Parlamentarismus als Selbstzweck

Lesedauer: 9 Minuten

Mit polemischen Plakaten und empörten Mienen ziehen Gegner der Coronamaßnahmen skandierend durch die Straßen. Der routinierte Protest geht zurück bis auf die Pegida-Demos, die vor einem dreiviertel Jahrzehnt viele Menschen auf die Straßen trieben. Mit Gesetzen für eine lebendige und wehrhafte Demokratie versuchen die Abgeordneten im Bundestag, die chronisch Enttäuschten wieder ins Boot zu holen. Zu oft setzen sie dabei aber die falschen Akzente und beschäftigen sich lieber mit sich selbst als mit den Problemen der Mehrheit. Das ganze führt zu einer um sich greifenden politischen Resignation, über die viel zu wenig gesprochen wird.

Reden und Handeln

Mit dem Wehrhafte-Demokratie – Gesetz wollte die Große Koalition in der zurückliegenden Wahlperiode der politischen Beteiligung im Land neues Leben einhauchen. Außerdem sollten Staat, Amtsträger und Öffentlichkeit besser vor Terrorismus und anderen demokratiefeindlichen Bestrebungen geschützt sein. Die Regierung sprach oft und gerne über dieses Vorhaben. Am Ende der Legislatur folgte dann aber die große Enttäuschung: Das Gesetz platze; die Regierung legte keinen entsprechenden Entwurf vor. Man schob sich gegenseitig die Schuld am Scheitern der Initiative zu. Die angebliche Herzensangelegenheit der Großen Koalition war Geschichte.

Trotzdem zog sich die Verteidigung der Demokratie wie ein roter Faden durch viele Gesetzesvorlagen und Bundestagsdebatten der vergangenen vier Jahre. In keiner anderen Wahlperiode stritten die Abgeordneten so häufig über den Schutz der demokratischen Ordnung wie in der zurückliegenden. Sie hatten allen Grund dazu: Terroristische Anschläge kosteten vielen Menschen das Leben. Die Angriffe wurden meist von Rechtsradikalen begangen. Die Lage bei Demonstrationen lief regelmäßig aus dem Ruder. Mit den sogenannten Coronademos erreichte die Gewalt auf den Straßen allerdings eine neue Eskalationsstufe. Währenddessen lud die Wahlbeteiligung bei Bundestags-, Landtags- und Kommunalwahlen weiterhin nicht zu Freudenstürmen ein.

Besonders die niedrige Wahlbeteiligung ist ein verlässlicher Indikator dafür, dass sich viele Menschen von der Politik nicht mehr vertreten fühlen. Es ist daher sinnvoll, über die Stärkung demokratischer Teilhabe zu diskutieren. Zwischen Reden und Handeln liegen manchmal jedoch Welten. Es ist daher nur zu verständlich, dass sich an der grundsätzlichen Frustration nichts ändert, wenn die Damen und Herren im Bundestag lieber über die Sitzordnung im Plenarsaal diskutieren und das dann medienwirksam als besonders demokratieförderlich verkauft wird.

Groteskes Schauspiel

Allen Beschwörungen der Abgeordneten zum Trotz machen solche Debatten die Demokratie eben nicht krisensicherer und attraktiver. Es scheint eher so, als wäre die politische Realität der Abgeordneten und die der Wählerinnen und Wähler nicht mehr deckungsgleich. Die einen feiern den derzeitigen Parlamentsbetrieb als großen Gewinn für die Demokratie. Die anderen gehen verzweifelt auf die Straße und müssen sich dafür als Querdenker und Schwurbler beschimpfen lassen.

Jüngstes Beispiel für diese Divergenz zwischen Parlamentarismus und erlebter Demokratie ist die Kanzlerwahl von Olaf Scholz. Zweifellos ist die SPD am 26. September stärkste politische Kraft des Landes geworden. Anders als viele seiner Amtsvorgänger hat es Scholz aber nicht mit um die 40 Prozent ins Kanzleramt geschafft. Seine Wahl auf den Kanzlerstuhl war bestimmt ein großer Erfolg für seine Partei, die vor einigen Monaten noch völlig zerstört am Boden lag. Die Jubelstürme im Bundestag, die auf seine Wahl folgten, säen jedoch Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit einiger Abgeordneter. Erstens war seine Wahl keine Überraschung und zweitens sieht Demut vor dem Wählerwillen angesichts des mickrigen Wahlergebnisses beider ehemaliger Volksparteien sicher anders aus.

