Ein Kartenhaus

Lesedauer: 6 Minuten

Viele Menschen sind zwischenzeitlich geimpft, der Inzidenzwert sinkt stetig. Erfreuliche Entwicklungen, könnte man meinen. Die Sache hat nur einen Haken: Für Geimpfte entfällt die Testpflicht. Was für viele eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, bereitet anderen große Sorgen. Wenn Infektionen trotz Impfung möglich sind, bedeutet das, dass wiederum viele Infizierte unerkannt bleiben. Perfekter Nährboden für Mutationen also. Eine andauernde Testpflicht für Geimpfte könnte dem vorbeugen.

Immer mehr Menschen kann in der Zwischenzeit ein Impfangebot gemacht werden. In der Diskussion sind nun auch Impfungen für Kinder. Über den in Frage kommenden Impfstoff ist man sich noch nicht einig, aber immerhin scheint die Impfkampagne auch in Deutschland endlich in vollem Gange zu sein. Für viele ein erfreuliches Zeichen: Seit Wochen sind die Inzidenzzahlen und die gemeldeten Neuinfektionen rückläufig. Die Politik nimmt das zum Anlass, mehr und mehr Beschränkungen zurückzunehmen. So begrüßenswert diese Entwicklungen sind, so verantwortungslos bleibt die naive Fixierung auf den Inzidenzwert.

Höhen und Tiefen

Diese Zahl ist abhängig von den gemeldeten Neuinfektionen innerhalb einer definierten Gruppe und innerhalb eines festgelegten Zeitraums. Momentan ist das die Anzahl der Neuinfizierten unter 100.000 Einwohnern in sieben Tagen. Sie gibt also nur Aufschluss über die gegenwärtige Infektionslage – und auch das nur unter den gegebenen Testvoraussetzungen. Mehr als eine Momentaufnahme ist die Inzidenzzahl nicht. Geeignet, um eine fundierte Aussage zu Infektiosität oder Gefährlichkeit des Virus zu treffen, ist sie bestenfalls, wenn umfassend getestet wird.

Das war seit Jahresbeginn immer mehr der Fall. Seit die Schnelltests für die Bevölkerung frei erhältlich sind und seitdem sich immer mehr Menschen impfen lassen können, wird am laufenden Band getestet. Bei einem hochinfektiösen Virus wie SARS-Cov-2 verwundert es wenig, dass bei höherer Testkapazität eine deutlich höhere Zahl der Tests positiv ausfällt. Immerhin ist ein Corona-Test fester Bestandteil der Impfprozedur. Wenn bestimmte Bereiche nur mit vollständiger Impfung oder negativem Test zugänglich sind, erhöht dies die Zahl der positiven Tests zusätzlich.

Relativ ungenau

Bevor es diese Zugangsbeschränkungen gab, fielen viele symptomlose Infizierte schlicht aus dem Raster. Da immer mehr Menschen vollständig geimpft sind, entfällt für sie die Pflicht, sich regelmäßig testen zu lassen. Sollten sie also trotz Impfung Corona-positiv sein, bleibt das ohne einschlägige Symptome unerkannt. Da sich die Hinweise verdichten, dass die Impfstoffe besonders gut gegen schwere Krankheitsverläufe helfen, also gegen bekannte Symptome, befördert das den Trend.

Die Inzidenzzahl als Richtwert für die Gefährlichkeit des Virus eignet sich also bestenfalls, wenn die meisten Menschen noch nicht geimpft sind. Das ändert sich derzeit rapide. Wenn die Bevölkerung zu einem hohen Anteil durchgeimpft ist, kann die Inzidenz keine ausschlaggebende Grundlage für Anti-Corona – Maßnahmen mehr sein. Es wäre von Anfang an besser gewesen, man hätte die Auslastung der Intensivbetten oder die Anzahl der Todesfälle als Indikator für die Gefährlichkeit des Virus zugrundegelegt. Auch das wäre natürlich nur dann zielführend gewesen, hätte man einen Großteil der Bevölkerung getestet. Und natürlich hätte man das ganze nicht von der Gesamtkapazität an entsprechenden Betten in den Kliniken abhängig machen dürfen. Denn jeder weiß, wie schlecht es um die Ausstattung in deutschen Krankenhäusern bestellt ist.

