Schöne Aussichten

Titelbild: Keith Gonzalez, pixabay, bearbeitet von Sven Rottner.

Lesedauer: 8 Minuten

Die goldenen 20er, wie sie noch vor knapp einem Jahr beschworen wurden, hätten mieser nicht beginnen können. Eine Pandemie stellt viele Länder seit Monaten vor gewaltige Probleme. Die Menschen werden krank, Geschäfte müssen schließen, Existenzen gehen kaputt. Das nächste Jahr kann nur besser werden.

Jahresrückblick besonderer Art

2020 neigt sich dem Ende. “Endlich!“ werden da einige erleichtert rufen. Sie haben allen Grund dazu: Ein Virus, vor dem wir vor zwölf Monaten noch absolut sicher schienen, hält die ganze Welt weiter in Atem. Nachdem sich Corona im Frühjahr auch hierzulande breitgemacht hatte, folgte der erste Lockdown. Geschäfte mussten schließen, Klopapier war knapp, die Menschen hatten Angst. Währenddessen übertraf sich die Zahl der Neuinfektionen und der Todesfälle von Tag zu Tag. Länder wie Italien und Spanien, aber auch die USA waren mit dieser Entwicklung heillos überfordert.

Es folgte eine kurze Zeit der Entspannung. Im Sommer gingen die Fallzahlen spürbar nach unten. Ein Sonnenanbeter ist das Virus nicht. Die Menschen schöpften wieder Hoffnung. Vielleicht gehörten Abstand und Maske bald der Vergangenheit an? Doch es kam anders: Der Herbst war mehr als ernüchternd. Die zweite Welle der Pandemie war heftiger als die erste. Wieder schlossen Geschäfte, Hotels und Kultureinrichtungen.

Was kam dann? Unsereins kann diese Frage noch nicht beantworten. Aber es gibt Menschen, die über eine spezielle Gabe verfügen. Viele tun Hellseher als esoterische Spinner oder geldgierige Scharlatane ab. Die Glaubwürdigkeit einer kanadischen Hellseherin wurde aber jüngst durch einen Zwischenfall mitten in Deutschland untermauert. Ihre Vorhersagen deckten sich mit den Aussagen eines jungen Mannes, der behauptete, ein Zeitreisender zu sein.

Überraschende Trendwende?

Seine Herkunft belegte der 26-jährige Osnabrücker mit einigen Ankündigungen, die wenige Tage später genau so in den Nachrichten kamen. Diese Trefferquote hatte nicht einmal die Hellseherin, die sich selbst Madame Futura II. nennt (The One Who Will Have Been). In einigen Punkten waren sich die beiden aber doch einig. So erklärten sie unabhängig voneinander, dass das Virus mit Gongschlag 2021 auf mysteriöse Art und Weise verschwinden würde. Der deutsche Zeitreisende Robert T. (Name von der Redaktion geändert) konnte sogar konkreter werden. Weltweit gäbe es in den ersten Januartagen nur noch wenige Hundert Neuinfektionen pro Tag, bevor sich am 14. Januar der letzte Fall nachweisen lassen würde. T. wusste sogar, dass dieser Tag ein Donnerstag sein würde.

Doch der Besucher aus der Zukunft konnte noch mehr spektakuläres berichten. Noch in der Nacht auf den 1. Januar erlebten tausende Menschen weltweit eine regelrechte Spontanheilung von dem hartnäckigen Virus. Er erzählte von Intensivpatienten, die die Stationen noch vor Morgengrauen verlassen konnten. Besonders für das Klinikpersonal war das eine glückliche Fügung. Erneut würden nämlich wieder zahllose Opfer von Pyrotechnik die Intensivstationen fluten.

Der Zeitreisende zitierte außerdem aus einer Presseerklärung der Kanzlerin vom Januar 2021. In dieser zog sie einerseits die Ladenschließungen zurück und beendete andererseits die Maskenpflicht. Eine Welle der Erleichterung ging in der Folge durch das Land. Die Menschen konnten endlich wieder das tun, worauf sie ein knappes Jahr so eisern verzichtet hatten. Robert T. erzählte von gleich drei Partys, die er an einem Wochenende besuchte. Er berichtete: „Es war eine so große Freude, das erste Mal nach einem Jahr ausgiebig shoppen zu gehen. Die Läden hatten zwar zeitweise bereits 2020 geöffnet, aber wie wir wissen, ging keiner hin.“ Etwas ernster sprach er Umzüge und Demonstrationen an: „Es war für viele natürlich nicht leicht, nach einem Jahr der demokratischen Enthaltsamkeit, laut auf der Straße die Meinung zu sagen. Einige mussten das Demonstrieren erst wieder lernen.“

