Auf Umwegen durch die Krise

Lesedauer: 7 Minuten

Die Coronakrise verlangt uns allen enorm viel ab: Rücksicht, Disziplin, Verzicht, Wachsamkeit, Solidarität. Nach den ersten Lockerungen der vergangenen Woche ging ein Aufatmen durch das Land. Doch es ist viel zu früh, bereits jetzt Entwarnung zu geben. Um dies zu verdeutlichen, gilt ab morgen bundesweit die Maskenpflicht. Die Maßnahme ist gut und richtig, kommt aber zu spät. Das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit der Regierung steht auf dem Spiel. Mit jedem neuen Infizierten schwindet dieses Vertrauen. Der Zickzackkurs der Länder verunsichert die Menschen zusätzlich in einer Zeit, in der Zusammenhalt das Gebot der Stunde ist.

Nach Wochen des Shutdowns dürfen seit vergangenem Montag kleinere Geschäfte wieder öffnen. Gerade diese Läden hatten unter den harten Sicherheitsmaßnahmen gegen die Pandemie besonders zu leiden. Viele Mitarbeiter wurden in Kurzarbeit geschickt, Geld für Mieten und Pachten konnten nicht erwirtschaftet werden. Die Lockerung der Maßnahmen ist für diese Unternehmen eine gute Nachricht. Natürlich müssen die allgemeinen Abstandsregeln weiter eingehalten werden. Es gibt außerdem klare Regeln, wie viele Kunden sich auf welchem Raum aufhalten dürfen.

Die Kombi macht’s

Viele Geschäfte behelfen sich mit einer Zählung über Einkaufskörbe. Jeder Kunde nimmt einen Korb mit ins Geschäft. Sind alle Körbe aufgebraucht, so wird auch niemand mehr in den Laden gelassen. Das hilft, den Kundenstrom zu regulieren, nicht aber, um das Einkaufsverhalten der Kundschaft zu kontrollieren. So ist durch diese Maßnahme nicht gewährleistet, dass sich alle Kunden an den vorgeschriebenen Sicherheitsabstand von zwei Metern halten. In vollgestellten Geschäften wie kleinen Klamottenläden ist das selbst mit besonderer Vorsicht nicht ohne weiteres einzuhalten. Dicht an dicht stehen dort die gut bestückten Kleiderständer. Aneinander vorbeizukommen, ohne sich dem Verdacht der sexuellen Belästigung auszusetzen – schier unmöglich.

Umso sinnvoller ist die Maskenpflicht, die ab morgen im öffentlichen Personenverkehr und in geschlossenen Räumen wie Supermärkten und Buchhandlungen gilt – oder eben in der Mottenkiste nebenan. Denn gerade zwischen Kunde und Mitarbeiter ist Abstandhalten meist leichter gesagt als getan. Die Bedeckung von Mund und Nase mit einer Maske – oder einem für die Jahreszeit unüblichen Schal – ist dabei eine praktikable Ergänzung zum Katalog der Sicherheitsmaßnahmen. Wichtig ist nur, dass das eine das andere nicht ersetzt. Wer eine Maske trägt, darf nicht auf Tuchfühlung mit seinen Mitmenschen gehen. Denn ein besonders umfassender Schutz ist nur dann gegeben, wenn Abstand und Maske Hand in Hand gehen.

Es mutet allerdings schon ein wenig merkwürdig an, dass die neugeöffneten Geschäfte nun eine ganze Woche lang hemmungslos dem ungeschützten Rein und Raus der Kunden ausgesetzt waren. Kaum gewöhnt sich der Otto-Normalverbraucher an die wiedergewonnene Freiheit, da drückt ihm der Staat sprichwörtlich eine Maske auf’s Gesicht. Alles angeblich zum Schutz der Gesundheit. Eben jene Gesundheit, die dem Staat eine ganze Woche lang ziemlich egal war, oder wie soll man das verstehen?

Maskenpflicht ohne Masken

Fakt ist: Geschäfte zu öffnen, ohne gleichzeitig andere Schutzmaßnahmen einzuführen, war ein grober Fehler. Mit den Ladenöffnungen hätte sofort eine Maskenpflicht greifen müssen. Der Druck aus der Wirtschaft war aber offenbar so groß, dass der Staat die langersehnten Wiederöffnungen nicht länger hinauszögern konnte. Mit einer Maskenpflicht zauderte er aus einem anderen Grund. Selbstgenähte Masken sind doch nicht deshalb im Trend, weil so viele Mitbürgerinnen und Mitbürger die Liebe zur Nähmaschine entdeckt haben, sondern weil der Staat schlicht unfähig ist, seine Bürger in ausreichendem Maße mit Masken zu versorgen.

