schäuble und Helmuth Kohl das Vertrauen in die Volkspartei erschüttert.

Falsche Doktoren und schwarze Kassen

Aber nicht nur an der Lobbyfront ereignet sich ein Skandal nach dem nächsten. Auch in anderen Bereichen erweisen sich viele Unionspolitiker immer wieder als wenig vertrauenswürdig. Die erschlichenen Doktortitel von Herrn zu Guttenberg und Frau Schavan eskalierten beide Male in einer Lügerei, dass sich die Balken bogen. Wenigstens dieses würdelose Trauerspiele haben sich die wenigen anderen falschen Doktoren aus anderen Parteien gespart.

Immer deutlicher wird, dass es sich bei diesen ganzen Affären nicht um Einzelfälle handelt. Viel eher drängt sich der Verdacht auf, dass es sich bei der Union um ein strukturelles Problem handelt. Ganz offensichtlich ist einem Großteil der Politikerinnen und Politiker aus dieser Partei ein grundlegendes Gespür für Moral und Ehre verlorengegangen. Anders lässt sich das Verhalten einiger Entlarvten nicht deuten. So ließ sich Ex-Kanzler Kohl als Ehrenvorsitzender feiern, obwohl er den Karren längst in den Dreck gefahren hatte. Annette Schavan trat nach dem Plagiatsskandal erneut im Wahlkampf an – und erdreistete sich sogar, den aberkannten Doktortitel auf dem Wahlzettel beizubehalten. Auch Georg Nüßlein macht keine Anstalten, sich aus dem Bundestag zu verabschieden. Zukünftig bezieht er als fraktionsloser Abgeordneter die üppigen Diäten.

Finanzieller Vorteil

Seit sechzehn Jahren trägt die Union Regierungsverantwortung für Deutschland. Gepaart mit der inhärenten Wirtschaftsnähe dieser Partei entsteht ein äußert unguter Mix. Die Skandale um Abgeordnete und Politiker sind dabei nur der extremste Auswuchs dieser fatalen Symbiose. Schaut man sich die Summen an Spenden von Unternehmen und Konzernen an, wird man schnell feststellen, dass CDU und CSU mit Abstand Spitzenreiter in dieser Kategorie sind.

Die wirtschaftsnahen Positionen der Union werden zusätzlicher Anreiz für die Wirtschaftsakteure gewesen sein, ihr Geld in diese beiden Parteien zu investieren. Durch diese großzügige finanzielle Ausstattung hatte der Parteienverbund im Wahlkampf natürlich stets einen deutlichen Vorteil gegenüber der politischen Konkurrenz. Oder glaubt ernsthaft noch jemand, es ist ein Zufall, dass die Union nach Rezo und den zahlreichen Skandalen noch immer die Hosen im Land anhat?

Gewöhnlich korrupt

Eine wichtige Rolle hat hierbei bestimmt auch der Gewöhnungseffekt gespielt. Die Bundesrepublik gibt es seit 72 Jahren. In 52 davon regierte die Union. Allein die derzeitige Regierungsperiode dauert seit sechzehn Jahren an. Natürlich möchten CDU und CSU ihre Macht nicht ohne weiteres aufgeben. Die Bereitschaft, sich durch Korruption an der Macht zu halten, wächst. Dass es ohne Bestechlichkeit bei der Union nicht geht, hat die lange Amtszeit von Helmut Kohl als Bundeskanzler gezeigt. Die Spendenaffäre wurde zwar erst 1999 aufgedeckt, die Konten bestanden aber wohl über die gesamte Amtszeit des eisernen Kanzlers hinweg.

Auch wenn sich viele Abgeordnete der Unionsparteien bestens in dieser korrupten Umgebung eingerichtet haben, dürfen sich echte Demokraten nicht an diesen Zustand gewöhnen. Die Verfehlungen in der CDU und CSU sind nicht nur eine Schande für unser Land, sie sind eine ernstzunehmende Gefahr für die Demokratie. Denn die teilweise kriminellen Machenschaften einzelner Abgeordneter bringen das demokratische System weit über die eigenen Parteigrenzen hinaus in Verruf. Solange es solche Skandale gibt, solange wird der Ruf des korrupten Halunken pauschal allen Politikern anhaften.

