Die autoimmune Gesellschaft

Lesedauer: 9 Minuten

Die zweite deutsche Republik ist eine Geschichte der großen Erfolge. Nach vielen Jahren Nazi-Terror, einem zerstörerischen Krieg und einer Schuld für Generationen war es nicht selbstverständlich, dass auf deutschem Boden je wieder eine Demokratie blühen würde. Dann kam der wirtschaftliche Aufschwung und die Demokratie in Deutschland erlebte viele stabile Jahre. Die Erfolgsgeschichte gipfelte schließlich in der Wiedererlangung der deutschen Einheit. Nach Jahrzehnten der funktionierenden Demokratie haben sich viele allerdings an ein gutes Leben gewöhnt. Manche Dinge werden nicht mehr hinterfragt und auch die Grenzen des demokratisch Zumutbaren werden immer häufiger übertreten. So wird die Demokratie von innen ausgehöhlt und existiert plötzlich nur noch formell.

Eine wehrhafte Demokratie

In den letzten Jahren war oft davon die Rede, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland in Gefahr wäre. Manche gingen sogar einen Schritt weiter und behaupteten, die Demokratie sei längst von einer Merkel-Diktatur abgelöst worden. Mit schrillen Stimmen und kompromittierenden Plakaten versuchten diese Menschen, ihre Botschaften auf Demonstrationen an den Mann zu bringen. Auf der anderen Seite war man fast genau so felsenfest davon überzeugt, dass diese Menschen eine Gefahr für unsere pluralistische Ordnung wären. Man beschwor, dass unsere Demokratie wehrhaft genug sei, um solchen Menschen die Stirn zu bieten.

Das Bild der funktionierenden und wehrhaften Demokratie darf seitdem in keiner Debatte mehr fehlen. Selbst wenn es nicht um die vermeintliche Einschränkung demokratischer Grundrechte geht – ein Spezialist findet sich immer, der mit der Demokratiekeule um die Ecke kommt. Es lasse sich nur mit einer ausgesprochen dynamischen Demokratie erklären, warum inzwischen nicht nur zwei Kandidaten, sondern stolze drei um den Einzug ins Kanzleramt streiten.

Wenn zwei sich streiten…

Schaut man aber genauer hin, so wird schnell deutlich, dass viele der Befragten keinem der drei Kandidierenden das Amt des Regierungschefs zutraut. Olaf Scholz stellt seine beiden Mitbewerber zwar in den Schatten, geeignet scheint er für viele aber trotzdem nicht.

Scholz‘ großer Trumpf ist seine lange politische Erfahrung und sein staatsmännisches Auftreten. Auch wenn er manchmal aus der Wäsche schaut wie ein zufriedener Meister Propper, ein Fauxpas wie Armin Laschet nach der Flutkatastrophe wäre ihm nie passiert.

Sein Vorsprung gegenüber Baerbock und Laschet wurde in den vergangen Tagen immer größer. Trotzdem bleibt auch Olaf Scholz für breite Wählerschichten als Kanzler unattraktiv. Selbst seine Befürworter nennen ihn häufig nur deswegen, weil seine Konkurrenz so desaströs ungeeignet ist. Eine gute Referenz für’s Kanzleramt ist das mit Sicherheit nicht.

Die halbe Wahrheit

Olaf Scholz wäre nichts weiter als ein Notkanzler. Ähnlich wie Angela Merkel profitiert er fast ausschließlich von der Schwäche seiner Herausforderer. Einen echten Neuanfang würde es mit ihm nicht geben. Das wissen auch die Menschen im Land. Immerhin blieb eine Wechselstimmung wie zur Bundestagswahl 2017 mit Kanzlerkandidat Martin Schulz bislang aus.

Das ist auch überhaupt kein Wunder, bedenkt man, dass die wirklich Enttäuschten selten an derartigen Befragungen teilnehmen. Besonders die SPD hat viele Wähler an die AfD, aber auch ins Nichtwählerlager verloren. Es ist fraglich, ob die Menschen aus diesem Lager nun in großer Zahl für Scholz votieren. Es ist viel wahrscheinlicher, dass diese Leute alle drei Kanzlerkandidaten ablehnen oder überhaupt keine Antwort geben. Das verfälscht das Stimmungsbild, welches uns die Medien seit Monaten weismachen wollen.