Unbehelligt infiziert

Es steht zu befürchten, dass mit fortschreitender Impfkampagne die Testkapazitäten nach und nach abgebaut werden. Wenn für Geimpfte keine Testpflicht besteht und eine große Zahl an Menschen bereits geimpft ist, wäre die Aufrechterhaltung von Testmöglichkeiten im großen Stil ein einziges Verlustgeschäft. Nach allem, was wir wissen, scheinen die Impfstoffe vorrangig schweren Krankheitsverläufen vorzubeugen. Selbst bei Risikopatienten können dadurch Symptome ganz ausbleiben. Für die Betroffenen ist das natürlich eine gute Nachricht. Solange ungeklärt ist, ob die Wirkstoffe auch gegen Infektionen schützen, bleiben viele zumindest vor einer schweren Erkrankung verschont.

Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass Infektionen bei den vielen Symptomlosen unerkannt bleiben. Man muss kein Virologe sein, um zu erkennen, dass dieser Schuss nach hinten losgehen kann. Wenn die Infektionen wie bereits im Frühjahr 2020 größtenteils im Verborgenen stattfinden, mutiert das Virus unter Umständen munter vor sich hin. Würde man die Testpflicht auch für Geimpfte aufrechterhalten, könnten solche Mutationstendenzen eventuell frühzeitig erkannt werden.

Sicherheit im Kartenhaus

Eine anhaltende Testpflicht für Geimpfte hätte noch weitere Vorteile im Kampf gegen die Pandemie. Als die Pandemie vor etwa anderthalb Jahren ausbrach, da riefen viele reflexartig nach einem Impfstoff. Es steht außer Frage, dass geeignete Impfstoffe ein äußerst probates Mittel im Kampf gegen schwere Krankheiten sind. Und natürlich ist es erfreulich, dass die Wissenschaft so intensiv an einem Vakzin geforscht haben – eine Wahl hatte sie ehrlicherweise aber sowieso nicht. Trotzdem darf man nie vergessen, dass ein Präparat nach einigen Monaten unmöglich vollständig erforscht sein kann.

Verlässliche Aussagen zu Wirksamkeit, Wirkweise und Wirkdauer sind nach so kurzer Testung schlicht nicht möglich. Die akute Lage machte eine schnelle Zulassung allerdings dringend nötig. Man muss sich nun aber damit abfinden, dass wir auch nach der Zulassung der Impfstoffe weiterhin in einer groß angelegten Testphase stecken. Die fortschreitende Impfkampagne kann Aufschluss darüber geben, wie wirkungsvoll die zugelassenen Präparate sind und was sie gegen die Krankheit tatsächlich ausrichten. Die Aussetzung der Testpflicht für geimpfte Personen ist dabei eine vertane Chance. Man gaukelt den Menschen Sicherheit vor, die auf bloßen Annahmen fußt. Eine Impfkampagne ohne Testpflicht ist wie ein Kartenhaus, das einer vierten Welle nicht standhalten wird.


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Zu kurz gedacht

Lesedauer: 7 Minuten

Die Impfkampagne nimmt auch in Deutschland immer kräftiger an Fahrt auf. Die Behörden können mehr und mehr Menschen ein Impfangebot machen. Dass es durchaus Menschen gibt, die sich aus verschiedenen Gründen gegen eine Impfung entscheiden, blendet der öffentliche Diskurs fast vollständig aus. Die Devise ist und bleibt: Deutschland lässt sich impfen. Diese verkürzte Debatte nimmt vielen Menschen allerdings die Möglichkeit, eine gut überlegte Impfentscheidung zu treffen. Sie trägt eher dazu bei, die Gesellschaft weiter in Gut und Böse zu spalten. Und natürlich will jeder auf der Seite der Guten stehen…

Hoffnungsträger der ersten Stunde

Die Weltgesundheitsorganisation hatte die Verbreitung von SARS-Cov-2 noch nicht richtig zur Pandemie erklärt, da war für viele bereits klar: Die durch das Virus ausgelöste Erkrankung lässt sich nur durch einen Impfstoff bändigen. Es ist völlig unstrittig, dass ein wirksames Vakzin bei der Bekämpfung einer gefährlichen Krankheit durchaus den Durchbruch bringen kann. Ein zuverlässiger und wirksamer Impfstoff setzt aber voraus, dass ausreichend lange an ihm geforscht wurde. Die Impfforscher müssen das neuartige Präparat auf alle möglichen Risiken und seine Verträglichkeit bei unterschiedlichen Zielgruppen abklopfen. Sie müssen klären, welche Dosis notwendig ist, damit der Impfstoff seine volle Wirkung entfalten kann. In erster Linie müssen sie sich dafür Zeit nehmen, um alle diese kritischen Fragen fundiert beantworten zu können.

