Die autoimmune Gesellschaft

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Die zweite deutsche Republik ist eine Geschichte der großen Erfolge. Nach vielen Jahren Nazi-Terror, einem zerstörerischen Krieg und einer Schuld für Generationen war es nicht selbstverständlich, dass auf deutschem Boden je wieder eine Demokratie blühen würde. Dann kam der wirtschaftliche Aufschwung und die Demokratie in Deutschland erlebte viele stabile Jahre. Die Erfolgsgeschichte gipfelte schließlich in der Wiedererlangung der deutschen Einheit. Nach Jahrzehnten der funktionierenden Demokratie haben sich viele allerdings an ein gutes Leben gewöhnt. Manche Dinge werden nicht mehr hinterfragt und auch die Grenzen des demokratisch Zumutbaren werden immer häufiger übertreten. So wird die Demokratie von innen ausgehöhlt und existiert plötzlich nur noch formell.

Eine wehrhafte Demokratie

In den letzten Jahren war oft davon die Rede, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland in Gefahr wäre. Manche gingen sogar einen Schritt weiter und behaupteten, die Demokratie sei längst von einer Merkel-Diktatur abgelöst worden. Mit schrillen Stimmen und kompromittierenden Plakaten versuchten diese Menschen, ihre Botschaften auf Demonstrationen an den Mann zu bringen. Auf der anderen Seite war man fast genau so felsenfest davon überzeugt, dass diese Menschen eine Gefahr für unsere pluralistische Ordnung wären. Man beschwor, dass unsere Demokratie wehrhaft genug sei, um solchen Menschen die Stirn zu bieten.

Das Bild der funktionierenden und wehrhaften Demokratie darf seitdem in keiner Debatte mehr fehlen. Selbst wenn es nicht um die vermeintliche Einschränkung demokratischer Grundrechte geht – ein Spezialist findet sich immer, der mit der Demokratiekeule um die Ecke kommt. Es lasse sich nur mit einer ausgesprochen dynamischen Demokratie erklären, warum inzwischen nicht nur zwei Kandidaten, sondern stolze drei um den Einzug ins Kanzleramt streiten.

Wenn zwei sich streiten…

Schaut man aber genauer hin, so wird schnell deutlich, dass viele der Befragten keinem der drei Kandidierenden das Amt des Regierungschefs zutraut. Olaf Scholz stellt seine beiden Mitbewerber zwar in den Schatten, geeignet scheint er für viele aber trotzdem nicht.

Scholz‘ großer Trumpf ist seine lange politische Erfahrung und sein staatsmännisches Auftreten. Auch wenn er manchmal aus der Wäsche schaut wie ein zufriedener Meister Propper, ein Fauxpas wie Armin Laschet nach der Flutkatastrophe wäre ihm nie passiert.

Sein Vorsprung gegenüber Baerbock und Laschet wurde in den vergangen Tagen immer größer. Trotzdem bleibt auch Olaf Scholz für breite Wählerschichten als Kanzler unattraktiv. Selbst seine Befürworter nennen ihn häufig nur deswegen, weil seine Konkurrenz so desaströs ungeeignet ist. Eine gute Referenz für’s Kanzleramt ist das mit Sicherheit nicht.

Die halbe Wahrheit

Olaf Scholz wäre nichts weiter als ein Notkanzler. Ähnlich wie Angela Merkel profitiert er fast ausschließlich von der Schwäche seiner Herausforderer. Einen echten Neuanfang würde es mit ihm nicht geben. Das wissen auch die Menschen im Land. Immerhin blieb eine Wechselstimmung wie zur Bundestagswahl 2017 mit Kanzlerkandidat Martin Schulz bislang aus.

Das ist auch überhaupt kein Wunder, bedenkt man, dass die wirklich Enttäuschten selten an derartigen Befragungen teilnehmen. Besonders die SPD hat viele Wähler an die AfD, aber auch ins Nichtwählerlager verloren. Es ist fraglich, ob die Menschen aus diesem Lager nun in großer Zahl für Scholz votieren. Es ist viel wahrscheinlicher, dass diese Leute alle drei Kanzlerkandidaten ablehnen oder überhaupt keine Antwort geben. Das verfälscht das Stimmungsbild, welches uns die Medien seit Monaten weismachen wollen.