Vom Hörsaal an die Basis

Die Entfremdung und Nicht-Teilnahme an Politik sieht man aber auch an weniger entscheidenden Fragen. Die Debatte um gendergerechte Sprache ist und bleibt ein Thema für Menschen, die sich solche Sorgen leisten können. Es ist bezeichnend, dass diese Debatte fast ausschließlich aus den Hörsälen und Universitäten kommt. An solchen Orten treiben sich für gewöhnlich Menschen herum, deren Zukunftsaussichten äußerst vielversprechend sind. Selten beteiligen sich Menschen an der Genderdebatte, die bereits am 15. eines Monats finanzielle Abstriche machen müssen oder die mit zwei Jobs und Familie heillos überfordert sind.

Rassismus, Frauenfeindlichkeit und eine fehlende Sensibilität für Minderheiten spielen für diese Menschen selten eine Rolle. In ihren Jobs sind nationale und kulturelle Vielfältigkeit längst realisiert. Wenn ihnen Menschen mit völlig anderen Lebensrealitäten nun vorschreiben wollen, wie sie zu leben oder sogar zu sprechen haben, dann empfindet das der Paketbote, die Krankenpflegerin oder der Lieferando-Mann völlig zurecht als Affront.

Charakteristisch für diese Debatte ist, dass sie ihre Kritiker in aller Regel rigoros ausschließt. Wer mit Gendersternchen und woker Sprache fremdelt, der ist im besten Fall zu dumm, um das wahre Anliegen zu erkennen oder im schlimmsten Fall selbst ein rassistischer Aggressor. Dadurch stößt die Debatte all diejenigen vor den Kopf, die sie kritisieren. Die Zahl der Menschen, die dagegen sind, wird immer kleiner, weil sie an der Debatte überhaupt nicht mehr teilnehmen dürfen. Das Verhältnis der Befürworter hingegen wird bis über alle Maße verzerrt. So entsteht der Eindruck, dass eine überwältigende Mehrheit jedes dritte Wort mit einem Sternchen versehen will. Mit der Realität hat das dann wenig zu tun.

Gute Miene zum bösen Spiel

Dabei ist die Debatte um inklusive Sprache keine schlechte. Es ist gut, wenn man sich darüber Gedanken macht, wie man mit seinen Worten möglichst viele Menschen mitnehmen kann. Die wenigsten haben damit ein Problem. Viel zu einfach befindet man sich dann im Reich des Unmoralischen und des Verwerflichen, wenn man an dieser guten Grundintention rüttelt. Die Menschen stehen einfach nicht auf Bevormundung. Ihre Kritik daran münzen die Befürworter geschickt an eine Kritik am großen Ganzen um und stellen die Aufbegehrenden auf diese Weise leicht in die rechte Ecke.

In der Konsequenz befinden sich viele Kritiker gendergerechter Sprache in einer Position, in der man sie leicht zum Schweigen bringen kann. Ihre Stimmen werden nicht mehr gehört, vernehmbar sind fast ausschließlich die schrillen Töne der Befürworter. Mit einer solchen Dynamik verhilft man Debatten wie der inklusiven Sprache zur Unsterblichkeit, obwohl ein beträchtlicher Teil der Menschen sie ablehnt.

Auch eine angeblich gut funktionierende Demokratie kann mit einem solchen Mechanismus lange auf dem Papier existieren. Entschieden wird über Fragen, die mit der Wirklichkeit von vielen wenig zu tun haben. Eine Ablehnung verbietet sich aus moralischen Gründen. Lieber lässt man das Trauerspiel über sich ergehen, ohne Widerstand zu leisten. Diese resignierende Haltung ist Gift für die Demokratie.

Auf der richtigen Seite

In einer solchen Gesellschaft hat sich irgendwann eine kleine Gruppe zu moralisch Überlegenen aufgeschwungen. Sie haben es besonders leicht, weil man sie nicht kritisieren kann, ohne selbst als unmoralisch zu gelten. Diese neue Art der Selbstprofilierung machte alsbald Schule. Heute wünscht sich jeder insgeheim, zu dieser exklusiven Runde der unantastbaren Moralapostel zu gehören.