Der Duft der Geselligkeit

In andere vorpandemische Gepflogenheiten rutschte T. leichter wieder rein. „In Zeiten von Abstand und Maske kam man sich beim Einkaufen regelrecht vereinsamt vor. Als ich das erste Mal wieder den warmen Atem meines Hintermanns im Nacken spürte – was für ein Moment.“ Andere drückten ihre Freude über die zwischenmenschliche Wärme an der Supermarktkasse noch deutlicher aus. T. erzählte von einer Frau, die sich dreimal hintereinander genüsslich in die Arme des Mannes hinter ihr fallen ließ, bevor die eilige Kassiererin ihr Bad in der Menge abrupt beendete.

Ein ganz besonderes Phänomen erläuterte Robert T. mit einem Schmunzeln: „Nach monatelangem Maskentragen wusste ich nicht einmal mehr, ob meine Nase überhaupt noch ihren Dienst tut. Die Zweifel waren schnell ausgeräumt, als ich mich Anfang Januar in eine vollgepackte Bahn zwängte. Der durchgeschwitzte Herr neben mir kam wohl gerade aus dem Fitnessstudio. Ich fand es schade, dass er bereits an der nächsten Station ausstieg.“

Rundum gut versorgt

Robert T. gab an, am 10. November 2021 in seine Kapsel gestiegen zu sein. Die Aussage der kanadischen Madame Futura II. konnte er also leider nicht bestätigen. Sie sah voraus, dass die Weihnachtsmärkte im kommenden Jahr ein voller Erfolg werden würden. In ihrer Ekstase konnte sie den Duft von Glühwein, Rostbratwurst und heißen Maroni förmlich riechen. Vor ihrem inneren Auge sah sie Heerscharen an Menschen, die selig und zufrieden von Stand zu Stand zogen. Alle lachten und jeder genoss das Beisammensein, auf das im Vorjahr verzichtet werden musste.

Madame Futura II. wurde aber noch konkreter. Sie sagte rosige Aussichten für die Wirtschaft auch in Deutschland voraus. Immerhin umtrieb die Wirtschaftslage viele Menschen bereits im Jahr 2020. Die Hellseherin konnte die Menschen aber beruhigen. Das Ende der Pandemie bedeutete auch ein Ende der Kurzarbeit und eine Rückkehr zur Vollbeschäftigung. Der Zeitreisende Robert T. bestätigte ihre Angaben. Er selbst wäre nie an Corona erkrankt, wusste aber von den katastrophalen Zuständen in den Krankenhäusern aufgrund der steigenden Fallzahlen. „Im Sommer 2021 war ich einige Tage in stationärer Behandlung. Ich fühlte mich rundum gut versorgt. Während ich mit einer Schwester über Urlaubspläne sprach, fand eine andere sogar die Zeit, mir die Füße zu massieren. Von Überlastung keine Spur mehr.“

Auch die Zustände in Fleischereibetrieben entspannten sich spürbar. Weil kein einziger Corona-Fall mehr nachgewiesen werden konnte, kehrten die Arbeiterinnen und Arbeiter namhafter Betriebe wieder in ihre gewohnte Umgebung zurück. T. zitierte einen befreundeten Mitarbeiter von Tönnies: „Ich genieße es, endlich wieder mit meinen Freunden in einem Zimmer zu leben. Die dauerhafte Quarantäne war eine schlimme Erfahrung.“

Schöne Aussichten

Lobend hob T. außerdem die Bundesregierung hervor. Weil diese im Jahr 2020 ausnahmsweise die Schuldenbremse gelockert hatte, konnten nachhaltige wirtschaftliche Schäden größtenteils abgewendet werden. „Weil der Staat in den Jahren zuvor so sparsam war, musste nicht einmal mehr die Mehrwertsteuer erhöht werden. Sie blieb bei maximal 16 Prozent“, berichtet T.. Er kündigte außerdem an, dass fast alle Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mit deutlich höheren Löhnen in den Folgejahren rechnen könnten. Er selbst hätte gerade damit begonnen, ein Haus zu bauen, als er im Garten die Zeitkapsel fand.