Politik exklusiv

Der langanhaltende Applaus für den neuen Bundeskanzler mitsamt den Jubelrufen hatte eher was von einer Selbstbeweihräucherung des Parlaments und erinnerte wenig an eine für die Bundesrepublik weitreichende Entscheidung. In Zügen erinnerte dieses Verhalten an die Debatte um die Ehe für Alle im Juni 2017. Das von SPD, Linken und Grüne eingebrachte Gesetz wurde mehrheitlich angenommen und sendete ein wichtiges Signal an die Gesellschaft. Auch diese begrüßenswerte Entscheidung führten einige Abgeordnete durch Konfettiregen völlig ad absurdum. Sie zeigten dadurch, dass es ihnen nicht um die Sache ging, sondern vorrangig darum, sich als Fraktion zu behaupten.

Der einst starke Draht zum Volk wird durch solche Schauspiele immer dünner und erinnert inzwischen eher an einen seidenen Faden. Für manche Menschen ist er bereits gerissen. Sie haben sich womöglich für immer abgewendet und wählen extrem oder gar nicht. Sie haben kein Verständnis mehr für den Politikbetrieb, weil zu viele Entscheidungen gegen sie getroffen wurden oder weil sie von wichtigen Beschlüssen ganz ausgeschlossen sind. Denn nicht nur die Gesetzesvorlagen entstehen hinter verschlossenen Türen, wo besonders finanzstarke Lobbys sinnvolle Maßnahmen verwässern und nach Belieben abmildern können. Auch die Vergabe wichtiger Posten können viele Menschen nicht mehr nachvollziehen.

Sie sehen stattdessen, dass immer häufiger solche Personen in hohe Ämter gehoben werden, wenn sie besonders viel Dreck am Stecken haben. Die Wahl Ursula von der Leyens (CDU) zur EU-Kommissionspräsidenten ist ein bis heute nicht gelöstes Mysterium. Zu keinem Zeitpunkt im Wahlkampf stand ihr Name zur Debatte. Dann kam die Berateraffäre und -schwupps- war sie durch die Versetzung nach Brüssel aus dem Schussfeuer.

Who the fuck?

Das ganze ist inzwischen über zwei Jahre her. Andere fragwürdige Personalentscheidungen sind deutlich jünger. Mit Franziska Giffey (SPD) und Annalena Baerbock (Grüne) schafften es zwei Damen, bei denen sich die Plagiatsvorwürfe in kurzer Zeit verhärtet hatten, auf einflussreiche Posten in der Republik. Offenbar sah das selbst Olaf Scholz kritisch und machte seine einstige Kontrahentin Baerbock lieber nicht zur Vizekanzlerin. Währenddessen stehen auch gegen unseren neuen Kanzler schwerwiegende Vorwürfe in Zusammenhang mit den Cum-Ex- und den Wirecard-Skandalen im Raum.

Und auch wenn manche Amtsträger nicht so viel auf dem Kerbholz haben wie Scholz, Baerbock & Co., irritiert ihre plötzliche Bedeutung im Land. Kevin Kühnert machte in den letzten Jahren öfter als rebellischer Juso-Chef von sich reden. Nun hat er den Sprung in den Bundestag geschafft. Dort musste er sich aber gar nicht großartig etablieren: Sogleich trat er die Nachfolge von Lars Klingbeil als Generalsekretär seiner Partei an. Auch die Grünen entschieden sich dafür, der erfahrenen neuen Fraktionsvorsitzenden Britta Haßelmann mit Katharina Dröge eine unbekannte Hinterbänklerin zur Seite zu stellen.