Auf der anderen Seite stehen zwangsläufig die Menschen, die trotz allem Kritik üben und darum ausgeschlossen werden müssen. Auch diese Gruppe wuchs von einem überschaubaren Pulk von Pegisten und Flüchtlingsgegnern 2015 zu einer immer größeren heterogenen Masse heran. Mit der systematischen Diskriminierung von Ungeimpften erreichte diese Entwicklung ihren bisherigen Höhepunkt.

Freund oder Feind?

Bei keinem anderen Thema zeigt sich die moralische Auf- und Abwertung so deutlich wie bei der Frage nach dem Impfstatus. In nie dagewesener Aggressivität wird Stimmung gegen Menschen gemacht, die sich der Impfung gegen das Coronavirus verweigern. Viele Geimpfte stimmen mit der möglichen Einführung einer 2G-Regelung zwar auch nicht überein, da sie als Geimpfte aber von jedem Verdacht reingewaschen sind, möchten sie lieber keine ernstzunehmende Kritik an der Coronapolitik äußern. Zu leicht finden sie sich in einem Topf mit den Unmoralischen, in den sie sicher nicht gehören.

Und obwohl die Impfquote seit Frühsommer in die Höhe geschnellt ist, ist ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nicht geimpft. Von einer klassischen Minderheit lässt sich da nicht sprechen. Die Runde der Ausgeschlossenen wird immer größer und intransparenter. Die Gegenseite wird immer weniger greifbar, die Übergänge zwischen Gut und Böse sind inzwischen fließend. Das Gespenst der Französischen Revolution liegt in der Luft, als ein an und für sich gutes Anliegen völlig eskalierte und Jagd auf ehemals Verbündete gemacht wurde.


Die Demokratie ist in ernsthafter Gefahr. Anders als zu Weimarer Zeiten steht der Gegner aber nicht nur außerhalb des demokratischen Spektrums. Mit der AfD hat es zwar eine demokratiefeindliche Gruppierung in den Bundestag geschafft und versucht seitdem, unser System mit demokratischen Mitteln zu unterwandern, aber auch aus dem innersten Kern der Demokratie versuchen einige, die Demokratie auszuhöhlen. In ihrem schier unendlichen Drang nach grenzenloser Freiheit und Egalität reißen sie mit dem Hinterteil ein, was ihre Vorfahren mit den Händen aufgebaut haben. Ein Stück weit leidet unsere Demokratie an einer Autoimmunerkrankung, weil viele zwischenzeitlich blind sind für den Wert von Freiheiten, für die sie nie kämpfen mussten.

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Kanzlerkandidat aus Höflichkeit

Lesedauer: 7 Minuten

Die SPD bleibt sich treu: Auch in diesen Bundestagswahlkampf zieht sie frohen Mutes mit einem völlig unbrauchbaren Kanzlerkandidaten. Mit Olaf Scholz legt die ehemalige Volkspartei sogar noch eine Schippe oben drauf: Der treue Großkoalitionär und Hartz-IV – Verfechter soll möglichst überzeugend die Idee der sozialen Gerechtigkeit verkörpern. Mit ihm möchte die SPD wieder ins Kanzleramt ziehen, obwohl sich die Partei gefährlich der Einstelligkeit nähert. Doch auch seine aussichtsreicheren Kontrahenten vermögen es nicht, in der Bevölkerung die Hoffnung auf einen politischen Kurswechsel zu wecken. Dabei ist die Auswahl dieses Mal ungewöhnlich groß…

Der Dritte im Bunde

Die parlamentarische Sommerpause hat begonnen, der Wahlkampf nimmt allmählich an Fahrt auf. Nach anfänglichen Startschwierigkeiten findet sich Armin Laschet in seiner neuen Rolle als Kanzlerkandidat immer besser zurecht. Die Grünen nominierten mit Annalena Bearbock im April ebenfalls eine aussichtsreiche Kandidatin für den Posten der Regierungschefin. Die Umfragen zeigen, dass sich beide Kandidaten berechtigte Hoffnungen machen dürfen, die nächste Regierung anzuführen.