Das kanadische Medium hatte außerdem noch einen Tipp für Anleger und Sparer: Das Jahr 2021 würde wohl ein sehr lukratives Jahr werden. Weil Banken und Sparkassen nach Jahren endlich wieder die Sparzinsen anhöben, würden sich private Investitionen besonders lohnen. In diesem Moment leuchtete ihre Kristallkugel hell auf. Sie erklärte das folgendermaßen: „Anscheinend ist die Netzabdeckung im nächsten Jahr so gut, dass selbst ich aus der Vergangenheit etwas davon mit meiner Kugel empfangen habe.“

T.s Aufenthalt in unserer Zeit war allerdings nur von kurzer Dauer. Nach zwei Tagen musste er wieder ins Jahr 2021 zurückkehren. Bevor er ging, hatte er noch eine weitere ermunternde Botschaft: „Das Klimaproblem wird deutlich kleiner. Weil fast ein Jahr lang alle so diszipliniert zu Hause blieben und kein Auto fuhren, sinkt die Verschmutzung der Luft im nächsten Jahr deutlich.“ Mit diesen Aussichten können wir dem kommenden Jahr alle beruhigt entgegensehen. Vielleicht treffen wir ja sogar den zeitreisenden Robert T. – er soll ziemlich charmant sein.

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Schweinereien

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Der Skandal des Fleischproduzenten Tönnies hat viele Menschen wachgerüttelt: Fleisch ist in Deutschland und anderswo viel zu billig. Landwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) möchte diese Erkenntnis nutzen, um die Zustände in den Betrieben deutlich zu verbessern. Von Verbraucherinnen und Verbrauchern erhält sie dabei durchweg positive Signale. Auch andere Branchen sind bereit nachzuziehen.

Viel zu oft braucht es einen tragischen Unfall, ein Verbrechen oder eine ausgewachsene Krise, damit Missstände ans Licht kommen. So ist es jüngst auch in verschiedenen deutschen Fleischereibetrieben gewesen. Die dortigen Arbeitsverhältnisse und die Unterbringung der Arbeitskräfte waren ein sperrangelweit geöffnetes Tor für das Corona-Virus. Die bisherige Bilanz: Tausende Mitarbeiter aus mehreren Fleischereibetrieben haben sich mit dem gefährlichen Virus infiziert. Von Todesfällen in diesem Zusammenhang war bisher zum Glück nichts zu hören. Gleichwohl waren viele von den Zuständen in den Schlachtbetrieben schockiert. Immer lauter wird der Ruf nach drastischen Maßnahmen zur Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der Arbeiter, die oft aus Ungarn oder Rumänien kommen.

Skandal mit Folgen

Der Tönnies-Skandal ist inzwischen seit mehreren Wochen publik. Viele sind nach dem ersten Entsetzen wieder zur Ruhe gekommen. Nun ist die Zeit, das Problem rational anzupacken. Und genau das soll jetzt geschehen: Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) kündigte an, dass der Fleischmarkt von Grund auf reformiert werden müsste. Der erste und vielleicht wichtigste Ansatzpunkt dabei ist der Fleischpreis. Die Ministerin ist sich sicher, dass sich an den unhaltbaren Zuständen in den Betrieben niemals etwas ändern wird, wenn Fleisch weiter zu lachhaften Discounterpreisen verscherbelt wird.

Weil sie als volksnahe Regierungsvertreterin immer auch die Sicht der Verbraucher im Blick hat, präsentierte sie erst kürzlich eine Idee, die Arbeiterwohl und Verbraucherbedürfnisse unter einen Hut bringt. Stolz verkündete sie am Montagabend die Einführung eines Mindestpreises für Fleisch. Dieser Preis wird für verschiedene Tiere pro Kilogramm Fleisch festgelegt. Die Verbraucher haben dann allerdings die Möglichkeit, auf freiwilliger Basis mehr Geld für das gekaufte Fleisch auszugeben. Die Ministerin verwies dabei auf das von ihr geplante Tierwohllabel, das ebenso auf Freiwilligkeit beruhte, allerdings schon heute erhebliche Verbesserungen in deutschen Ställen herbeigeführt hätte.

Die CDU-Politikerin nutzt bei ihrem Vorhaben die derzeitige Stimmung in der Bevölkerung. So sprachen sich seit Bekanntwerden des Skandals bei Tönnies immer wieder Bürgerinnen und Bürger dafür aus, dass sie bereit wären, deutlich mehr für Fleisch zu bezahlen. In den letzten Wochen fanden sich sogar zahlreiche Verbraucherverbände zusammen, die die Pläne der Ministerin vorantreiben. Die Allianz für Verbraucher mit Gewissen (AVG) erklärte, es wäre an der Zeit, dass alle Verbraucher ihr Konsum- und Einkaufverhalten dringend überdenken. Es könnte nicht sein, dass tumultartige Szenen entstünden, wenn die Packung Paprikalyoner für 89 Cent im Angebot wäre. Man sähe definitiv den Verbraucher in der Pflicht, damit staatliche Bemühungen nicht gegen die Wand führen wie seinerzeit mit den Milchpreisen.