Aber nicht nur die politisch Aktiven geraten durch ein solches Verhalten in Misskredit. Auch rechtschaffende und fleißige Unternehmer sind von dieser Rufschädigung nicht ausgenommen. Es gibt bestimmt mehr als genug korrupte Geschäftsleute auf dieser Welt. Und der Kapitalismus darf nicht das Ende der Geschichte sein. Verstrickungen wie solche von Nüßlein und Löbel lassen aber an der Integrität ganzer Wirtschaftszweige Zweifel keimen.

Politik für’s Volk?

Als erklärter Gegner der Politik von CDU und CSU könnte man sich eigentlich darüber freuen, dass sich die Schwesternparteien gerade selbst demontieren. Als erklärter Demokrat kann man das aber nicht. Die teilweise illegalen Lobbytätigkeiten mancher Politiker zeigen deutlich, wessen Interessen für die Union am meisten zählen. Völlig offensichtlich wird, für wen hier eigentlich Politik gemacht wird. Tipp: Das Volk ist es nicht.

Zurecht zweifeln viele daher an der angeblichen Volkssouveränität im Land. Das Bild des korrupten und verlogenen Politikers verfestigt sich soweit, dass selbst CDU-Chef Armin Laschet von einer „Raffke-Mentalität“ in seiner Partei spricht. Milde Strafen oder sogar Freisprüche wie im Falle von Ex-Bundespräsident Christian Wulff erschüttern zusätzlich den Glauben an die Justiz.

Viel Politik, wenig Anstand

Das hinterlässt Spuren. Bei der Bundestagswahl 2013 entschieden sich über 18 Millionen der Wahlberechtigten dazu, nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Die Wahlbeteiligung lag auf einem beschämenden Tiefstand von rund 72 Prozent. Vier Jahre später verzichteten erneut 55 Prozent der vorigen Nichtwähler auf ihr Stimmrecht. Die Enttäuschung über die politische Entwicklung saß wohl noch zu tief. Doch auch bei den Erstwählern blieb eine satte Million den Wahlen fern.

Solche Zahlen lassen sich nicht damit erklären, dass die Wahlprogramme der Parteien die Wahlberechtigten nicht ansprachen. Mit sechs Fraktionen ist die Meinungspluralität im Bundestag so groß wie selten zuvor. Im Grunde gibt es sechs unterschiedliche Stoßrichtungen, wohin es mit Deutschland gehen soll. Das Problem muss tieferliegen. Viele haben das Vertrauen in den politischen Apparat an sich verloren. Schuld daran sind Menschen wie Georg Nüßlein und Nikolas Löbel. Sie sind schuld daran, wenn weniger Menschen zur Wahl gehen. Sie sind schuld daran, dass sich die Anständigen aus der Politik zurückziehen.


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K(l)eine Lobby

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Schmierentheater

Lesedauer: 7 Minuten

Korrupte Politiker, dubiose Geschäfte und schwarze Kassen: Die Liste an politischen Skandalen der letzten Jahre ist ellenlang. Oftmals lassen sich Politiker für gewisse Gegenleistungen bezahlen, dann wiederum bleiben kriminelle Schiebereien jahrelang unbemerkt. Wie jetzt allerdings zu Tage trat, sind längst nicht alle Eklats so wie sie auf den ersten Blick scheinen. Mehrere überraschende Geständnisse zeigen nun, dass manche Skandale für den eigenen Zweck instrumentalisiert wurden.

Stunde der Wahrheit

Der Fall “Wirecard” ist mit Sicherheit der schwerste Fall von Bilanzbetrug, den Deutschland je gesehen hat. 1,9 Milliarden Euro der Bilanzsumme des Finanzdienstleisters haben in Wahrheit nie existiert. Wirecard hat diese astronomische Summe nur erfunden, um sich einen Wettbewerbsvorteil zu verschaffen. Seitdem schieben sich die Finanzaufsichtsbehörde BaFin, das Finanzamt und das Bundesfinanzministerium den schwarzen Peter munter hin und zurück. Keiner will verantwortlich dafür sein, dass ein Betrug solch gigantischen Ausmaßes so lange Zeit unbemerkt blieb. Nun nahm der Fall aber eine überraschende Wendung.