Die Arena des Kanzlerkampfs müssen sich die beiden allerdings mit einem dritten Akteur teilen. Auch die SPD meldet Führungsansprüche an und schickt Olaf Scholz ins Rennen. Drei Kanzlerkandidaten vor einer Bundestagswahl hat es in Deutschland zuvor nicht gegeben. Ungewöhnliche Zeiten erfordern ungewöhnliche Maßnahmen, könnte man nun meinen. Doch die Kandidatur von Olaf Scholz ist nichts weiter als ein schlechter Treppenwitz. Die SPD verweigert sich weiterhin der Realität und kommt nicht damit klar, dass sie selbst die zweite Geige im Staat längst abgegeben hat.

Klare Gewinner, klare Verlierer?

Schaut man sich die Umfragewerte zur Bundestagswahl an, so zeichnet sich ein klares Bild. Die Union ist mit Abstand die stärkste Kraft im Land. Deutlich abgeschlagen kommen die übrigen Parteien . Mit Ausnahme der Grünen schafft es keine von ihnen, auf über 20 Prozent zu kommen. Die Grünen sind die einzige Partei, die der Union gefährlich werden könnte. Ernsthafte Ambitionen, die nächste Regierung anzuführen, macht sich keine der übrigen Parteien – mit Ausnahme der SPD.

Nun haben sich die Umfragewerte besonders in letzter Zeit als wenig zuverlässig erwiesen. In Sachsen-Anhalt erlebte die AfD kürzlich ihr blaues Wunder. Trotzdem stimmte der grobe Trend in den Umfragen meistens. Das prognostizierte Kopf-an-Kopf – Rennen zwischen CDU und AfD blieb zwar aus, allerdings behielten die Befragungen recht damit, dass diese beiden Parteien die beiden stärksten werden würden. Der AfD erging es wie vielen Parteien zuvor: Gebauchpinselt von wohlwollenden Umfragen fiel das letztendliche Wahlergebnis enttäuschend mager aus. Auch der SPD könnte es nach der Wahl am 26. September so gehen.

Germany’s Next Vizekanzler

Nach dem Schulz-Hype 2017 rechnete niemand ernsthaft damit, dass die SPD so desaströs verlieren würde. Seitdem waren die Sozen stets darum bemüht zu beweisen, dass es immer noch ein bisschen schlechter ging. Bei manchen Landtagswahlen landeten sie zwischenzeitlich im einstelligen Bereich. Das heißt aber lange nicht, dass die SPD nicht auch ein überraschend gutes Ergebnis einfahren könnte. Momentan liegt sie bei den Zustimmungswerten bei etwa 16 Prozent. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber durchaus möglich, dass sie bei der Wahl im September 20 Prozent holt.

Jeder weiß aber, dass die SPD meilenweit davon entfernt ist, die nächste Bundesregierung anzuführen. Rechnerisch sind mehrere Regierungsbeteiligungen drin. Doch ob Ampel, Deutschland oder Grün-Rot-Rot – bei allen diesen Farbenspielen nimmt die SPD nur eine untergeordnete Rolle ein. Die Omnipräsenz von Olaf Scholz bei der K-Frage lässt sich eigentlich nur so erklären, dass er den Kandidaten von Union und Grünen aufzeigen möchte, auf welchen Vizekanzler sie sich unter Umständen einlassen.

Ein alter Bekannter

Olaf Scholz ist aber auch aus anderen Gründen als Kanzlerkandidat völlig ungeeignet. Als ewiger Verfechter von Hartz-IV, Sozialabbau und Niedriglohn ist er einer der Gründe, warum die SPD so viele Wählerinnen und Wähler verloren hat. Er fügt sich zwar dem neuerlichen Kanon der Partei, mit dem sie fleißig nach links blinkt, doch ernsthafte kritische Töne zum antisozialen Kurs der letzten Jahre schlägt er nicht an.

