Ein Kartenhaus

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Viele Menschen sind zwischenzeitlich geimpft, der Inzidenzwert sinkt stetig. Erfreuliche Entwicklungen, könnte man meinen. Die Sache hat nur einen Haken: Für Geimpfte entfällt die Testpflicht. Was für viele eine Selbstverständlichkeit zu sein scheint, bereitet anderen große Sorgen. Wenn Infektionen trotz Impfung möglich sind, bedeutet das, dass wiederum viele Infizierte unerkannt bleiben. Perfekter Nährboden für Mutationen also. Eine andauernde Testpflicht für Geimpfte könnte dem vorbeugen.

Immer mehr Menschen kann in der Zwischenzeit ein Impfangebot gemacht werden. In der Diskussion sind nun auch Impfungen für Kinder. Über den in Frage kommenden Impfstoff ist man sich noch nicht einig, aber immerhin scheint die Impfkampagne auch in Deutschland endlich in vollem Gange zu sein. Für viele ein erfreuliches Zeichen: Seit Wochen sind die Inzidenzzahlen und die gemeldeten Neuinfektionen rückläufig. Die Politik nimmt das zum Anlass, mehr und mehr Beschränkungen zurückzunehmen. So begrüßenswert diese Entwicklungen sind, so verantwortungslos bleibt die naive Fixierung auf den Inzidenzwert.

Höhen und Tiefen

Diese Zahl ist abhängig von den gemeldeten Neuinfektionen innerhalb einer definierten Gruppe und innerhalb eines festgelegten Zeitraums. Momentan ist das die Anzahl der Neuinfizierten unter 100.000 Einwohnern in sieben Tagen. Sie gibt also nur Aufschluss über die gegenwärtige Infektionslage – und auch das nur unter den gegebenen Testvoraussetzungen. Mehr als eine Momentaufnahme ist die Inzidenzzahl nicht. Geeignet, um eine fundierte Aussage zu Infektiosität oder Gefährlichkeit des Virus zu treffen, ist sie bestenfalls, wenn umfassend getestet wird.

Das war seit Jahresbeginn immer mehr der Fall. Seit die Schnelltests für die Bevölkerung frei erhältlich sind und seitdem sich immer mehr Menschen impfen lassen können, wird am laufenden Band getestet. Bei einem hochinfektiösen Virus wie SARS-Cov-2 verwundert es wenig, dass bei höherer Testkapazität eine deutlich höhere Zahl der Tests positiv ausfällt. Immerhin ist ein Corona-Test fester Bestandteil der Impfprozedur. Wenn bestimmte Bereiche nur mit vollständiger Impfung oder negativem Test zugänglich sind, erhöht dies die Zahl der positiven Tests zusätzlich.

Relativ ungenau

Bevor es diese Zugangsbeschränkungen gab, fielen viele symptomlose Infizierte schlicht aus dem Raster. Da immer mehr Menschen vollständig geimpft sind, entfällt für sie die Pflicht, sich regelmäßig testen zu lassen. Sollten sie also trotz Impfung Corona-positiv sein, bleibt das ohne einschlägige Symptome unerkannt. Da sich die Hinweise verdichten, dass die Impfstoffe besonders gut gegen schwere Krankheitsverläufe helfen, also gegen bekannte Symptome, befördert das den Trend.

Die Inzidenzzahl als Richtwert für die Gefährlichkeit des Virus eignet sich also bestenfalls, wenn die meisten Menschen noch nicht geimpft sind. Das ändert sich derzeit rapide. Wenn die Bevölkerung zu einem hohen Anteil durchgeimpft ist, kann die Inzidenz keine ausschlaggebende Grundlage für Anti-Corona – Maßnahmen mehr sein. Es wäre von Anfang an besser gewesen, man hätte die Auslastung der Intensivbetten oder die Anzahl der Todesfälle als Indikator für die Gefährlichkeit des Virus zugrundegelegt. Auch das wäre natürlich nur dann zielführend gewesen, hätte man einen Großteil der Bevölkerung getestet. Und natürlich hätte man das ganze nicht von der Gesamtkapazität an entsprechenden Betten in den Kliniken abhängig machen dürfen. Denn jeder weiß, wie schlecht es um die Ausstattung in deutschen Krankenhäusern bestellt ist.