Vom Hörsaal an die Basis

Die Entfremdung und Nicht-Teilnahme an Politik sieht man aber auch an weniger entscheidenden Fragen. Die Debatte um gendergerechte Sprache ist und bleibt ein Thema für Menschen, die sich solche Sorgen leisten können. Es ist bezeichnend, dass diese Debatte fast ausschließlich aus den Hörsälen und Universitäten kommt. An solchen Orten treiben sich für gewöhnlich Menschen herum, deren Zukunftsaussichten äußerst vielversprechend sind. Selten beteiligen sich Menschen an der Genderdebatte, die bereits am 15. eines Monats finanzielle Abstriche machen müssen oder die mit zwei Jobs und Familie heillos überfordert sind.

Rassismus, Frauenfeindlichkeit und eine fehlende Sensibilität für Minderheiten spielen für diese Menschen selten eine Rolle. In ihren Jobs sind nationale und kulturelle Vielfältigkeit längst realisiert. Wenn ihnen Menschen mit völlig anderen Lebensrealitäten nun vorschreiben wollen, wie sie zu leben oder sogar zu sprechen haben, dann empfindet das der Paketbote, die Krankenpflegerin oder der Lieferando-Mann völlig zurecht als Affront.

Charakteristisch für diese Debatte ist, dass sie ihre Kritiker in aller Regel rigoros ausschließt. Wer mit Gendersternchen und woker Sprache fremdelt, der ist im besten Fall zu dumm, um das wahre Anliegen zu erkennen oder im schlimmsten Fall selbst ein rassistischer Aggressor. Dadurch stößt die Debatte all diejenigen vor den Kopf, die sie kritisieren. Die Zahl der Menschen, die dagegen sind, wird immer kleiner, weil sie an der Debatte überhaupt nicht mehr teilnehmen dürfen. Das Verhältnis der Befürworter hingegen wird bis über alle Maße verzerrt. So entsteht der Eindruck, dass eine überwältigende Mehrheit jedes dritte Wort mit einem Sternchen versehen will. Mit der Realität hat das dann wenig zu tun.

Gute Miene zum bösen Spiel

Dabei ist die Debatte um inklusive Sprache keine schlechte. Es ist gut, wenn man sich darüber Gedanken macht, wie man mit seinen Worten möglichst viele Menschen mitnehmen kann. Die wenigsten haben damit ein Problem. Viel zu einfach befindet man sich dann im Reich des Unmoralischen und des Verwerflichen, wenn man an dieser guten Grundintention rüttelt. Die Menschen stehen einfach nicht auf Bevormundung. Ihre Kritik daran münzen die Befürworter geschickt an eine Kritik am großen Ganzen um und stellen die Aufbegehrenden auf diese Weise leicht in die rechte Ecke.

In der Konsequenz befinden sich viele Kritiker gendergerechter Sprache in einer Position, in der man sie leicht zum Schweigen bringen kann. Ihre Stimmen werden nicht mehr gehört, vernehmbar sind fast ausschließlich die schrillen Töne der Befürworter. Mit einer solchen Dynamik verhilft man Debatten wie der inklusiven Sprache zur Unsterblichkeit, obwohl ein beträchtlicher Teil der Menschen sie ablehnt.

Auch eine angeblich gut funktionierende Demokratie kann mit einem solchen Mechanismus lange auf dem Papier existieren. Entschieden wird über Fragen, die mit der Wirklichkeit von vielen wenig zu tun haben. Eine Ablehnung verbietet sich aus moralischen Gründen. Lieber lässt man das Trauerspiel über sich ergehen, ohne Widerstand zu leisten. Diese resignierende Haltung ist Gift für die Demokratie.

Auf der richtigen Seite

In einer solchen Gesellschaft hat sich irgendwann eine kleine Gruppe zu moralisch Überlegenen aufgeschwungen. Sie haben es besonders leicht, weil man sie nicht kritisieren kann, ohne selbst als unmoralisch zu gelten. Diese neue Art der Selbstprofilierung machte alsbald Schule. Heute wünscht sich jeder insgeheim, zu dieser exklusiven Runde der unantastbaren Moralapostel zu gehören.

Auf der anderen Seite stehen zwangsläufig die Menschen, die trotz allem Kritik üben und darum ausgeschlossen werden müssen. Auch diese Gruppe wuchs von einem überschaubaren Pulk von Pegisten und Flüchtlingsgegnern 2015 zu einer immer größeren heterogenen Masse heran. Mit der systematischen Diskriminierung von Ungeimpften erreichte diese Entwicklung ihren bisherigen Höhepunkt.