Wie sollte er das auch glaubwürdig rüberbringen? Immerhin war Olaf Scholz an mehreren Bundesregierungen unter Angela Merkel beteiligt – immer in einer Großen Koalition. Als Vizekanzler seit 2018 machte er sich wohl Hoffnungen Angela Merkel auf ihrem Posten bald beerben zu können, doch für die meisten Wählerinnen und Wähler ist er nichts weiter als ein Architekt der allseits verhassten Großen Koalition. Als Mitglied der noch amtierenden Regierung hat er es natürlich schwer, echte Impulse für Veränderung zu setzen. Martin Schulz war da vor vier Jahren in einer deutlich komfortableren Position. Andererseits haben es auch Größen wie Willy Brandt vermocht, den Koalitionspartner trotz Ministeramt in die Opposition zu verbannen.

Keine Lust auf Neuanfang

Die Voraussetzungen für einen Machtwechsel im Kanzleramt sind jedenfalls denkbar günstig. Spätestens seit Angela Merkels Ankündigung, bei der Bundestagswahl 2021 nicht erneut anzutreten, stand fest, dass die Karten neu gemischt werden. Im Laufe der Monate hatten sich dann auch die drei Kanzlerkandidaten herauskristallisiert, obwohl das besonders bei der Union eine schwere Geburt war. Trotz des zwangsläufigen Kanzlerwechsels kam eine echte Wechselstimmung bislang aber nicht auf.

Angela Merkel machte sich in ihrer Amtszeit als Kanzlerin stets eine Heidenfreude daraus, ihre Koalitionspartner kaputtzuregieren und letztendlich von der Schwäche der anderen zu profitieren. Aber selbst zu ihren besten Zeiten lag mehr Wechselstimmung in der Luft als jetzt. Als Martin Schulz vor vier Jahren als der große Heilsbringer der SPD vermarktet wurde, da dachten viele, Merkels Kanzlerschaft endete nach zwölf Jahren. Die Kanzlerkandidaten von 2021 wirken blass und kraftlos im Vergleich zu St. Martin von 2017.

Künstlich erzeugtes Angebot

Der Schulz-Hype war womöglich die letzte Chance für die SPD, etwas in diesem Land zu bewegen. Doch wieder einmal verpassten die Sozen den Zug. Kurzzeitig gab es dieses Jahr einen vergleichbaren Trubel um die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock. Doch schon bevor ein ganz besonders spitzfindiger österreichischer Plagiatsjäger die Kanzlerkandidatin des Abschreibens bezichtigte, hatte sich die Euphorie um die potentiell erste grüne Kanzlerin schon wieder gelegt.

Merkels freiwilliger Rückzug wäre eigentlich die Stunde der SPD. 2017 feixte die einstige Volkspartei noch, als sie gegen Merkels Willen die Ehe für Alle durchsetzte. Solch ambitioniertes Aufbegehren gegen den Koalitionspartner lässt die SPD dieses Jahr lieber bleiben. Man möchte sich vor den Wählerinnen und Wählern schließlich als seriöse Partei gerieren und sich nicht der Lächerlichkeit preisgeben. Vielleicht hat die Partei aber auch insgeheim eingesehen, dass ihr lautstarkes Gezeter gegen die Union im Wahlkampf wenig nützen wird.

Das Aufeinandertreffen der Kanzlerkandidaten am 20. Mai im öffentlich-rechtlichen Fernsehen war ein Schlagabtausch mit Wattebäuschen. Die Teilnehmer bemühten sich zwar um Konfrontation, doch war jedem klar, dass sie mit Baerbock und Laschet zwei Wunschkoalitionspartner vor sich hatten. Die Anwesenheit von Olaf Scholz ließ das Spektakel dann vollends zur Farce verkommen. Mit drei Anwärtern ums Kanzleramt sollte den Zuschauerinnen und Zuschauern eine echte Auswahl vorgegaukelt werden. Längst ist vielen aber klar, dass keine der drei Kandidaten einen echten Wechsel herbeiführen wird. Und so bleibt eine echte Wechselstimmung weiter aus.