Ein Pressesprecher von BaFin gab nun im Namen der Aufsichtsbehörde bekannt, dass die BaFin den Skandal um Wirecard selbst inszeniert hatte. Man fälschte dazu belastendes Material gegen den Finanzdienstleister Wirecard. Über das Ausmaß der Intrige ist man von Seiten der BaFin nun aber doch tief erschrocken.

Sensation oder kalter Kaffee?

Der Pressesprecher führte aus, man hätte seit Jahren mit einer extrem dünnen Personaldecke zu kämpfen. Dazu kamen generell schlechte Arbeitsbedingungen, Überstunden seien die Regel. Ein anderer Mitarbeiter der Finanzaufsicht äußerte sich folgendermaßen: „Laut Stundenabrechnung habe ich bereits seit Anfang Juli mein Jahressoll erfüllt. Eigentlich könnte ich den Rest des Jahres die Füße hochlegen und mir meine Überstunden ausbezahlen lassen.“

Die Behörde beklagt sich inzwischen über unhaltbare Arbeitsbedingungen. Man teile sich zu dritt einen Computer, das Internet falle im Halbstundentakt aus, der Kaffee sei kalt. Laut ihrer offiziellen Darstellung habe die BaFin überhaupt keine andere Möglichkeit gehabt als zu solch drastischen Mitteln zu greifen. „Dass wir seit Jahren deutlich unterbesetzt sind und unseren Aufgaben nicht mehr in ausreichendem Umfang nachkommen können, ist seit Jahren bekannt. Wir wollten mit dem inszenierten Skandal auf unsere Probleme aufmerksam machen“, erklärt der Pressesprecher des Unternehmens.

Spiel mit dem Feuer

Das Ergebnis der Intrige sieht man bei der BaFin mit gemischten Gefühlen. Einerseits würde tatsächlich über die Zustände bei der Behörde diskutiert, andererseits verlagerte sich die öffentliche Aufmerksamkeit zu schnell auf andere. Dass nun tatsächlich gegen hochrangige Vertreter von Wirecard ermittelt würde, hätte man so nicht gewollt. Eher ging man davon aus, dass sich die allgemeine Entrüstung gegen Wirecard bald legen würde und man sich um eine Sanierung der angeschlagenen Finanzaufsicht kümmern würde. Gerade deshalb hätte man die Betrugssumme auch so hoch angesetzt. „Wir haben es tatsächlich nicht für möglich gehalten, dass eine so grotesk hohe Summe über einen so langen Zeitraum ernstgenommen wird. Heute sehen wir das natürlich anders“, so die Aufsichtsbehörde. Man entschuldige sich in aller Form bei dem Zahlungsdienstleister gegen den weiterhin polizeilich ermittelt würde.

Das plötzliche Einlenken der BaFin löste eine regelrechte Welle an ähnlichen Geständnissen aus. Auch die Polizeigewerkschaft von Berlin ließ nun die Hosen herunter. Es sei die bewusste Entscheidung der Einsatzleitung gewesen, dass bei der hochkontroversen Corona-Demo vom 29. August zeitweise nur drei Beamte das Reichstagsgebäude sicherten. Seit Wochen habe man gewusst, dass die extreme Rechte einen Sturm auf das historische Gebäude plante. Ungeniert tauschten sich Reichsbürger, Neonazis und andere Extremisten in teilweise öffentlich zugänglichen Internetforen über ihre Pläne aus. Von Seiten der Berliner Polizei war man sich vollauf bewusst, welche Bilder entstünden, wenn man nur eine Handvoll Beamte vor dem Reichstag postierte.