Zeit spielte bei der Erforschung der Impfstoffe gegen Covid-19 scheinbar selten eine Rolle. Kaum jemanden verwunderte es ernsthaft, dass manche Hersteller bereits einige Monate nach Ausbruch der Pandemie mit einer baldigen Zulassung ihrer Präparate warben. Nur wenige wunderte es, dass die Forscherinnen und Forscher so schnell einen Impfstoff entwickeln konnten, obwohl zuvor kaum Ressourcen in die Bekämpfung der seit langem bekannten Coronaviren gesteckt wurden. Noch weniger Menschen stellten laut die Frage, weswegen so fieberhaft an einem Impfstoff geforscht wurde, während man die Entwicklung eines Medikaments so sträflich vernachlässigte.

Doppelt hält besser

Fast niemanden schien es zu stören, dass ein so rasant schnell entwickelter Impfstoff einige Abstriche verlangte. Beispielsweise ist nach wie vor unklar, wie zuverlässig der Wirkstoff gegen eine Infizierung mit dem Virus oder gegen einen Ausbruch der Krankheit schützt. Hätte man parallel zum Impfstoff ähnlich verbissen an einer erfolgsversprechenden Medikation geforscht, könnte man einem unter Umständen schwachen Impfschutz heute besser begegnen.

Die wenigsten schienen sich auch für die Gründe hinter diesen Forschungsentscheidungen zu interessieren. Es ist völlig klar: Wenn eine neuartige Krankheit grassiert und so viele Menschenleben fordert, darf bei der Erforschung von Impfstoffen und Medikamenten keine Zeit vertan werden. Es muss alles getan werden, um die Krankheit an einer weiteren Ausbreitung zu hindern. Im Normalfall dauert es aber eine ganze Weile bis Impfstoffe und Medikamente die hohen Zulassungshürden nehmen. Die Medikamente gegen Covid-19 lassen wohl auch deshalb weiterhin auf sich warten. Die Impfstoffe hingegen haben die Forschung an Medikamenten ganz schön alt aussehen lassen. Immerhin werden die Impfstoffe an alle Menschen verabreicht, die bereit dazu sind. Die Medikamente allerdings erhalten nur solche Menschen, die sich bereits infiziert haben und einen besonders schweren Krankheitsverlauf entwickeln. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Subject to Change

All diese Aspekte wurden bisher in der öffentlichen Debatte um die Impfstoffe weitestgehend ausgeblendet. Man verlässt sich auf die Daten, die seröse Quellen wie beispielsweise das Robert-Koch – Institut so hergeben. Das Problem an diesen Daten: Sie sind selten von langer Dauer und unterliegen ständigen Aktualisierungen. Das ist auch überhaupt kein Wunder, wenn die Impfstoffe bereits nach einigen Monaten zugelassen wurden. Theoretisch stufen die Wissenschaftler die Präparate als sicher ein, praktisch allerdings befinden wir uns weiterhin in der Erprobung der Impfstoffe. Es ist zwar nicht zu erwarten, dass sich in einigen Monaten herausstellt, dass die Wirkstoffe völlig nutzlos waren, doch ein Aspekt kommt bei der Diskussion um die Impfungen definitiv zu kurz: Was bedeutet es, wenn Impfstoffe nach so kurzer Zeit die Zulassung erhalten, obwohl die meisten von ihnen auf einer Methodik beruhen, die zuvor nur selten oder noch nie am Menschen zum Einsatz kamen?

Kritische Stimmen dazu kommen immer nur dann zu Wort, wenn akut besonders heftige Nebenwirkungen auftraten. Das beste Beispiel dafür ist der Wirkstoff von AstraZeneca. Zunächst war völlig unklar, an welche Altersgruppen er gefahrlos verimpft werden kann, dann kam es zu Blutgerinnseln im Gehirn, als nächstes war er wieder der Hoffnungsträger, zur Zeit steht seine Verträglichkeit wieder eher im Zweifel. Was dieser Impfstoff erlebt, ist nichts anderes als eine groteske Berg- und Talfahrt, die einzig darauf zurückzuführen ist, dass die Forschungsphase so kurz war.