Tiefe Gräben und hohe Mauern

Viele dieser Posten wurden in korrekten demokratischen Verfahren vergeben. Die Grünen haben sich bewusst für eine Doppelspitze entschieden. Die Mehrheit der SPD wollte Kevin Kühnert als Generalsekretär. Auch Olaf Scholz war den meisten Wählerinnen und Wählern im Vergleich zu Annalena Baerbock und Armin Laschet am liebsten. Er ist aber trotzdem nicht der Kanzler der Herzen. Seine Beliebtheitswerte sind viel eher ein Zeichen von gefühlter Alternativlosigkeit und Resignation.

Immer mehr Menschen verlieren die Lust daran, politisch zu diskutieren und sich einzubringen. Sie spüren, dass sie mit ihrer Meinung oft auf Mauern des Unverständnisses prallen. Die Abgeordneten liefern sich hingegen kontroverse Rededuelle, die zunächst nicht den Eindruck erwecken, das Land sei politisch gelähmt. Die eindruckvollsten Debatten werden jedoch zu Themen geführt, die mitunter nur Minderheiten betreffen oder am Interesse vieler Menschen vorbeigehen. Als besonders progressiv verkauft die Regierung neuerdings die Einigungen im Bezug auf die Legalisierung von Cannabis, die Absenkung des Wahlalters oder eine bessere geschlechtergerechte Inklusion.

All diese Themen sind herzensgut gemeint, verhindern aber nicht, dass Kinder im Land arm sind oder Rentnerinnen und Rentner in Heerscharen auf Pfandflaschenjagd gehen müssen. Auch die neue Regierung hat wohl nicht begriffen, dass man das Dach erst bauen kann, wenn man zuvor für ein starkes Fundament gesorgt hat. Trotzdem sind diese woken Themen häufig koalitionsentscheidend. Wichtige andere Fragen wie die Einführung einer Bürgerversicherung werden dem unbedingten Regierungswunsch bereitwillig geopfert. Dabei haben sich zwei der drei Koalitionäre im Wahlkampf für genau dieses Anliegen starkgemacht.

Kein Zuspruch ohne Widerspruch

Randthemen erfahren bei diesem Politikstil immer öfter eine Dimension, gegen die schier nicht anzukommen ist. Garniert wird das ganze mit einer großzügigen Portion Moral, bei der sich jeder Gegenredner automatisch ins Aus manövriert. Wer Zweifel daran äußert, dass die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre vernünftig ist oder wer die Freigabe von Cannabis kritisch sieht, gilt als rückwärtsgewandt und nicht zeitgemäß. Was zeitgemäß ist, bestimmt aber immer die Mehrheit. Das kann nicht funktionieren, wenn ein gewichtiger Teil der Gesellschaft konsequent ausgeblendet wird. Viele passen sich den Veränderungen an, eben weil sie ihr Leben meist nicht direkt betreffen und sie sich damit arrangieren können. Vertrauen schafft ein solcher Umgang aber nicht.

Das konsequente Abwürgen von Widerspruch führt in der Folge immer auch zur Abnahme des Zuspruchs. Wer immer wieder erlebt, dass sein Wort in der Gesellschaft überhört und nicht beachtet wird, der wendet sich irgendwann ganz ab. Wir müssen in unserem Land dringend wieder lauter über Themen sprechen, welche die breite Mehrheit betreffen. Sozialere Arbeitsverhältnisse, die Überwindung der Zwei-Klassen – Medizin und bezahlbarer Wohnraum für alle eint uns deutlich mehr als die endlosen Debatten über Gendersternchen, alternative Lebensformen und Sitzordnungen.


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Eine heile Welt

Lesedauer: 8 Minuten

Der Überfall des Osmanischen Reichs auf Großdeutschland hat begonnen. Zumindest könnte man das meinen, wenn man die Kommentare mancher Zuschauerinnen und Zuschauer der tagesthemen liest. Ein abartiges Spektakel hat sich ihnen kurz zuvor geboten: Da empfing sie Moderatorin Pinar Atalay an diesem Abend doch tatsächlich auf Türkisch. Die vielen negativen Reaktionen überraschen leider kaum noch jemanden. Sie sind trotzdem überaus aufschlussreich und offenbaren eine Weltsicht, in der für Fremdes kein Platz ist.