Falsche Debatte

Über die nun losgetretene Diskussion sei man allerdings irritiert. Der zuständige Polizeisprecher räumte ein, dass man mit dieser unzureichenden Sicherung ein Zeichen setzen wollte. Die Berliner Polizei wollte zeigen, in welch absurd kläglichem Zustand sich die Behörde aktuell befände. „Bevor die Situation wirklich eskalierte, hat der Einsatzleiter weitere Kräfte an den Bundestag beordert. Die Situation war schnell wieder unter Kontrolle. Es ging uns lediglich um die Bilder.“

Diese Bilder sollten verdeutlichen, dass auch die Polizei unter einem enormen Personal- und Ausstattungsproblem leidet. „Immer wieder ist von Polizeiversagen und Ermittlungspannen die Rede. Das liegt aber vor allem daran, dass wir seit Jahren zu wenig Geld bekommen, um für den Ernstfall ausreichend gerüstet zu sein“, erläutert der Sprecher.

Da die Inszenierung aber nicht den gewünschten Erfolg hatte, beschloss die Berliner Polizeigewerkschaft, die Angelegenheit aufzulösen. Die öffentliche Debatte gehe auch hier in eine völlig falsche Richtung: „Wir wollten nicht, dass jetzt alle wieder nur über die Nazis reden. Wir wollten, dass sich die Leute fragen, warum es so weit kommen konnte; warum nur drei Polizisten vor dem Bundestag standen“, kritisiert der Pressesprecher. Die Berliner Polizei sei erstaunt darüber, wie sehr die Menschen im Land noch über solche Naziaufmärsche erschraken. Spätestens nach dem Lübcke-Mord und den Anschlägen von Halle und Hanau sei das Rechtsextremismusproblem doch mit Händen zu greifen. Anstatt über Bundesverdienstkreuze zu diskutieren, wünscht sich die Berliner Polizei mehr Geld und mehr Personal, um solche Szenen in Zukunft zu vermeiden.

Alles Lüge

Wie viele weitere Skandale jüngerer Zeit auch inszeniert waren, wird wohl nie ganz zu klären sein. Die Berliner Polizei und die BaFin sind hierzulande die einzigen, die sich nun offiziell zu ihren schmutzigen Kampagnen bekannten. Im Nachbarland Österreich sorgten währenddessen die Sozialdemokraten für Entsetzen. Ein Whistleblower aus den eigenen Reihen lancierte das Gerücht, die SPÖ steckte hinter der Ibiza-Affäre. Er berief sich auf schwer belastendes Material gegen die Parteispitze. Ganz offensichtlich traf er damit ins Schwarze. Bereits nach diesen vagen Drohungen bekannte sich der Parteivorstand zu den Vorwürfen. In einer schriftlichen Presseerklärung räumten die österreichischen Sozialdemokraten ein, alle Beteiligten geschmiert zu haben.

Besonders brisant: Auch die Hauptperson in dem Skandal, Heinz-Christian Strache sei für seinen Auftritt in Ibiza bezahlt worden. Die Rede ist von mehreren Millionen Euro. So habe man den ehemaligen Vizekanzler dazu überredet, seiner eigenen Partei enormen Schaden zuzufügen. Die SPÖ wird an dieser Stelle besonders deutlich: „Das war überhaupt nicht schwer, die Aussicht auf das Geld hat gereicht.“ Die SPÖ war seinerzeit überrascht, dass das Video als authentisch empfunden wurde, obwohl Strache selbst immer wieder in die Kamera schaute.

Auch zu den Motiven hinter der Intrige nahm die Partei Stellung: „Auf herkömmliche Nazi-Skandale wie Antisemitismus und ausländerfeindliche Hetze springt doch heute keiner mehr an. Wir haben die FPÖ dort getroffen, wo sie am verwundbarsten ist: bei ihrer Gier und bei ihrer Ehre.“ Die SPÖ hat dabei ihre eigene Erklärung, warum das Video so hohe Wellen schlug. Ein kommunaler Abgeordneter meint dazu: „Korruption gehört dazu und ist längst nicht so tabu, wie viele glauben. Der Skandal an Ibiza ist, dass man sich dabei erwischen lässt.“

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Schweinereien

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Der Skandal des Fleischproduzenten Tönnies hat viele Menschen wachgerüttelt: Fleisch ist in Deutschland und anderswo viel zu billig. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) möchte diese Erkenntnis nutzen, um die Zustände in den Betrieben deutlich zu verbessern. Von Verbraucherinnen und Verbrauchern erhält sie dabei durchweg positive Signale. Auch andere Branchen sind bereit nachzuziehen.