Unbehelligt infiziert

Es steht zu befürchten, dass mit fortschreitender Impfkampagne die Testkapazitäten nach und nach abgebaut werden. Wenn für Geimpfte keine Testpflicht besteht und eine große Zahl an Menschen bereits geimpft ist, wäre die Aufrechterhaltung von Testmöglichkeiten im großen Stil ein einziges Verlustgeschäft. Nach allem, was wir wissen, scheinen die Impfstoffe vorrangig schweren Krankheitsverläufen vorzubeugen. Selbst bei Risikopatienten können dadurch Symptome ganz ausbleiben. Für die Betroffenen ist das natürlich eine gute Nachricht. Solange ungeklärt ist, ob die Wirkstoffe auch gegen Infektionen schützen, bleiben viele zumindest vor einer schweren Erkrankung verschont.

Im Umkehrschluss bedeutet das aber auch, dass Infektionen bei den vielen Symptomlosen unerkannt bleiben. Man muss kein Virologe sein, um zu erkennen, dass dieser Schuss nach hinten losgehen kann. Wenn die Infektionen wie bereits im Frühjahr 2020 größtenteils im Verborgenen stattfinden, mutiert das Virus unter Umständen munter vor sich hin. Würde man die Testpflicht auch für Geimpfte aufrechterhalten, könnten solche Mutationstendenzen eventuell frühzeitig erkannt werden.

Sicherheit im Kartenhaus

Eine anhaltende Testpflicht für Geimpfte hätte noch weitere Vorteile im Kampf gegen die Pandemie. Als die Pandemie vor etwa anderthalb Jahren ausbrach, da riefen viele reflexartig nach einem Impfstoff. Es steht außer Frage, dass geeignete Impfstoffe ein äußerst probates Mittel im Kampf gegen schwere Krankheiten sind. Und natürlich ist es erfreulich, dass die Wissenschaft so intensiv an einem Vakzin geforscht haben – eine Wahl hatte sie ehrlicherweise aber sowieso nicht. Trotzdem darf man nie vergessen, dass ein Präparat nach einigen Monaten unmöglich vollständig erforscht sein kann.

Verlässliche Aussagen zu Wirksamkeit, Wirkweise und Wirkdauer sind nach so kurzer Testung schlicht nicht möglich. Die akute Lage machte eine schnelle Zulassung allerdings dringend nötig. Man muss sich nun aber damit abfinden, dass wir auch nach der Zulassung der Impfstoffe weiterhin in einer groß angelegten Testphase stecken. Die fortschreitende Impfkampagne kann Aufschluss darüber geben, wie wirkungsvoll die zugelassenen Präparate sind und was sie gegen die Krankheit tatsächlich ausrichten. Die Aussetzung der Testpflicht für geimpfte Personen ist dabei eine vertane Chance. Man gaukelt den Menschen Sicherheit vor, die auf bloßen Annahmen fußt. Eine Impfkampagne ohne Testpflicht ist wie ein Kartenhaus, das einer vierten Welle nicht standhalten wird.


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Wirken die bisher zugelassenen Impfstoffe gegen Corona? Wogegen genau wirken sie? Wie lange wirken sie? Sind Geimpfte ansteckend? Diese Fragen dürfen derzeit in keiner Debatte um die Impfstoffe von AstraZeneca, BioNTech & Co. fehlen. Sie alle eint, dass es unbeantwortete Fragen sind – und dass ihre Beantwortung wohl noch einige Zeit auf sich warten lässt. Verkürzte Testverfahren haben dazu geführt, dass die Skepsis gegen die neuentwickelten Präparate dieses Mal ungewöhnlich groß ist. Währenddessen sprechen sich immer mehr Politiker für Privilegien für Geimpfte aus. Doch das ist der völlig falsche Weg.

Ein Meilenstein?