Freund oder Feind?

Bei keinem anderen Thema zeigt sich die moralische Auf- und Abwertung so deutlich wie bei der Frage nach dem Impfstatus. In nie dagewesener Aggressivität wird Stimmung gegen Menschen gemacht, die sich der Impfung gegen das Coronavirus verweigern. Viele Geimpfte stimmen mit der möglichen Einführung einer 2G-Regelung zwar auch nicht überein, da sie als Geimpfte aber von jedem Verdacht reingewaschen sind, möchten sie lieber keine ernstzunehmende Kritik an der Coronapolitik äußern. Zu leicht finden sie sich in einem Topf mit den Unmoralischen, in den sie sicher nicht gehören.

Und obwohl die Impfquote seit Frühsommer in die Höhe geschnellt ist, ist ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nicht geimpft. Von einer klassischen Minderheit lässt sich da nicht sprechen. Die Runde der Ausgeschlossenen wird immer größer und intransparenter. Die Gegenseite wird immer weniger greifbar, die Übergänge zwischen Gut und Böse sind inzwischen fließend. Das Gespenst der Französischen Revolution liegt in der Luft, als ein an und für sich gutes Anliegen völlig eskalierte und Jagd auf ehemals Verbündete gemacht wurde.


Die Demokratie ist in ernsthafter Gefahr. Anders als zu Weimarer Zeiten steht der Gegner aber nicht nur außerhalb des demokratischen Spektrums. Mit der AfD hat es zwar eine demokratiefeindliche Gruppierung in den Bundestag geschafft und versucht seitdem, unser System mit demokratischen Mitteln zu unterwandern, aber auch aus dem innersten Kern der Demokratie versuchen einige, die Demokratie auszuhöhlen. In ihrem schier unendlichen Drang nach grenzenloser Freiheit und Egalität reißen sie mit dem Hinterteil ein, was ihre Vorfahren mit den Händen aufgebaut haben. Ein Stück weit leidet unsere Demokratie an einer Autoimmunerkrankung, weil viele zwischenzeitlich blind sind für den Wert von Freiheiten, für die sie nie kämpfen mussten.

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Falsche Prioritäten

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Querdenker, Trump-Wähler und Wutbürger – seit Jahren verzweifeln gestandene Politikerinnen und Politiker an deren Aufmärschen, ihren Demonstrationen und ihrem Geschrei. Die einen kritisieren lauthals die Einschränkung der Meinungsfreiheit, die anderen kommen aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus. Deutlicher kann die gegenseitige Entfremdung kaum werden. Ein tiefer Graben trennt ein Lager vom anderen. Politik aus dem Elfenbeinturm hat solche Verhältnisse erst möglich gemacht.

And the winner is…

Joe Biden ist der 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Jubel bricht aus, nicht nur in den USA. Die deutschen Medien berichten von tausenden Menschen, die in den USA auf die Straße gehen. Die einen, um die Abwahl von Donald Trump zu feiern, die anderen, um gegen die Wahl Joe Bidens zu protestieren. Ein tief gespaltenes Land, könnte man meinen. Wie tief der Riss wirklich geht, wird aber oft verschwiegen. Denn die USA kommen auf eine Einwohnerzahl von über 300 Millionen Menschen. Etwa 250 Millionen davon sind wahlberechtigt. Nur einen Bruchteil davon sieht man auf den Straßen Amerikas. Viele andere haben längst resigniert. Sie haben begriffen, dass es für ihre Leben kaum einen Unterschied macht, ob der Präsident nun Joe Biden oder Donald Trump heißt.

Die Medien suggerieren allerdings allgemeine Freudenstimmung auf der ganzen Welt. Selbstgefällig feiert man wie vor vier Jahren den Sieg des eigenen Kandidaten. Knapp der Hälfte der wahlberechtigten Amerikaner wird zwischen den Zeilen gesagt: Es ist gut, dass ihr verloren habt. Friedensstiftend sind solche Gesten nicht. Und welchen Nutzen kann die Mehrheit der US-Amerikaner nun aus dieser Wahl ziehen? Die Probleme des Staatenbunds haben sich durch die Wahl Joe Bidens gerade angesichts der Coronakrise sicher nicht in Luft aufgelöst. Aber über genau diese Probleme spricht derzeit kaum jemand.