Datenverlust ausgeschlossen

Obwohl alle diese Bedenken ernstzunehmen sind, scheren sich die wenigsten darum. Es ist vollkommen legitim – und in vielen Fällen sicherlich vernünftig – sich impfen zu lassen. Vielen Menschen wird eine gut überlegte Impfentscheidung aber dadurch verwehrt, dass elementare Punkte in der Debatte um die Impfsicherheit viel zu kurz kommen. Dass es auch anders geht, zeigt die Resonanz der Corona – Warn-App der Bundesregierung.

Die Diskussion war hier zwar ähnlich verkürzt wie bei den Impfstoffen, führte aber zum gegenteiligen Ergebnis. Hier dominierte das Argument der Datensicherheit die Debatte über Gebühr. Die Angst davor, unwissentlich sensible Daten über sich selbst preiszugeben, hielt viele Menschen davon ab, die App auf ihren Smartphones zu installieren.

Ähnlich kritisch gegenüber dem Umgang mit Daten zeigen sich die meisten auch bei anderen Anwendungen. So kommt es derzeit zu einer massenhaften Abkehr von WhatsApp. Der Messenger erdreistet sich ernsthaft, die Daten seiner Nutzerinnen und Nutzer zu Werbezwecken weiterzugeben, um auch in Zukunft praktisch kostenfrei nutzbar zu bleiben. Die Sorge vor einem Datenmissbrauch lässt die App in der Gunst der Anwenderinnen und Anwender deutlich sinken.

So würde es auch AstraZeneca, BioNTec & Co. ergehen, wenn sie ernsthaft unter Verdacht stünden, gegen wichtige Datenschutzbestimmungen zu verstoßen. Dass sie wenig erprobt sind, nehmen dafür viele Menschen in Kauf. Und warum ist das so? Es ist ganz einfach: Die Angst vor einer Erkrankung übersteigt die Skepsis gegenüber einem unzureichend erforschten Impfstoff. Die Sorge vor möglichen Spätfolgen, adversen Impfeffekten oder sonstigen unerwünschten Erscheinungen wird besonders erfolgreich unterdrückt, wenn all diese Punkte in der öffentlichen Diskussion wenig oder gar nicht zur Sprache kommen.

Ad absurdum

Stattdessen verbannt man kritische Töne lieber ins Reich der Verschwörungstheorien. Wer trotzdem Kritik an der Impfkampagne oder an den Impfstoffen an sich äußert, der bekommt ruckzuck die Querdenker-Keule zu spüren. Keine seriöse Kritik darf an den Grundfesten der allgemeinen Impfeuphorie rütteln. Nun kann man zu harsche Kritik tatsächlich als unangebracht empfinden. Immerhin geht es um die Bekämpfung einer Pandemie, die zigtausend Menschenleben fordert. Abstriche können da nicht ausbleiben. Aber darum geht es gar nicht. Dieses Scheinargument soll den Menschen ein gutes Gefühl geben und dafür sorgen, dass sie sich Impfskeptikern gegenüber moralisch erhaben fühlen. Dadurch fällt es ihnen leichter, Widerspruch in eine Ecke zu drängen, mit der sie verständlicherweise nichts zu tun haben wollen. Für die Vertreter der Pharmalobby rollt währenddessen weiter der Rubel. Widerstand gegen ihre Pläne gehört nun eindeutig zu den Querulanten von Stuttgart 711.

Eine ernsthafte und konstruktive Debatte wird dadurch natürlich erfolgreich unterdrückt. Sachliche und begründbare Argumentente landen in einem Topf mit missgebildeten Embryonen, der Injektion von Kinderblut und einer globalen Intrige von Bill Gates. Aus Angst davor, auf eine Wand des Unverständnisses und der Ablehnung zu stoßen, halten viele ganz den Mund oder relativieren das Gesagte schnell wieder, wie wir es bei der Aktion #allesdichtmachen gesehen haben. Künstlerinnen und Künstler, die sich zuvor nie etwas in diese Richtung haben zu schulden kommen lassen, waren auf einmal Jünger von Attila Hildmann und Xavier Naidoo. Immer mehr Menschen finden sich damit ab, dass eine kritische Meinung unerwünscht ist. Für eine freiheitliche Demokratie sind solche Entwicklungen ganz bestimmt nicht günstig.