Hier kommt die Maus

Die Maus wird 50. Ein Grund zum Feiern könnte man meinen. Immerhin erklären Maus, Elefant & Co. den kleinen Fernsehzuschauerinnen und -zuschauern seit 50 Jahren, wie die Welt funktioniert. Die Kiddies erfahren, wie der Joghurt in den Becher kommt, wie ein Flugzeug gebaut wird oder wie man mit einem Dudelsack Musik macht. Ganz coronakonform finden die Feierlichkeiten hauptsächlich auf der Mattscheibe statt, einen großen Festakt gibt es leider nicht. Die ARD hat sich trotzdem einiges ausgedacht, um der Maus einen würdigen 50. Geburtstag zu bereiten.

Am 5. März beispielsweise sagte nicht die bekannte Frauenstimme die tagesthemen um Viertel vor 10 an, sondern Maus-Sprecher Armin Maiwald. Auch Moderatorin Pinar Atalay war nicht allein im Studio. Neben ihr stand eine digital eingefügte orangene Maus, natürlich mit dem charakteristischen Augenklappern. Und auch die Begrüßung von Atalay fiel an diesem Abend anders aus. Statt mit dem routinierten „Guten Abend, meine Damen und Herren“ hieß sie die Zuschauerinnen und Zuschauer dieses Mal auf Türkisch zu den tagesthemen willkommen.

Reflexartige Atemnot

Dieses liebevoll gestaltete Sonder-Intro schlug in den sozialen Medien und in den Kommentaren unter dem YouTube-Video sogleich hohe Wellen. Bestimmte Zuschauerkreise bekamen sogleich Schnappatmung, als es die Moderatorin wagte, die Zuschauer auf der Muttersprache ihrer Eltern zu begrüßen. Die gleichen empörten Zuschauer hätten vermutlich laut applaudiert, hätte man diesen Teil der Sonderbegrüßung weggelassen.

Doch durch diesen geringfügigen türkischen Input fühlten sie sich sofort persönlich angegriffen. Anstatt über dieses wertschätzende Gimmick zu lachen, reduzierten sie Moderatorin Pinar Atalay reflexartig auf das Fremde – was in ihrem Weltbild deckungsgleich mit dem Feindlichen zu sein scheint.

Die Verhaltensweise ist bekannt. Aus den Schubladen kommen Minderheiten nur schwer heraus. Sobald sie etwas tun, was eindeutig in diese Schublade gehört, werden alle anderen Charakterzüge ausgeblendet. Wenn sich zwei Männer auf offener Straße küssen, ziehen sie unter Garantie massenhaft Blicke auf sich. Mancheiner lässt sich auch zu beleidigenden Äußerungen hinreißen. Etwas ähnliches ist Pinar Atalay nun passiert. Ihr Name lässt schon nichts Gutes vermuten. Dass sie die Zuschauer nun tatsächlich auch auf Türkisch ansprach, empfinden manche als bodenlose Unverschämtheit. In ihrer naiven und einfältigen Sicht auf die Dinge, empfinden sie gleich ein Gefühl des Überranntwerdens.

Das Problem der Anderen

Unsere Gesellschaft geriert sich immer gerne als ganz besonders tolerantes Trüppchen. Das gilt in der Praxis dann aber nur, solange es die eigenen Belange nicht berührt. Nach jedem rassistischen Angriff, der in den Nachrichten kommt und nach jedem homophoben Übergriff ist das Entsetzen groß. Die meisten beeilen sich, der Opfergruppe absolute Solidarität zuzusichern und sich von den Taten zu distanzieren. Wie kann es dann sein, dass immer wieder solche Taten passieren, wenn die allermeisten doch so gut und tolerant sind?

Es ist ein Unding, dass sich besonders queere Jugendliche hilfesuchend an Gruppen und Beratungszentren wenden müssen, weil sie im Alltag massiv diskriminiert werden oder ihre Eltern sie sogar rausgeschmissen haben. Das Argument „Mir doch egal, solange sie es nicht vor meinen Augen machen“ erhält hier eine ganz neue Dimension.