Schulgipfel oder Autogipfel?

Die Spaltung der Menschen in den USA ist also kein Wunder. Aber nicht nur im weit entfernten Amerika haben Populisten und Spalter großen Zulauf. Auch in mehreren europäischen Ländern ist die Demokratie in Gefahr, darunter Deutschland. Viele Menschen fühlen sich von der Politik weder angesprochen noch mitgenommen. Viel zu häufig haben sie das Gefühl, es wird an ihnen vorbeiregiert.

Es bleibt nicht nur beim Gefühl der Menschen. In vielen Fällen haben sie mit ihrer Einschätzung leider recht. Die Corona-Pandemie hat die Welt in den vergangenen Monaten vor große Probleme gestellt. Lange war man sich einig, dass sich ein Lockdown wie im Frühjahr nicht wiederholen dürfte. Als die ersten wirtschaftlichen Folgen absehbar waren, berief die Bundesregierung sogleich einen Autogipfel ein. Angeblich ging es darum, Arbeitsplätze zu sichern. Dass die Regierung dazu nicht in der Lage ist, haben wir bei Lufthansa gesehen. Das Kabinett spendierte dem Konzern mehrere Milliarden Euro, ohne daran den Erhalt eines einzigen Arbeitsplatzes zu knüpfen. Anstatt nun in wirtschaftshöriger Manier sogleich einen Autogipfel zu veranstalten, hätte die Regierung gut daran getan, mit ähnlichem Enthusiasmus einen Schulgipfel zu wuppen. Dort hätte man sich gleich überlegen können, wie in den Schulen auch in den Wintermonaten effektiv gelüftet werden kann und wie eine angemessene digitale Ausstattung aller Bildungseinrichtungen finanziert werden kann.

Anscheinend haben die Bereiche Schule, öffentlicher Dienst und Pflege für die Regierung allerdings nur untergeordnete Priorität. Da muss schon ein wohlfeiler Applaus einmal im Jahr ausreichen. Denn was juckt es die Kassiererin, wenn der Staat mit 3 Milliarden bei Lufthansa einsteigt, sie selbst mit ihren knapp 10 Euro Stundenlohn aber kaum über die Runden kommt? Was kümmert den kleinen Timmy ein Milliardengeschenk an Daimler & Co., wenn er neben dem geöffneten Fenster friert und sich den Tod holt? Geld wird hier dringend benötigt. Doch das füllt währenddessen die Kassen der Waffen- und Rüstungsschmieden, übrigens auch in treuer amerikanischer Gefolgschaft unter Trump und Biden. Staaten wie China und Russland geben übrigens gemeinsam nur etwa 40 Prozent der Ausgaben von USA und Deutschland in diesem Bereich aus.

Gendersternchen statt Pfandflaschen

Immer stärker wird das Gefühl, dass sich die Politik für die Bedürfnisse der ganz normalen Bürgerinnen und Bürger überhaupt nicht mehr interessiert. Sehr deutlich wurde das auch beim Abgasskandal um VW und viele andere. Für die Regierung war die logische Konsequenz aus dem Betrug, dass unverzüglich Fahrverbote zu verhängen seien. Schließlich kommt das auch dem Klima zugute. Das mag so sein. Aber was ist das denn für eine verquere Umkehrung von Schuld und Verantwortung? Als ob der betrogene Autofahrer absichtlich mehr klimaschädliche Gase emittiert hätte. Zum Sexappeal dieser klimapolitisch sinnvollen Entscheidung trägt dieses Vorgehen definitiv nicht bei.

Und selbst wenn die Parteien versuchen, gute Politik für das Volk zu machen, bleibt dabei oft ein bitterer Beigeschmack. Klar, allen kann man es sowieso nie rechtmachen. Aber viel zu oft signalisiert die Politik in diesem Land, dass sie die Lebensrealitäten der ganz normalen Leute weder anerkannt noch versteht. Die Einführung des Gendersternchens kratzt die Rentnerin, die regelmäßig Pfandflaschen sammeln muss, herzlich wenig. Natürlich ist auch eine gendergerechte Sprache ein wichtiges Thema. Die Überdosierung mancher Themen führt aber häufig dazu, dass sich die Menschen eher abwenden als sich damit auseinanderzusetzen.

