Wenn die Mehrheit schweigt

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Die Stimmung ist am Brodeln. Nachdem Russland den Gashahn zugedreht hat, nehmen die Energiepreise in Deutschland nie dagewesene Ausmaße an. Viele Familien wissen schon heute nicht mehr, wie sie die Kosten stemmen sollen. Bonbons wie die Energiepreispauschale helfen ihnen kaum weiter; besonders nicht, wenn ihnen das Geld durch die Gasumlage wieder weggenommen wird. Trotzdem bleiben die meisten Bürgerinnen und Bürger bislang ruhig. Auch das Unruhepotenzial des heißen Herbstes, wie ihn AfD und Linke fordern, schätzen Experten als gering ein. Viele Menschen ziehen sich lieber resigniert zurück, anstatt lauthals zu protestieren. Auf Dauer ist dieser Demokratieverdruss ein echtes Problem für unser Land.

Ein eisiger Winter

Die kalte Jahreszeit steht in den Startlöchern. Nach einem langen und trockenen Sommer mit neuen wahnwitzigen Hitzerekorden, verheerenden Waldbränden und verkümmerten Flussläufen hält allmählich der Herbst Einzug. Das Laub an den Bäumen verfärbt sich, die Tage werden kürzer und die Temperaturen sinken spürbar. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis in deutschen Wohnungen die Heizungen aufgedreht werden.

Jeder im Land weiß, dass diese Selbstverständlichkeit in den kommenden Monaten und Jahren ein teurer Luxus sein wird. Die Gaspreise schnellen seit dem russischen Angriff auf die Ukraine rasant in die Höhe. Die seither gegen Russland gerichtete Embargopolitik war der letzte Sargnagel der deutschen Energieversorgung. Putins Antwort folgte prompt: Nord Stream 1 war einmal. Die Pipeline versorgt uns seit wenigen Tagen nicht mehr mit dem dringend benötigten Gas. Viele deutsche Haushalte schauen in die Röhre. Experten warnen seit Monaten vor einem Preisanstieg, der einer durchschnittlichen Familie im kommenden Frühjahr horrende Nachzahlungen im deutlichen vierstelligen Bereich bescheren wird.

Die Regierungskoalition hält währenddessen an den Wirtschaftssanktionen gegen den Aggressor fest. Mit der geplanten Gasumlage setzte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kürzlich noch eins drauf: Der deutsche Steuerzahler soll die erwarteten Verluste der Energiekonzerne aus eigener Tasche ausgleichen. Die Bürgerinnen und Bürger bluten damit für eine fehlgeleitete Politik – really?! Again?

Potenzial zum Umsturz?

Während die größte Oppositionsfraktion im Bundestag angesichts dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit die Füße stillhält, kommt besonders aus den Reihen von AfD und Linken heftige Kritik. Sie beschwören die Bürgerinnen und Bürger, sich diese Entwicklung nicht bieten zu lassen und proklamieren in Eigenregie einen „heißen Herbst“, mit dem sie der Regierung einheizen wollen.

Die Phrase der beiden kleineren Oppositionsparteien zieht weite Kreise und ruft sogar erfahrene Politikwissenschaftler auf den Plan, die sich mit dem Szenario anhaltender Proteste im Herbst auseinandergesetzt haben. Mehrheitlich kommen sie zu der Einschätzung, dass von dem Aufruf zum Widerstand kein wesentliches Potenzial für staatsgefährdende Unruhen ausginge.

Für den Moment mögen die Expertinnen und Experten recht behalten. Wie sich die Lage im Laufe der nächsten Monate entwickelt, wenn tatsächlich immer mehr Menschen ihre Wohnungen beheizen müssen, ist hingegen unklar. Fakt ist allerdings, dass sich nur wenige Menschen vorstellen können, sich Protesten anzuschließen, die von AfD oder Linken initiiert wurden. Der mit Spannung erwartete Auftakt der Protestserie am 5. September jedenfalls war ein Flop und ging sang- und klanglos vorüber.

Stiller Protest

Es ist aber nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen, wenn sich die Menschen entschließen, zu Hause zu bleiben, anstatt ihren Unmut auf die Straße zu tragen. Es ist kurzsichtig und naiv, wenn man fehlenden Protest mit gleißender Zustimmung verwechselt. Dass viele Menschen im Land schon lange nicht mehr mit der politischen Situation zufrieden sind, zeigen die Wahlbeteiligungen der letzten Jahre. Besonders auf Landes- und Kommunalebene sind die Quoten mittlerweile so erbärmlich, dass es an Realitätsverweigerung grenzt, wenn die gewählten Abgeordneten von irgendwelchen herbeikonstruierten Mehrheiten in der Bevölkerung sprechen. In manchen Kreisen bleiben mehr Menschen den Urnen fern, als sich an den Wahlen beteiligen. Auch sie üben sich nicht im lautstarken Protest, sondern in stiller Resignation.