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Posttraumatische Regierungsstörung

Mit Wumms in den Abgrund

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Mit Wumms in den Abgrund

Lesedauer: 10 Minuten

Die Spitze der SPD hat sich entschieden: Olaf Scholz geht ins Rennen um den Kanzlerposten. Der Zeitpunkt verwundert, der Kandidat eher weniger. Immerhin passt er so unglaublich gut zu den Enttäuschungen der vergangenen Wahlen. Wie ein viel zu anstrengender lernresistenter Grundschüler verweigert sich die SPD seit vielen Jahren der Wahrheit, dass sie mit Kandidaten wie Olaf Scholz keinen Blumentopf gewinnen kann. Denn Scholz ist doch mit ein Grund dafür, warum viele der SPD den Rücken kehren. Ein weiterer Abstieg scheint unaufhaltsam bevorzustehen.

Alte Gesichter, altes Spiel

Mit der Nominierung von Olaf Scholz zum Kanzlerkandidaten der SPD preschten die Sozialdemokraten mit ungewohnter Agilität voraus. Alle anderen Parteien wollen sich mehr Zeit lassen, ihre Spitzenkandidaten bekanntzugeben – oder sie überhaupt auszuwählen. Die SPD hat den Wahlkampf 2021 nun aber offiziell begonnen. Dabei schwelt ein latenter Wahlkampf bereits seit der letzten Bundestagswahl vor drei Jahren. Zur Ruhe sind die Parteien seither nicht gekommen. Da war der Einzug der AfD in den Bundestag, Verhandlungen über ein Jamaika-Bündnis, das Scheitern von Jamaika, die schwierige Bildung einer neuen großen Koalition, innerparteiliche Querelen und die Frage nach Merkels Nachfolge. Die SPD ist allerdings die erste Partei, die in Bezug auf den Wahlkampf konkret wurde.

Spannung bringen die Sozen allerdings wie zu erwarten nicht in die politische Arena. Erneut präsentieren sie einen Spitzenkandidaten, der so Establishment-konform ist wie man es sich nicht ausdenken kann. Olaf Scholz war in den vergangenen Jahren an mehreren Bundesregierungen beteiligt. In Merkels erster Groko gab er zeitweise den Arbeitsminister. Seit 2018 ist er Bundesfinanzminister, wiederum in einer großen Koalition. Durch kritische Äußerungen ist er sicherlich nie aufgefallen. Er hielt sich oft bedeckt und haute selten auf den Tisch. Sein vielgepriesener „Wumms“ ist nichts weiter als ein Lippenbekenntnis, mit dem er versucht, gute Miene zum bösen Spiel zu machen.

Er ist der unscheinbare zweite, der Angela Merkel den Rücken freihält und hinter ihr aufräumt. Offen gestanden ist er eine noch größere Schlaftablette als die Kanzlerin selbst. Dem TV-Duell der Kanzlerkandidaten im nächsten Sommer kann man daher nur mit Bauchweh entgegensehen. Vielleicht bringt ja der ein oder andere Werbeeinspieler wenigstens ein bisschen Spannung in dieses zu erwartende Trauerspiel.

Spannungsgarantin Merkel

Scholz als Kanzlerkandidat ist ein Paradox. Einerseits verwundert es wirklich niemanden mehr, dass die SPD so aussichtslose Kandidaten ins Rennen schickt, andererseits ist man bei Olaf Scholz doch ein wenig überrascht über diese Freude an politischer Selbstzerstümmelung. Der Meister Propper der SPD kann mit Fug und Recht als der neueste Tiefpunkt in der Geschichte der deutschen Sozialdemokratie bezeichnet werden.

Eigentlich ist es nach Steinmeier, Steinbrück und Schulz eine echte Leistung, einen noch ungeeigneteren Politiker für die Kanzlerkandidatur zu nominieren. Vielleicht sollte mal jemand der einstigen Volkspartei bescheidgeben, dass Mutti demnächst weg ist. Ihr braucht also nicht mehr solche Trauerfiguren den Karren ziehen lassen. Aber wie es aussieht, würde selbst Merkel noch Spannung in den kommenden Wahlkampf bringen.