Am 21. Dezember 2020 war es soweit: Mit dem Wirkstoff von BioNTech und Pfizer wurde der erste Impfstoff gegen Covid-19 in der EU zugelassen. Nach nicht einmal neun Monaten Pandemie war ein Meilenstein im Kampf gegen das Virus erreicht. Wer vom Virus besonders bedroht ist, darf sich seit Ende Dezember impfen lassen. In den vergangenen Monaten erhielten dann immer mehr Wirkstoffe die Zulassung.

Über die Impfstoffe wurde schon lange gesprochen. Die WHO hatte Corona noch nicht einmal zur Pandemie erklärt, da setzten viele ihre Hoffnungen bereits auf einen aussichtsreichen Impfstoff. Doch spätestens seit die Zulassung in die heiße Phase ging, wurde eine Gruppe immer lauter: Zahlreiche Impfskeptiker meldeten Bedenken gegen die Impfstoffe an. Den Wissenschaftlern und Politikern ist es bisher nicht gelungen, diese Kritik zu entkräften.

Infektiologische Frühgeburt

Das können sie auch gar nicht. In seinem Buch Corona Impfstoffe – Rettung oder Risiko? setzt sich der österreichische Biologe Clemens G. Arvay mit ebendieser Skepsis gegenüber den Impfstoffen sehr sachlich und differenziert auseinander. Sein Fazit nach etwa 130 Seiten ist eindeutig: Die Testphasen waren viel zu kurz, um überhaupt verlässliche Aussagen bezüglich der Impfstoffe zu treffen.

In äußerst verständlicher Weise führt der Autor den Lesern vor Augen, was es bedeutet, wenn ein Impfstoff in weniger als einem Jahr entwickelt und zugelassen wird. Immer wieder verweist er dabei auf das Vakzin gegen Mumps, das mit stolzen vier Jahren den bisherigen Weltrekord des am schnellsten entwickelten Impfstoffs hielt. Allerdings handelte es sich bei diesem Wirkstoff um einen konventionellen Impfstoff. Die neuen Corona-Impfstoffe jedoch basieren auf einem Verfahren, das bisher kaum oder noch gar nicht am Menschen zum Einsatz kam.

Arvay ist es daher besonders ein Dorn im Auge, dass das Zulassungsverfahren trotzdem derart gerafft vonstattenging. Selbst wenn es zu unerwünschten Auffälligkeiten kam, so kann man diese aufgrund der äußerst mageren Datenlage unmöglich auf die Wirkstoffe zurückführen. Es kann aber genau so wenig ausgeschlossen werden, ob nicht vielleicht doch der Impfstoff dahintersteckt.

Wider die Vernunft

Der Biologe Arvay geht aber noch einen Schritt weiter. Die niedrige Zahl an Probandinnen und Probanden, der generelle Ausschluss von Risikogruppen aus dem Testverfahren und die Zusammenlegung verschiedener Testphasen lassen keine seriösen Rückschlüsse auf die Wirksamkeit der Präparate zu, von der Wirkdauer ganz zu schweigen. Solange diese offenen Fragen durch ausgiebige und angemessene Forschung nicht zweifelsfrei geklärt sind, verbietet sich jede Debatte über eine Impfpflicht oder über Privilegien für bereits Geimpfte.

Wider die menschliche Vernunft erwägen nun aber immer mehr Politikerinnen und Politiker, über gewisse Vergünstigungen für Geimpfte zumindest zu diskutieren. Jüngst erwog auch Justizministerin Christine Lambrecht, Geimpften bei einer gewissen Wirksamkeit der Impfstoffe entsprechende Lockerungen in Aussicht zu stellen. Anscheinend soll so von den Bedenken gegenüber den Impfstoffen abgelenkt werden.

Ein politisches Armutszeugnis

Wie schwach muss das Vertrauen der Politik in die Vernunft der Menschen sein, wenn sie es nötig hat, solch schwere Geschütze aufzufahren? Sollte sich tatsächlich herausstellen, dass die Impfstoffe eine Wirksamkeit von um die 95 Prozent besitzen, dann wäre eine solch aggressive Werbekampagne überhaupt nicht notwendig. Die Menschen würden sich dann in großer Zahl nämlich aus eigenem Antrieb impfen lassen.