Aus den Augen, aus dem Sinn

Genau davor haben viele Menschen Angst: Dass sich Minderheiten an die Oberfläche trauen, dass sie so leben, wie sie leben möchten und – mit Abstand am schlimmsten – dass sie ihre Rechte einfordern. In den Köpfen vieler Menschen spukt noch immer die Überzeugung herum, dass es vollkommen ausreicht, Minderheiten zu dulden. Mehr ist definitiv nicht verhandelbar. Die Einforderung von Rechten wird als unverschämt interpretiert.

Das war bei vielen Minderheiten schon immer so und bei manchen ist es bis zum heutigen Tage so. Die Arbeitskraft der Gastarbeiter nach dem Zweiten Weltkrieg war eine bequeme Entlastung und hatte maßgeblichen Anteil am schnellen Wirtschaftsaufschwung. Völlig akzeptiert waren diese Arbeiterinnen und Arbeiter aber nie. Viel mehr wurden diese Menschen als Störfaktor in einer Welt verstanden, welche die Gastarbeiter doch eigentlich gar nicht mehr nötig hat. Die oberflächliche Dankbarkeit von gestern schwang in den offenen Hass von heute um. Menschen wie Pinar Atalay bekommen ihn zu spüren, wenn sie es wagen, auch nur für einen kurzen Moment aus der Reihe zu tanzen.

Bei der Ehe für Alle verhält es sich ähnlich. Natürlich werden Schwule und Lesben geduldet. Aber die gleichen Rechte für diese Menschen? No way. Es ist ein gutes Zeichen, dass sich die Mehrheit zwischenzeitlich trotzdem für die Einführung queerer Eheschließungen ausgesprochen hat.

Recht auf Rechte

Gleiche Rechte stellen Minderheiten immer auf die gleiche Stufe wie die Mehrheit. Für viele ist das ein Problem. Minderheitenrechte entziehen ihnen eine für sie wichtige Berechtigung, die anderen an der kurzen Leine zu halten. Wie nach Gutsherrenart nehmen sie für sich in Anspruch, darüber entscheiden zu können, wer welche Rechte erhält. Es darf bei Minderheiten aber nicht um die Gewährung irgendwelcher Rechte gehen. Diese Rechte stehen jedem Menschen zu, egal ob das anderen passt oder nicht.

Die Vorenthaltung mancher Rechte ist eine Sache. Sie legitimiert aber auch immer Diskriminierung – zumindest in den Augen der Aggressoren. Vielfach äußert sich das in beleidigenden Äußerungen. Diese verbalen Angriffe sagen allerdings mehr über den Täter und dessen Selbstwertgefühl aus als über das Ziel der sinnlosen Aggression.  Diesen Menschen mangelt es nicht nur an Selbstvertrauen. Sie zweifeln auch an der Standfestigkeit der eigenen Wahrheit, der eigenen Kultur und ihrer gewohnten Umgebung. Ständig rechnen sie mit einem Angriff, der ihre heile Welt ins Wanken bringt. Ein Dialog mit anderen Kulturen auf Augenhöhe ist mit solchen Leuten nicht möglich.

Sie dümpeln lieber in ihrer trostlosen Realität vor sich her, wo die kleinste Banalität ein Erdbeben auslösen kann. Diese persönliche Schwäche ist allumfassend. Sie beschränkt sich nicht nur auf die Angst vor dem Verlust der eigenen Sprache und Kultur, wenn die tagesthemen ausnahmsweise mal etwas anders beginnen. Auch die eigene Sexualität fällt den Minderwertigkeitskomplexen dieser Leute zum Opfer.

Wenn Freiheit fremd ist

Im Umgang mit schwulen Männern lassen viele heterosexuellen Zeitgenossen oft den Spruch fallen: „Solange er nichts von mir will.“ Warum denn eigentlich nicht? Was wäre so schlimm daran? Wäre das nicht sogar der Beweis für die eigene Attraktivität? Man müsste sein Gegenüber natürlich vor den Kopf stoßen, den anderen eventuell verletzen. Aber darum geht es solchen Machos nicht. Die Homosexualität anderer Männer gereicht ihnen bestenfalls zum Zweifel an ihrer eigenen Heterosexualität.