Flirt mit Links

Mit ihrem neuen Spitzenkandidaten zeigt sich die SPD indessen selbstbewusst. Die Sozen glauben an eine echte Neuausrichtung der Partei. Sie sind fest davon überzeugt, dass sie mit Olaf Scholz an einer zukünftigen Regierung zumindest beteiligt sein könnten. Mit Signalen knausern die Sozialdemokraten definitiv nicht. Jüngst zeigte sich Parteichefin Esken für ein Bündnis mit den Linken offen. Dieses Linksblinken vor Wahlen ist zwischenzeitlich ein altbekanntes Manöver der SPD. Nach den Wahlen flüchtet sich die Partei dann in die nächstbeste Koalition, wo alle Forderungen nach Gerechtigkeit ruckzuck über Bord geworfen werden. Linksblinken und dann trotzdem geradeaus weiterfahren stellt im Verkehrsrecht mindestens eine Ordnungswidrigkeit dar. Auch auf der politischen Bühne verzeihen die Wähler ein solches Verhalten nicht so schnell. Trotzdem hält die SPD seit Jahren an dieser Taktik fest. Neu ist allerdings der Zeitpunkt, zu dem mit dem roten Kuscheln begonnen wird.

Die ehemalige Arbeiterpartei ist sich inzwischen aber wohl für nichts mehr zu schade. Immer weniger verhehlt sie, dass sie das, was sie verspricht, sowieso nicht halten kann. Denn wie soll eine echte linke Trendwende mit einem Kandidaten wie Olaf Scholz überhaupt möglich sein? Erstens ist der ehemalige Erste Bürgermeister von Hamburg Anhänger des sogenannten Seeheimer Kreises, einer konservativen Gruppierung innerhalb der SPD. Na schön, gute Politik für die SPD kann er trotzdem machen. Aber zweitens ist er einer der Gründungsväter der Agenda 2010. Und die Hart-IV – Reformen sind wohl das unlinkeste, was eine Bundesregierung jemals zustandegebracht hat.

Vielen Dank für nichts!

Die Versuche der SPD ihren fehlenden politischen Gestaltungswillen zu überdecken, werden von Mal zu Mal liebloser. Als ob die Wahl von Saskia Esken und Nowabo zu den beiden Parteichefs nicht bereits ausreichend gezeigt hat, dass von dieser Partei keine großen Sprünge mehr zu erwarten sind, legt die SPD nun mit Olaf Scholz gekonnt nach. Der Fast-Parteivorsitzende und Jetzt-Kanzlerkandidat hat doch nun wirklich keine Gelegenheit ausgelassen, um die herrschenden politischen Verhältnisse schönzureden und zu verteidigen. Man darf gespannt sein, wie die viel angepriesene Distanzierung von Hartz-IV mit solch einem Personal umgesetzt werden soll.

Dabei gibt es durchaus linke Kräfte in der SPD. Aber selbst die haben inzwischen eingesehen, dass es keinen Wert hat, sich dem Kurs der Partei allzu vehement entgegenzustellen. Wenn die Gelegenheit es zulässt, wird für mehr soziale Gerechtigkeit geworben, aber dann sofort wieder zurückgerudert. Mehrfach haben Abgeordnete der SPD im Bundestag zwar einen weitaus linkeren Kurs beschworen, fügten dann aber beinahe selbstgefällig hinzu, dass diese Vorhaben mit der Union als Koalitionspartner nicht umsetzbar sind. Ein Schrei nach Hilfe.

Und wer könnte das Aufbäumen der SPD kurz vor den Wahlen im Jahr 2017 vergessen? Noch völlig benebelt vom Schulz-Hype stellte sie sich gemeinsam mit Linken und Grünen gegen die Union und setzte mal eben die Ehe für Alle durch. In seiner viel zu schlecht gespielten GroKo-Endstimmung schnauzte der SPD-Abgeordnete Johannes Kahrs die Bundeskanzlerin an: „Vielen Dank für nichts!“ Mehr als Wahlkampfgetöse war das nicht.

Die SPD lebt

Wähler hat die SPD dadurch trotzdem nicht dazugewonnen. Auch heute stellt sich die Frage, wen Olaf Scholz eigentlich zu einer Wahl seiner Partei bewegen möchte. Hat er ernsthaft vor, abgewanderte Wähler zurückzugewinnen? Wer soll das sein? Hartz-IV – Empfänger vielleicht? Oder Leiharbeiter, die für Subsubsubunternehmen zu mickrigsten Löhnen schuften? Vielleicht aber doch das viel beklatschte Gesundheitspersonal. Fakt ist, dass all diese, und viele weitere mehr, ganz sicher kein Kreuz bei der SPD machen werden, solange die Partei ein fundiertes und vor allem glaubwürdiges Konzept schuldig bleibt.