Weil der Schutz der Bevölkerung aber doch noch eine hohe Priorität seitens der Regierung genießt, kam die Maskenpflicht dann doch. Ist ja auch egal, wie der Durchschnittsbürger da rankommt. Bei den Menschen kommt an: Es ging eine Woche lang ohne, aber jetzt bitte nur noch mit Maske. Kein Wunder also, dass viele das hippe Teil eher als Panikmache oder gar als Repression empfinden.

Der Corona-Flickenteppich

Dass die Maskenpflicht nun Sache der Länder ist und jedes Bundesland zeitlich versetzt eine solche Pflicht beschlossen hat, macht die Sache nicht besser. Diese unstete Koordinierung der Maßnahmen verunsichert die Menschen zusätzlich und führt zu Vertrauensverlust gegenüber der Handlungsfähigkeit des Staats. Das können wir momentan am allerwenigsten gebrauchen.

Man darf eines nicht vergessen: Die Schutzmaßnahmen greifen sofort, ihr Erfolg ist aber erst Wochen später nachweisbar. Zur Zeit geht man von einer Inkubationszeit von zwei Wochen oder mehr aus. Das heißt, ein Infizierter kann durchaus über drei Wochen unbehelligt als anonymer Superspreader unterwegs sein. Wer in der Zeit ohne Maskenpflicht ungeschützt beim Bücherstöbern war oder der Nähstube einen Besuch abgestattet hat, der wird auch erst in ein paar Wochen positiv getestet werden – sofern er oder sie sich angesteckt hat. Man kann sich lebhaft vorstellen, wie manch passionierte Gegner der Maskenpflicht dann argumentieren werden, die verblödete Pflicht brächte ja gar nichts. Und viele werden auf sie hören.

Vertrauensfragen

Die verspätete Einführung der Maskenpflicht wird dazu führen, dass Zweifler und Skeptiker, Bequeme und Faule, aber leider auch Verschwörungstheoretiker und andere Idioten deutlichen Aufwind erfahren werden. Gepaart mit der mangelhaften Koordinierung der Krise seitens der Regierung wird ein deutlicher Vertrauensverlust in den Staat unabwendbar sein.

Bisher setzte die Regierung auf Freiwilligkeit. Man traute den Bürgerinnen und Bürgern zu, selbst entscheiden zu können, was das beste ist. Ausgangsbeschränkungen und Ladenschließungen wurden nur sehr widerwillig eingeführt. Das ist Zeugnis dafür, dass die Regierung den rechtsstaatlichen Auftrag sehr ernstnimmt. Viele folgten diesem guten Beispiel. Schon lange bevor die Maske zur Pflicht wurde, erledigten viele ihren Einkauf nur noch mit einem Schutz auf Mund und Nase. Doch es gab auch solche, die auf die Sicherungsmaßnahmen pfiffen. Das Wort „Coronapartys“ ist schon jetzt Top-Kandidat bei der Wahl zum Unwort des Jahres 2020.

Wer nicht ausreichend Abstand hält und wer keine Maske trägt, gefährdet sich dabei viel weniger als all die anderen. Deswegen ist es solchen Menschen ja auch egal. Diese Menschen sind in der deutlichen Unterzahl – aber sie sind trotzdem zu viele. Sie sind zu viele als dass sich eine Gruppendynamik durchsetzt, die für den Gesundheitsschutz kämpft – ganz ohne Verordnungen und Verbote. Es macht nämlich einen himmelweiten Unterschied, ob ich mich an die Regeln halte, weil ich es muss, oder ob ich mich daran halte, weil ich es will. Man kann manchen Leuten die Warteschlange auf dem Boden aufzeichnen; sie sind trotzdem zu blöd dafür…

In der aktuellen Situation ist es äußert blauäugig, auf die Vernunft der Menschen zu setzen. Die allermeisten haben begriffen, wie wichtig Abstand und Schutz in der Krise sind. Doch zu viele werden auch in Zukunft querschießen. Wer kontrolliert denn die Einhaltung der Maskenpflicht im Zug, wenn seit Wochen keine Schaffner und Kontrolleure mehr Dienst machen? Die Antwort liegt auf der Hand: Es wird den Menschen selbst überlassen, sich zu kontrollieren. Dieses Vertrauen, so ehrenhaft es auch ist, wurde in den letzten Wochen und vor allem seit vergangenem Montag viel zu oft ausgenutzt als dass es auch zukünftig glaubwürdig ausgesprochen werden kann.


Mehr zum Thema:

Ein schmaler Grat

Hamsterkäufe und anderer Volkssport

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!