Anscheinend haben solche Typen auch ein grotesk falsches Bild von Schwulen. Sie scheinen ernsthaft zu glauben, dass diese sie jederzeit in einen Hinterhalt locken, sie vergewaltigen und sie dadurch ihrer heiligen Heterosexualität berauben könnten. Ähnlichen Argwohn geben sie anderen Minderheiten zu spüren. Pinar Atalay sprach in der Sprache eines anderen Kulturkreises zu ihnen. Welch hinterlistiger Angriff! Nun müssen sie alles tun, um sich vom Verdacht der türkischen Indoktrination reinzuwaschen.

Die türkische Sprache ist diesen Menschen fremd. Die islamische Kultur ebenso. Vielen wahrscheinlich auch die Vorzüge der orientalischen Küche. Und das ist an sich überhaupt nicht schlimm. Es ist nicht schlecht, manche Dinge nicht zu kennen. Sich so konsequent neuen Eindrücken zu entziehen und immer dichtzumachen, sobald sich das Fremde nähert – das ist nicht gut. Solche Menschen leben in einer Blase, in der sie nie die Gelegenheit haben, frei zu sein und Neues zu erleben. Bis die Blase eines Tages platzt…

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Falsche Prioritäten

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Querdenker, Trump-Wähler und Wutbürger – seit Jahren verzweifeln gestandene Politikerinnen und Politiker an deren Aufmärschen, ihren Demonstrationen und ihrem Geschrei. Die einen kritisieren lauthals die Einschränkung der Meinungsfreiheit, die anderen kommen aus dem Kopfschütteln nicht mehr raus. Deutlicher kann die gegenseitige Entfremdung kaum werden. Ein tiefer Graben trennt ein Lager vom anderen. Politik aus dem Elfenbeinturm hat solche Verhältnisse erst möglich gemacht.

And the winner is…

Joe Biden ist der 46. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika. Jubel bricht aus, nicht nur in den USA. Die deutschen Medien berichten von tausenden Menschen, die in den USA auf die Straße gehen. Die einen, um die Abwahl von Donald Trump zu feiern, die anderen, um gegen die Wahl Joe Bidens zu protestieren. Ein tief gespaltenes Land, könnte man meinen. Wie tief der Riss wirklich geht, wird aber oft verschwiegen. Denn die USA kommen auf eine Einwohnerzahl von über 300 Millionen Menschen. Etwa 250 Millionen davon sind wahlberechtigt. Nur einen Bruchteil davon sieht man auf den Straßen Amerikas. Viele andere haben längst resigniert. Sie haben begriffen, dass es für ihre Leben kaum einen Unterschied macht, ob der Präsident nun Joe Biden oder Donald Trump heißt.

Die Medien suggerieren allerdings allgemeine Freudenstimmung auf der ganzen Welt. Selbstgefällig feiert man wie vor vier Jahren den Sieg des eigenen Kandidaten. Knapp der Hälfte der wahlberechtigten Amerikaner wird zwischen den Zeilen gesagt: Es ist gut, dass ihr verloren habt. Friedensstiftend sind solche Gesten nicht. Und welchen Nutzen kann die Mehrheit der US-Amerikaner nun aus dieser Wahl ziehen? Die Probleme des Staatenbunds haben sich durch die Wahl Joe Bidens gerade angesichts der Coronakrise sicher nicht in Luft aufgelöst. Aber über genau diese Probleme spricht derzeit kaum jemand.

Schulgipfel oder Autogipfel?

Die Spaltung der Menschen in den USA ist also kein Wunder. Aber nicht nur im weit entfernten Amerika haben Populisten und Spalter großen Zulauf. Auch in mehreren europäischen Ländern ist die Demokratie in Gefahr, darunter Deutschland. Viele Menschen fühlen sich von der Politik weder angesprochen noch mitgenommen. Viel zu häufig haben sie das Gefühl, es wird an ihnen vorbeiregiert.