Denn seit Jahren verharrt die SPD im Umfragetief. Nun legt die Partei zu, liegt nach aktuellen Umfragen sogar vor den Grünen. Donnerwetter! Aber leider sind 18 Prozent für eine selbsternannte Volkspartei weiterhin blamabel und außerdem sind Verschiebungen bei den Beliebtheitswerten überhaupt nichts außergewöhnliches, wenn ein neuer Spitzenkandidat nominiert wird. Die leichten Zugewinne zeigen aber auch: Die SPD lebt. Und das ist gut so. Wie die SPD lebt, ist allerdings nicht gut.

Durch ihre leeren Versprechungen, ihre Mutlosigkeit und ihr Gekuschele mit der Großen Koalition schmiert die Partei doch immer weiter ab. Selbst von der Coronakrise konnte sie nicht profitieren. Die Union hingegen verstand es meisterlich, sich in dieser schweren Zeit zu profilieren und auch die AfD findet nach kurzer Flaute allmählich zu alter Stärke zurück. Dabei ist doch gerade die SPD in dieser Krise besonders gefragt. Sie könnte sich für die Geringverdiener, die prekär Beschäftigten, die Alleinerziehenden, die Rentnerinnen und Rentner und die Solo-Selbstständigen einsetzen. Doch mit viel zu viel Wumms werden gerade diese Gruppen in den Hilfspaketen an vielen Stellen übergangen.

Der Eiskönig

Trotz ihrer miesen Umfragewerte ist die SPD aber immer wieder im Gespräch. Einerseits natürlich, weil sie an der derzeitigen Regierung beteiligt ist, andererseits, weil sie durch viel zu langgezogene Personaldebatten immer wieder von sich reden macht. Anfangs haben bestimmt viele gehofft, dass die Wahl des Parteivorsitzes 2019 neuen Schwung in die Partei bringt. Spätestens aber als der „Showdown“ zwischen Scholz und Dings auf der einen Seite und Esken und Nowabo auf der anderen Seite lief, war die Sache gelaufen. Diese ewigen Personalquerelen versperren den Blick auf das Wesentliche. Und so leid es mir für die Delegierten der SPD auch tut: Das Rennen um den Parteivorsitz war für die überwältigende Mehrheit der Bürger sicher kein abendfüllendes und adrenalingeladenes Programm.

Den Kick holen sich die Wähler woanders. Bei der AfD zum Beispiel. Seit Jahren verlieren gerade die Sozialdemokraten immer mehr Wähler an die Partei rechtsaußen. Reinholen kann sie diesen Verlust sicher nicht. Schließlich verliert die SPD die meisten ihrer Wähler ans Nichtwählerlager. Die meisten von der SPD enttäuschten reagieren also mit Resignation. Und das ist schwer wieder wettzumachen. Währenddessen wählen eher konservative SPD-Wähler inzwischen die Union, weil es sowieso keinen Unterschied macht. Die Empörten gehen zur Linken, zufriedene Schwule zu den Grünen und die ganz Harten eben zur AfD. Für all diese abtrünnigen hat Olaf Scholz kein Rezept.

Scholz könnte nur dann siegen, wenn alle anderen Parteien in ihrem jetzigen Zustand einfrören. Denn momentan hat die SPD durch ihren frischnominierten Kanzlerkandidaten einen Vorteil. Vielleicht hat sie deswegen bei der Nominierung von Scholz so auf die Tube gedrückt. Hätte sie ihren Spitzenkandidaten später ernannt, wären ihr womöglich andere Parteien zuvorgekommen. Wahrscheinlich hätte die SPD dann kein Schübchen in den Umfragen bekommen. Zur jetzigen Stunde ist Scholz wahrlich das kleinere Übel zu den herrschenden Verhältnissen. Aber sobald auch die anderen Parteien in Bewegung kommen, wird er das sicher nicht lange bleiben…

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