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Nachträglicher Blankoscheck

Lesedauer: 6 Minuten

Die Impfkampagne kommt in Deutschland allmählich in die Gänge. Eine beachtliche Zahl an Menschen hat bereits die Erstimpfung erhalten. Manche sind sogar bereits komplett durchgeimpft. Die Impfung ist ein wichtiger Meilenstein im Kampf gegen die Pandemie. Der Bundestag hat darum jüngst beschlossen, dass Geimpfte und Genesene von einem Teil der Beschränkungen ausgenommen werden. Diese Lockerungen betreffen aber zunächst nur den privaten Bereich, in dem viele Menschen seit Monaten munter gegen die Auflagen verstoßen. Kaputtgesparte Krankenhäuser und unterbesetzte Gesundheitsämter lassen eine Öffnung des öffentlichen Bereichs weiter nicht zu.

Ein Stückchen mehr Freiheit

Worauf viele seit Monaten gehofft haben, hat der Bundestag nun in der vergangenen Woche beschlossen: Die Grundrechtseinschränkungen von Geimpften und Genesenen werden teilweise zurückgenommen. Wer vollständig gegen Covid-19 geimpft ist oder in den vergangenen sechs Monaten eine Erkrankung überstanden hat, ist fortan mit negativ getesteten Personen rechtlich gleichgestellt.

Die Entscheidung wurde von vielen sehnsüchtig erwartet. Immerhin gelten entsprechende Regelungen in an deren Ländern schon seit längerem. Im Gegensatz zu Deutschland haben in diesen Ländern bereits weit mehr Menschen eine vollständige Impfung gegen das Virus erhalten. Trotzdem ist es richtig, die Grundrechtseinschränkungen laufend zu überprüfen und zurückzunehmen, falls der Grund für die Einschränkungen wegfällt.

Testpflicht statt Impfpflicht

Bis zuletzt hat sich in diesem Zusammenhang besonders Bundesjustizministerin Christine Lambrecht gegen den Begriff „Privilegien“ gesperrt. Und sie hat völlig recht: Die Rückgabe elementarer Grundrechte ist keine edelmütige Tat, es ist keine staatliche Großzügigkeit, es ist eine Selbstverständlichkeit. Der Wegfall der umfassenden Einschränkungen ist auch verantwortbar, wenn ein adäquates Mittel gefunden ist, das Neuinfektionen verhindert, ohne dass Menschen auf einige ihrer Grundrechte verzichten müssen.

Eine vollständige Impfung gegen das Virus allein reicht hier nicht. Bislang ist weiter ungeklärt, mit welcher Wirksamkeit die Impfstoffe Infektionen und schwere Krankheitsverläufe verhindern. Die Zahlen, die dabei immer wieder in den Raum geworfen werden, basieren auf Testverfahren, die nach weniger als einem Jahr abgeschlossen wurden. Niemand kann bei einer solch verkürzten Forschungsphase seriös die Wirksamkeit oder die Unwirksamkeit eines Präparats belegen.

Nach aktuellem Kenntnisstand beugen die Impfstoffe zwar einem schweren Krankheitsverlauf vor, die Weitergabe des Virus wird aber nur unzureichend verhindert. Genau darum sollte es beim Kampf gegen die Pandemie aber gehen. Im Vordergrund sollte der Schutz der Gemeinschaft stehen. Dieses Ziel wird am besten erreicht, wenn man dafür sorgt, dass man möglichst wenige Menschen ansteckt. Eine Impfung kann ein erster Schritt dazu sein, reicht aber bei weitem nicht aus. Viel sinnvoller wäre die Aufrechterhaltung der Testpflicht für alle Menschen. Auch die Tests arbeiten nicht immer ganz zuverlässig, können im Zweifelsfall aber Infizierte gezielt isolieren, anstatt ihnen einen Freibrief auszustellen.