Es bleibt nicht nur beim Gefühl der Menschen. In vielen Fällen haben sie mit ihrer Einschätzung leider recht. Die Corona-Pandemie hat die Welt in den vergangenen Monaten vor große Probleme gestellt. Lange war man sich einig, dass sich ein Lockdown wie im Frühjahr nicht wiederholen dürfte. Als die ersten wirtschaftlichen Folgen absehbar waren, berief die Bundesregierung sogleich einen Autogipfel ein. Angeblich ging es darum, Arbeitsplätze zu sichern. Dass die Regierung dazu nicht in der Lage ist, haben wir bei Lufthansa gesehen. Das Kabinett spendierte dem Konzern mehrere Milliarden Euro, ohne daran den Erhalt eines einzigen Arbeitsplatzes zu knüpfen. Anstatt nun in wirtschaftshöriger Manier sogleich einen Autogipfel zu veranstalten, hätte die Regierung gut daran getan, mit ähnlichem Enthusiasmus einen Schulgipfel zu wuppen. Dort hätte man sich gleich überlegen können, wie in den Schulen auch in den Wintermonaten effektiv gelüftet werden kann und wie eine angemessene digitale Ausstattung aller Bildungseinrichtungen finanziert werden kann.

Anscheinend haben die Bereiche Schule, öffentlicher Dienst und Pflege für die Regierung allerdings nur untergeordnete Priorität. Da muss schon ein wohlfeiler Applaus einmal im Jahr ausreichen. Denn was juckt es die Kassiererin, wenn der Staat mit 3 Milliarden bei Lufthansa einsteigt, sie selbst mit ihren knapp 10 Euro Stundenlohn aber kaum über die Runden kommt? Was kümmert den kleinen Timmy ein Milliardengeschenk an Daimler & Co., wenn er neben dem geöffneten Fenster friert und sich den Tod holt? Geld wird hier dringend benötigt. Doch das füllt währenddessen die Kassen der Waffen- und Rüstungsschmieden, übrigens auch in treuer amerikanischer Gefolgschaft unter Trump und Biden. Staaten wie China und Russland geben übrigens gemeinsam nur etwa 40 Prozent der Ausgaben von USA und Deutschland in diesem Bereich aus.

Gendersternchen statt Pfandflaschen

Immer stärker wird das Gefühl, dass sich die Politik für die Bedürfnisse der ganz normalen Bürgerinnen und Bürger überhaupt nicht mehr interessiert. Sehr deutlich wurde das auch beim Abgasskandal um VW und viele andere. Für die Regierung war die logische Konsequenz aus dem Betrug, dass unverzüglich Fahrverbote zu verhängen seien. Schließlich kommt das auch dem Klima zugute. Das mag so sein. Aber was ist das denn für eine verquere Umkehrung von Schuld und Verantwortung? Als ob der betrogene Autofahrer absichtlich mehr klimaschädliche Gase emittiert hätte. Zum Sexappeal dieser klimapolitisch sinnvollen Entscheidung trägt dieses Vorgehen definitiv nicht bei.

Und selbst wenn die Parteien versuchen, gute Politik für das Volk zu machen, bleibt dabei oft ein bitterer Beigeschmack. Klar, allen kann man es sowieso nie rechtmachen. Aber viel zu oft signalisiert die Politik in diesem Land, dass sie die Lebensrealitäten der ganz normalen Leute weder anerkannt noch versteht. Die Einführung des Gendersternchens kratzt die Rentnerin, die regelmäßig Pfandflaschen sammeln muss, herzlich wenig. Natürlich ist auch eine gendergerechte Sprache ein wichtiges Thema. Die Überdosierung mancher Themen führt aber häufig dazu, dass sich die Menschen eher abwenden als sich damit auseinanderzusetzen.