Viel zu oft braucht es einen tragischen Unfall, ein Verbrechen oder eine ausgewachsene Krise, damit Missstände ans Licht kommen. So ist es jüngst auch in verschiedenen deutschen Fleischereibetrieben gewesen. Die dortigen Arbeitsverhältnisse und die Unterbringung der Arbeitskräfte waren ein sperrangelweit geöffnetes Tor für das Corona-Virus. Die bisherige Bilanz: Tausende Mitarbeiter aus mehreren Fleischereibetrieben haben sich mit dem gefährlichen Virus infiziert. Von Todesfällen in diesem Zusammenhang war bisher zum Glück nichts zu hören. Gleichwohl waren viele von den Zuständen in den Schlachtbetrieben schockiert. Immer lauter wird der Ruf nach drastischen Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter, die oft aus Ungarn oder Rumänien kommen.

Skandal mit Folgen

Der Tönnies-Skandal ist inzwischen seit mehreren Wochen publik. Viele sind nach dem ersten Entsetzen wieder zur Ruhe gekommen. Nun ist die Zeit, das Problem rational anzupacken. Und genau das soll jetzt geschehen: Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) kündigte an, dass der Fleischmarkt von Grund auf reformiert werden müsste. Der erste und vielleicht wichtigste Ansatzpunkt dabei ist der Fleischpreis. Die Ministerin ist sich sicher, dass sich an den unhaltbaren Zuständen in den Betrieben niemals etwas ändern wird, wenn Fleisch weiter zu lachhaften Discounterpreisen verscherbelt wird.

Weil sie als volksnahe Regierungsvertreterin immer auch die Sicht der Verbraucher im Blick hat, präsentierte sie erst kürzlich eine Idee, die Arbeiterwohl und Verbraucherbedürfnisse unter einen Hut bringt. Stolz verkündete sie am Montagabend die Einführung eines Mindestpreises für Fleisch. Dieser Preis wird für verschiedene Tiere pro Kilogramm Fleisch festgelegt. Die Verbraucher haben dann allerdings die Möglichkeit, auf freiwilliger Basis mehr Geld für das gekaufte Fleisch auszugeben. Die Ministerin verwies dabei auf das von ihr geplante Tierwohllabel, das ebenso auf Freiwilligkeit beruhte, allerdings schon heute erhebliche Verbesserungen in deutschen Ställen herbeigeführt hätte.

Die CDU-Politikerin nutzt bei ihrem Vorhaben die derzeitige Stimmung in der Bevölkerung. So sprachen sich seit Bekanntwerden des Skandals bei Tönnies immer wieder Bürgerinnen und Bürger dafür aus, dass sie bereit wären, deutlich mehr für Fleisch zu bezahlen. In den letzten Wochen fanden sich sogar zahlreiche Verbraucherverbände zusammen, die die Pläne der Ministerin vorantreiben. Die Allianz für Verbraucher mit Gewissen (AVG) erklärte, es wäre an der Zeit, dass alle Verbraucher ihr Konsum- und Einkaufverhalten dringend überdenken. Es könnte nicht sein, dass tumultartige Szenen entstünden, wenn die Packung Paprikalyoner für 89 Cent im Angebot wäre. Man sähe definitiv den Verbraucher in der Pflicht, damit staatliche Bemühungen nicht gegen die Wand führen wie seinerzeit mit den Milchpreisen.

Zeit zum Umdenken

Das Vorhaben der Landwirtschaftsministerin und der Verbraucherverbände stößt auf breite Zustimmung in der Bevölkerung. Viele Verbraucher sind ebenfalls der Meinung, es müsse sich dringend etwas ändern. Die anstehende Absenkung der Mehrwertsteuer ermutigt besonders viele Bürgerinnen und Bürger dazu, für Fleisch in Zukunft tiefer in die Tasche zu greifen. Doch trotz dieser steuerlichen Begünstigung müssen die meisten Kundinnen und Kunden Abstriche machen. Die alleinerziehende Friseurmeisterin und Kassiererin Fabienne R. stört das wenig. Sie erklärt: „Es ist mir unglaublich wichtig, meinen beiden Kindern die Werte zu vermitteln, auf die es im Leben ankommt. Ich möchte ihnen nichts auftischen, wofür andere auf unmenschliche Art geknechtet wurden. Deswegen zahle ich gerne etwas mehr, auch wenn das bedeutet, dass ich künftig ein bisschen länger arbeiten muss. Ich bin sehr froh, dass ich gerade die Zusage von der Wäscherei erhalten habe.“