Für euch soll’s heut‘ Konfetti regnen

Anderes Beispiel: Nachdem im Juni 2017 der Bundestag kurz vor knapp mehrheitlich für die Einführung der Ehe für Alle stimmte, da sprangen die Abgeordneten des rot-rot-grünen Lagers enthusiastisch auf. Die Fraktion der Grünen ließ sogar Konfetti regnen. Eine solche Sause hätte man sich von diesen Parteien auch erhofft, hätten sie ihre Mehrheit für einen gescheiten Mindestlohn, eine armutsfeste Rente und eine wirksame Eindämmung der Leiharbeit genutzt. Nichts von alledem wurde umgesetzt.

Stattdessen wunderte man sich eher, dass gerade diese drei Parteien bei der Bundestagswahl 2017 eher bescheiden abschnitten. Dabei war doch offensichtlich, dass die Einführung der Ehe für Alle reine Wahlkampftaktik war. Das erhoffte Lob und der nötige Erfolg blieben allerdings aus.

Denn das linksliberale Spektrum hat bis heute nicht begriffen, dass die Aufsummierung von Minderheitenthemen keine gute Politik für die Mehrheit bedeutet. Eine sprachliche Erweiterung, die alle mitnimmt, kommt einer verschwindend geringen Zahl an Menschen zugute. Das sagt nichts über die Qualität dieser Forderung aus. Aber über ihre Priorität. Eine diskriminierungsfreie Ausgestaltung von Sprache kann ein sinnvolles Teilthema vieler verschiedenen Themen sein. Es zum Überthema zu machen und es anderen wichtigen gesellschafts- und auch sozialpolitischen Themen voranzustellen, ist eher kontraproduktiv.

Wenn Minderheitsthemen derartig in den Vordergrund rücken und zugleich moralisch und emotional aufgeladen werden, dann wirken sie leicht bevormundend. Menschen könnten sich gegängelt fühlen, weil sie das Gefühl haben, nicht mehr alles sagen zu dürfen, während wichtige andere Themen ausgeblendet werden. Sie verlieren den Bezug zu der Politik, die vorgibt, für ihre Interessen einzutreten. Sie vertrauen sich anderen an, die sie in ihrem Glauben bestärken, ihre Meinungsfreiheit werde eingeschränkt.

Die Politik der Rücklichter

Und was machen ein Großteil der Politiker und leider auch weite Teile der Gesellschaft? Sie geißeln diese Menschen als Nazis. Sie verdrehen dabei gekonnt Ursache und Wirkung. Sie scheinen zu glauben, die AfD habe die Menschen erst zu Wutbürgern gemacht und den Frust in ihnen gesät. Andersrum wird allerdings ein Schuh daraus. Die Unzufriedenheit der Menschen hat erst dazu geführt, dass eine Partei wie die AfD überhaupt möglich war. Denn in einer Demokratie machen die Menschen die Parteien, und nicht andersrum.

Viel zu lange haben die regierenden Parteien auf die falschen Themen gesetzt. Sie haben die Bodenhaftung verloren – den Politikern rannte das Volk davon. Schon vor langer Zeit haben sie die Türen zugemacht und viele am Straßenrand stehenlassen. Sie haben sie einfach nicht mitgenommen. Die Politik hat sich einer Zukunftsideologie verschrieben, die tatsächlich erstrebenswert ist, aber ohne die Bürgerinnen und Bürger niemals erreicht werden kann. Man ist die Probleme von morgen angegangen, ohne zuvor die von gestern zu lösen. Die Welt dreht sich schneller, zu schnell für manche.

Die Menschen haben keine Lust auf die Globalisierung, wenn in ihren eigenen Ländern zuvor nicht aufgeräumt wurde. Sie fühlen sich unvorbereitet, abgehängt und im Stich gelassen. Viele sehnen sich nach einfachen Lösungen, weil die komplexen Fragen sie überfordern. Da kommt ihnen eine Partei nur recht, die verspricht, den „geordneten“ Nationalstaat wiederherzustellen. Das ist in Deutschland so und das ist in den USA so. Der Sieg von Joe Biden oder von Angela Merkel bei welcher Wahl auch immer ändert daran nichts. Sie sind eher Teil des Problems.


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