Für euch soll’s heut‘ Konfetti regnen

Anderes Beispiel: Nachdem im Juni 2017 der Bundestag kurz vor knapp mehrheitlich für die Einführung der Ehe für Alle stimmte, da sprangen die Abgeordneten des rot-rot-grünen Lagers enthusiastisch auf. Die Fraktion der Grünen ließ sogar Konfetti regnen. Eine solche Sause hätte man sich von diesen Parteien auch erhofft, hätten sie ihre Mehrheit für einen gescheiten Mindestlohn, eine armutsfeste Rente und eine wirksame Eindämmung der Leiharbeit genutzt. Nichts von alledem wurde umgesetzt.

Stattdessen wunderte man sich eher, dass gerade diese drei Parteien bei der Bundestagswahl 2017 eher bescheiden abschnitten. Dabei war doch offensichtlich, dass die Einführung der Ehe für Alle reine Wahlkampftaktik war. Das erhoffte Lob und der nötige Erfolg blieben allerdings aus.

Denn das linksliberale Spektrum hat bis heute nicht begriffen, dass die Aufsummierung von Minderheitenthemen keine gute Politik für die Mehrheit bedeutet. Eine sprachliche Erweiterung, die alle mitnimmt, kommt einer verschwindend geringen Zahl an Menschen zugute. Das sagt nichts über die Qualität dieser Forderung aus. Aber über ihre Priorität. Eine diskriminierungsfreie Ausgestaltung von Sprache kann ein sinnvolles Teilthema vieler verschiedenen Themen sein. Es zum Überthema zu machen und es anderen wichtigen gesellschafts- und auch sozialpolitischen Themen voranzustellen, ist eher kontraproduktiv.

Wenn Minderheitsthemen derartig in den Vordergrund rücken und zugleich moralisch und emotional aufgeladen werden, dann wirken sie leicht bevormundend. Menschen könnten sich gegängelt fühlen, weil sie das Gefühl haben, nicht mehr alles sagen zu dürfen, während wichtige andere Themen ausgeblendet werden. Sie verlieren den Bezug zu der Politik, die vorgibt, für ihre Interessen einzutreten. Sie vertrauen sich anderen an, die sie in ihrem Glauben bestärken, ihre Meinungsfreiheit werde eingeschränkt.

Die Politik der Rücklichter

Und was machen ein Großteil der Politiker und leider auch weite Teile der Gesellschaft? Sie geißeln diese Menschen als Nazis. Sie verdrehen dabei gekonnt Ursache und Wirkung. Sie scheinen zu glauben, die AfD habe die Menschen erst zu Wutbürgern gemacht und den Frust in ihnen gesät. Andersrum wird allerdings ein Schuh daraus. Die Unzufriedenheit der Menschen hat erst dazu geführt, dass eine Partei wie die AfD überhaupt möglich war. Denn in einer Demokratie machen die Menschen die Parteien, und nicht andersrum.

Viel zu lange haben die regierenden Parteien auf die falschen Themen gesetzt. Sie haben die Bodenhaftung verloren – den Politikern rannte das Volk davon. Schon vor langer Zeit haben sie die Türen zugemacht und viele am Straßenrand stehenlassen. Sie haben sie einfach nicht mitgenommen. Die Politik hat sich einer Zukunftsideologie verschrieben, die tatsächlich erstrebenswert ist, aber ohne die Bürgerinnen und Bürger niemals erreicht werden kann. Man ist die Probleme von morgen angegangen, ohne zuvor die von gestern zu lösen. Die Welt dreht sich schneller, zu schnell für manche.

Die Menschen haben keine Lust auf die Globalisierung, wenn in ihren eigenen Ländern zuvor nicht aufgeräumt wurde. Sie fühlen sich unvorbereitet, abgehängt und im Stich gelassen. Viele sehnen sich nach einfachen Lösungen, weil die komplexen Fragen sie überfordern. Da kommt ihnen eine Partei nur recht, die verspricht, den „geordneten“ Nationalstaat wiederherzustellen. Das ist in Deutschland so und das ist in den USA so. Der Sieg von Joe Biden oder von Angela Merkel bei welcher Wahl auch immer ändert daran nichts. Sie sind eher Teil des Problems.


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