Auch der pensionierte Kfz-Mechaniker Werner S. ist bereit, für einen höheren Fleischpreis stärker auf die Tube zu drücken. Erst neulich hat er seinen persönlichen Rekord von 65 Pfandflaschen an einem Nachmittag gebrochen. Ebenso viel Solidarität zeigt der 53-jährige Jürgen K. Der Hartz-IV – Empfänger hat sich dazu bereit erklärt, ab sofort auf sein Mittagessen zu verzichten, um sich abends ein schönes Kotelett zu fairen Bedingungen leisten zu können. Die Mittagszeit will er stattdessen dazu nutzen, noch mehr Bewerbungen zu schreiben.

Solidarität mit Wirkung

Die Fleischereibetriebe freuen sich über das Engagement ihrer Kundschaft. „Als Familienbetrieb wissen wir das Entgegenkommen der Verbraucher sehr zu schätzen. Durch die Mehreinnahmen können wir endlich unsere Mitarbeiter angemessen entlohnen“, erklärte am Nachmittag eine Sprecherin von Tönnies. Der Betrieb kündigte weitreichende Verbesserungen bei der Unterbringung seiner Arbeitskräfte an. So sollen die jetzigen Anlagen kernsaniert werden. Eine dauerhafte Versorgung mit Strom und Internet ist ebenso geplant. Außerdem soll den Arbeitern künftig den ganzen Tag Warmwasser zur Verfügung stehen, und nicht nur morgens und abends. „Wenn die gestiegenen Einnahmen das jetzige Level halten, dann können wir für die Zukunft sogar über Einzelunterbringungen der Arbeitskräfte nachdenken,“ fährt die Unternehmenssprecherin fort.

Den vielversprechenden Ankündigungen schlossen sich weitere Betriebe der Branche an. In einem knappen Pressestatement von Wiesenhof hieß es demnach: „Von den höheren Ausgaben für Fleisch profitiert nicht nur der Verbraucher. Auch wir als Produzent können für bessere Haltungsbedingungen sorgen. Wir reden hier immerhin von ganzen zwei DINA4-Blättern mehr Platz – für Vieh und Mitarbeiter wohlgemerkt.“

Geben und Nehmen

An den bemerkenswerten Entwicklungen in der Fleischbranche nehmen sich indes auch andere Bereiche ein Beispiel. Die bisher als Billigfluglinie verschriene Gesellschaft ryanair möchte es ihren Passagieren ab sofort ebenfalls ermöglichen, durch einen freiwilligen Aufpreis die Situation des Kabinenpersonals erheblich zu verbessern. ryanair verlangte bisher teilweise weniger als 30 Euro pro Ticket. Eine angemessene Entlohnung für Mitarbeiter war der Gesellschaft daher nicht zumutbar. „Hätten wir gewusst, wie zahlungswillig unsere Kundschaft ist, hätten wir unseren Mitarbeitern vieles erspart“, heißt es aus einer offiziellen Erklärung der Fluglinie.

Auch Paketzustelldienste und Pflegeheimbetreiber hoffen auf den neuen Effekt. Es sei nicht mehr mit anzusehen, wie manche Heimbewohner vor sich hinvegetierten, nur weil die Angehörigen bisher den Gürtel so eng schnallten. Paketzusteller Mahmut F. sieht gleichermaßen einer rosigen Zukunft entgegen. Er ist sich sicher: „Wenn die Empfänger meiner Pakete in Zukunft ein saftiges Trinkgeld dazugeben, kann ich bald schon nach zwölf Stunden Feierabend machen und mehr Zeit mit meiner Familie verbringen.“

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