Es ist kein Wunder, dass viele Menschen die Lockerungen für Geimpfte als Privilegien verstehen, wenn für sie mit der Impfung der Kampf gegen die Pandemie endet. Solange nicht klar ist, dass Geimpfte mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit keine Überträger des Virus mehr sein können, muss auch für diese Gruppe die Testpflicht weiterhin gelten. Stattdessen dürfen sie nach der Impfung genau das wieder tun, was viele von ihnen seit Monaten sowieso wieder tun.

Infektionen im Verborgenen

Ausgerechnet die Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen fallen für Geimpfte als erstes. Dabei tummeln sich die Menschen seit Monaten eng an eng in deutschen Wohnzimmern. Die bisher geltenden Besuchsregelungen handhaben viele äußerst lax oder setzen sich grundsätzlich darüber hinweg. Aus rein menschlicher Sicht fällt es schwer, dem etwas entgegenzusetzen. Als soziales Wesen braucht der Mensch die Begegnungen und den Austausch mit anderen. Regelmäßige Skype-Sessions und Telefonate können das auf Dauer nicht ersetzen. Eine Infektionsnachverfolgung im privaten Raum ist allerdings wesentlich schwieriger als in öffentlichen Einrichtungen.

Wenn der Staat als erstes diese Regelungen zurücknimmt, tut er sich damit keinen Gefallen. Schon jetzt entziehen sich die privaten Haushalte völlig zurecht der staatlichen Kontrolle. Anstatt möglichen Infektionstreibern mit den nun zugesprochenen Lockerungen einen Blankoscheck auszustellen, würde es deutlich mehr Sinn machen, sie aus den schwer kontrollierbaren Bereichen herauszuholen. Kombiniert mit den jetzt beschlossenen Lockerungen führt der schwache Infektionsschutz der Impfungen zu einer Reihe nicht erkannter Infektionen, die das Infektionsgeschehen weiter anheizen werden. Hätten die Menschen stattdessen die Möglichkeit, sich in Bereiche zu begeben, in denen Infektionen zumindest teilweise nachverfolgt werden können, würde das die Infektionslage deutlich schneller beruhigen.

Experimentieren mit Halbwissen

Bei solchen Lockerungen wäre allerdings der Staat in der Pflicht. Das öffentliche Leben bedeutet auch öffentliche Verantwortung. Der Staat müsste dafür sorgen, dass die Gastronomie und kulturelle Einrichtungen die ihnen auferlegten Maßnahmen effektiv umsetzen können. Unterbesetzte Gesundheitsämter und kaputtgesparte Krankenhäuser führten jedoch bereits in der ersten Welle der Pandemie dazu, dass die Hygienemaßnahmen in diesen Betrieben in vielen Fällen ins Leere liefen. Dort entstandene Infektionen konnten bald nicht mehr nachverfolgt werden, weil den Behörden schlicht das Personal fehlte.

Die großzügigen Öffnungen im privaten Bereich entlassen den Staat aus dieser Pflicht. Die Geimpften und Nur-so-halb-Corona-Immunen tragen die Verantwortung allein. Trotz fehlender fundierter Erkenntnisse, gaukelt man dieser Gruppe vor, dass von ihr eine weitaus geringere Infektionsgefahr ausgeht als von Ungeimpften. Das kann sogar stimmen. Gesichert ist dieses Wissen aber nicht.

Auf wackeligen Beinen

Gerade in dieser Situation wäre es umso nötiger, die Lockerungen kontrolliert zu vollziehen. Es muss nachvollziehbar bleiben, an welchen Stellen sich Menschen weiterhin anstecken und in welcher Häufigkeit das geschieht. Im privaten Bereich wird das selbst mit stark besetzten und hochdigitalisierten Gesundheitsämtern nur schwer möglich sein. Die voranschreitende Impfkampagne wäre in Kombination mit einer strikten Testpflicht ein großer Schritt zu mehr Normalität gewesen. Gleichzeitig hätten viele gastronomische und kulturelle Betriebe und Geschäfte des Einzelhandels aus ihrer Zwangssiesta erwachen können.

Man hat diese Chance nicht genutzt. Stattdessen lässt man den Zug der Lockerungen ähnlich unkontrolliert rollen wie bereits in der ersten Welle der Pandemie. Die gebeutelte Wirtschaft lässt man damit erneut im Stich. Wenn beizeiten keine geeigneten Gegenmaßnahmen eingeleitet werden, ist der nächste Lockdown nur eine Frage der Zeit.


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