Zeit zum Umdenken

Das Vorhaben der Landwirtschaftsministerin und der Verbraucherverbände stößt auf breite Zustimmung in der Bevölkerung. Viele Verbraucher sind ebenfalls der Meinung, es müsse sich dringend etwas ändern. Die anstehende Absenkung der Mehrwertsteuer ermutigt besonders viele Bürgerinnen und Bürger dazu, für Fleisch in Zukunft tiefer in die Tasche zu greifen. Doch trotz dieser steuerlichen Begünstigung müssen die meisten Kundinnen und Kunden Abstriche machen. Die alleinerziehende Friseurmeisterin und Kassiererin Fabienne R. stört das wenig. Sie erklärt: „Es ist mir unglaublich wichtig, meinen beiden Kindern die Werte zu vermitteln, auf die es im Leben ankommt. Ich möchte ihnen nichts auftischen, wofür andere auf unmenschliche Art geknechtet wurden. Deswegen zahle ich gerne etwas mehr, auch wenn das bedeutet, dass ich künftig ein bisschen länger arbeiten muss. Ich bin sehr froh, dass ich gerade die Zusage von der Wäscherei erhalten habe.“

Auch der pensionierte Kfz-Mechaniker Werner S. ist bereit, für einen höheren Fleischpreis stärker auf die Tube zu drücken. Erst neulich hat er seinen persönlichen Rekord von 65 Pfandflaschen an einem Nachmittag gebrochen. Ebenso viel Solidarität zeigt der 53-jährige Jürgen K. Der Hartz-IV – Empfänger hat sich dazu bereit erklärt, ab sofort auf sein Mittagessen zu verzichten, um sich abends ein schönes Kotelett zu fairen Bedingungen leisten zu können. Die Mittagszeit will er stattdessen dazu nutzen, noch mehr Bewerbungen zu schreiben.

Solidarität mit Wirkung

Die Fleischereibetriebe freuen sich über das Engagement ihrer Kundschaft. „Als Familienbetrieb wissen wir das Entgegenkommen der Verbraucher sehr zu schätzen. Durch die Mehreinnahmen können wir endlich unsere Mitarbeiter angemessen entlohnen“, erklärte am Nachmittag eine Sprecherin von Tönnies. Der Betrieb kündigte weitreichende Verbesserungen bei der Unterbringung seiner Arbeitskräfte an. So sollen die jetzigen Anlagen kernsaniert werden. Eine dauerhafte Versorgung mit Strom und Internet ist ebenso geplant. Außerdem soll den Arbeitern künftig den ganzen Tag Warmwasser zur Verfügung stehen, und nicht nur morgens und abends. „Wenn die gestiegenen Einnahmen das jetzige Level halten, dann können wir für die Zukunft sogar über Einzelunterbringungen der Arbeitskräfte nachdenken,“ fährt die Unternehmenssprecherin fort.

Den vielversprechenden Ankündigungen schlossen sich weitere Betriebe der Branche an. In einem knappen Pressestatement von Wiesenhof hieß es demnach: „Von den höheren Ausgaben für Fleisch profitiert nicht nur der Verbraucher. Auch wir als Produzent können für bessere Haltungsbedingungen sorgen. Wir reden hier immerhin von ganzen zwei DINA4-Blättern mehr Platz – für Vieh und Mitarbeiter wohlgemerkt.“

Geben und Nehmen

An den bemerkenswerten Entwicklungen in der Fleischbranche nehmen sich indes auch andere Bereiche ein Beispiel. Die bisher als Billigfluglinie verschriene Gesellschaft ryanair möchte es ihren Passagieren ab sofort ebenfalls ermöglichen, durch einen freiwilligen Aufpreis die Situation des Kabinenpersonals erheblich zu verbessern. ryanair verlangte bisher teilweise weniger als 30 Euro pro Ticket. Eine angemessene Entlohnung für Mitarbeiter war der Gesellschaft daher nicht zumutbar. „Hätten wir gewusst, wie zahlungswillig unsere Kundschaft ist, hätten wir unseren Mitarbeitern vieles erspart“, heißt es aus einer offiziellen Erklärung der Fluglinie.

Auch Paketzustelldienste und Pflegeheimbetreiber hoffen auf den neuen Effekt. Es sei nicht mehr mit anzusehen, wie manche Heimbewohner vor sich hinvegetierten, nur weil die Angehörigen bisher den Gürtel so eng schnallten. Paketzusteller Mahmut F. sieht gleichermaßen einer rosigen Zukunft entgegen. Er ist sich sicher: „Wenn die Empfänger meiner Pakete in Zukunft ein saftiges Trinkgeld dazugeben, kann ich bald schon nach zwölf Stunden Feierabend machen und mehr Zeit mit meiner Familie verbringen.“

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