Privilegien für Geimpfte hängen den Menschen allerdings eine Karotte vor den Kopf. Eventuell führt das zwar auch zu einer hohen Impfquote, die Debatte um die Impfsicherheit ist damit aber lange nicht beigelegt. Was wäre denn, wenn sich in einigen Jahren doch in großer Zahl Spätfolgen durch die neue Impftechnik einstellten? Der Staat trüge die Verantwortung dafür. Schließlich hat er durch seine Impfprivilegien die Menschen in ihrer Entscheidung maßgeblich beeinflusst.

Sozialer Druck und gesellschaftliche Spaltung

Natürlich ist es bei Spätfolgen immer schwer, die Ursache zu ermitteln. Und wenn sich fast alle Menschen impfen lassen, wird sich ein Kausalzusammenhang auch nur schwer herstellen lassen. Trotzdem ist es eine an Vorsatz grenzende Fahrlässigkeit, wenn Menschen durch die Aussicht auf mehr Freiheiten geködert werden und an einer Impfung kein Weg vorbeiführt, um ein normales soziales Leben zu führen. Selbst wenn die Impfstoffe die Infektionsketten zu fast 100 Prozent unterbrechen würden, wäre eine solche Kampagne nicht vertretbar. Immerhin handelt es sich um neuartige Impfverfahren, die noch nicht ausreichend am Menschen erprobt sind.

Ich bin mir sicher: Versprochene Lockerungen für Geimpfte würden zu einer hohen Impfquote führen. Die meisten werden dem sozialen Druck nicht standhalten können. Wer sehnt sich schließlich nicht danach, endlich mal wieder in ein Restaurant zu gehen oder bei einer zünftigen Shoppingtour gepflegt ein Geschäft nach dem anderen abzuklappern? Die Impfentscheidung wäre aber eine unaufrichtige, weil sie größtenteils auf sozialen Druck zurückzuführen wäre. Viele würden sich widerwillig impfen lassen, einige aus Protest auf die Impfung verzichten. Durch solche Vorgehensweisen spaltet man die Gesellschaft eher, anstatt sie in so schweren Zeiten zu einen.

Testen, testen, testen

Wie zielführender wäre es stattdessen, die Öffnung von Geschäften, von Kneipen und Restaurants und von Einrichtungen des Kulturbetriebs an eine Testpflicht zu koppeln? Nur wer einen negativen Corona-Test vorweisen kann, darf am öffentlichen Leben teilnehmen. Einen solchen Test über sich ergehen zu lassen, ist immerhin jedem zumutbar.

Natürlich haben auch solche Tests eine Fehlerquote, die nicht von der Hand zu weisen ist. Es ließen sich dadurch aber einige Infizierte gezielt isolieren. Nach allem, was wir wissen, lässt sich derzeit nämlich nicht belegen, dass die Impfungen vor einer Ansteckung mit dem Virus schützen. Es ist daher das Gebot der Stunde, das Infektionsgeschehen ohne ein solches Wundermittel unter Kontrolle zu bringen.

Wir brauchen Daten

Auch mit einer Testpflicht wird es zu weiteren Infektionen kommen. Deswegen kann das nicht das Ende der Fahnenstange sein. Mindestens genau so wichtig ist ein massiver Stellenausbau im Gesundheitswesen, sowohl in der medizinischen Versorgung als auch in den Gesundheitsämtern. Gerade durch eine hoffnungslose Unterbesetzung in den Behörden können die Infektionsketten mittlerweile nicht mehr nachverfolgt werden. In der Folge stecken sich auch mehr Menschen an. Kaputtgesparte Krankenhäuser kommen an ihr Limit.

Bis heute ist unklar, wo die meisten Infektionen entstehen. Die meisten Wissenschaftler sind sich zwar einig, dass die meisten Menschen sich drinnen anstecken. Drinnen kann aber in der Schule sein, auf der Arbeit, in Bus und Bahn, im Wohnzimmer oder in einer Höhle. Genau wie bei den Testverfahren zu den Impfstoffen reicht die Datenlage hier nicht aus, um irgendwelche verlässliche Aussagen zu treffen. Es scheint, als wäre die katastrophale Datenlage ein omnipräsentes Problem in der Krise.


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