Ganz offensichtlich glaubt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nicht mehr daran, mit seiner Stimme etwas bewegen zu können. Das liegt zum einen daran, dass wesentliche direktdemokratische Beteiligungsformate auf Bundesebene fehlen. Zum anderen erleben viele Menschen schon zu lange, dass eine Politik betrieben wird, die ganz sicher nicht in ihrem Interesse ist. Ihren Rückzug ins Nichtwählerlager kann man ihnen entweder selbstgerecht vorhalten oder man ändert den politischen Kurs grundlegend.

Wir bewegen uns in Richtung einer politischen Ära, in der die Demokratie nur noch auf dem Papier existiert. Immer mehr Menschen finden keine politische Repräsentanz mehr – nicht, weil sie nicht wählen gehen, sondern weil das politische Angebot fehlt. Die Grünen haben bei der letzten Bundestagswahl einen herausragenden Erfolg erreicht. So stark wie 2021 haben sie bei noch keiner Bundestagswahl abgeschnitten. Das liegt aber nicht daran, dass überragend viele Menschen sie gewählt haben. Es liegt daran, dass die Partei von Menschen gewählt wird, die überdurchschnittlich oft zur Wahl gehen. Als Reichenpartei machen die Grünen inzwischen der FDP ernsthaft Konkurrenz.

Zwischen Schuldzurufen und Selbstinszenierung

Es gibt inzwischen Szenen im Bundestag, da bleibt einem fast die Spucke weg. Auf der Tagesordnung stehen Punkte, die durchaus für viele Menschen im Land relevant sind. Der Umgang der Abgeordneten mit diesen wichtigen Anliegen ist bisweilen aber unterirdisch. Anstatt sachliche Argumente auszutauschen und zur Sache zu sprechen, ist es inzwischen Sport geworden, sich die Versäumnisse der letzten Legislaturperioden um die Ohren zu hauen. Wir sind alle froh, dass die Union nicht mehr regiert. Man kann seine Redezeit aber durchaus schlauer füllen als mit den Defiziten der Regierungszeit Merkel.

Getoppt wird das nur dadurch, wenn manche Abgeordnete einen besonders woken Kommentar ablassen und mit Pfiffen und Grölen aus den eigenen Reihen dafür belohnt werden. Die Damen und Herren Volksvertreter vergessen offenbar immer häufiger, dass sie sich nicht auf einem Rockkonzert befinden, sondern in der Herzkammer der Demokratie.

Ein neues Weimar?

Ihre erprobte Selbstbeweihräucherung macht viele Abgeordnete blind für die wahren Nöte und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger. Das frustriert viele von ihnen und erzeugt eine Politik- und Demokratieverdrossenheit, die weitaus gefährlicher für unsere Verfassung ist als aktiver Protest an Montagen. Einer Republik, in der immer weniger Menschen ihre Unzufriedenheit artikulieren, obwohl immer klarer gegen einen Teil von ihnen regiert wird, der laufen mit der Zeit die Demokraten davon. Das hatte in der deutschen Geschichte schon einmal verheerende Folgen.

Auch die Weimarer Republik scheiterte nicht in erster Linie daran, dass die Nazis politisch Andersdenkende angriffen und die Jüdinnen und Juden zu Staatsfeinden Nr. 1 erklärten. Die Putschversuche in den Anfangsjahren von Weimar schädigten die junge Demokratie nicht nachhaltig. Die erste deutsche Republik scheiterte daran, dass zu viele Menschen resigniert beiseitetraten und den Kameraden von SS und SA freie Hand ließen. Sie taten es, weil sie mit der bisherigen Volksvertretung nicht zufrieden waren und innerhalb weniger Jahre zu oft von den Herrschenden enttäuscht worden waren. Zugegeben spielten auch damals äußere Einflüsse wie der Friedensvertrag von Versailles und die Hyperinflation in den 1920ern eine nicht unwesentliche Rolle. Viel entscheidender war aber der Umgang der Regierenden mit diesen Problemen und schon in der Zwischenkriegszeit fanden die Abgeordneten im Parlament keine passenden Antworten auf diese Fragen.

Die Lage vor hundert Jahren war sicher eine andere als heute. Es gibt aber Ähnlichkeiten, die zumindest zum Nachdenken anregen. Auch heute erleben wir immer häufiger extremistische Gewalttaten, welche die übergroße Mehrheit der Bürger fassungslos zurücklassen. Weder der Angriff auf die Synagoge in Halle noch der vereinzelte Protest gegen hohe Energiepreise hat bislang zum Umsturz des Systems geführt. Der Rückhalt für die aktuelle Politik schwindet aber zusehends, was es Extremisten auch 2022 immer leichter macht, die Verfassung zu unterwandern.


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Generation Anti

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Hätte mir jemand noch vor wenigen Jahren gesagt, ich würde einmal einen Text schreiben, der sich gegen Demonstrationen richtet, bei denen Menschen für Grundrechte eintreten, ich hätte ihn vermutlich ausgelacht. Doch nun ist der Moment gekommen. Naja, fast zumindest. Denn um die Grundrechte geht es vielen Demonstranten heute in Wahrheit nicht. Es ist ein Trauerspiel, dass man inzwischen jede Demo, bei der es angeblich um die Grundrechte geht, genau hinterfragen muss, um nicht rechten oder linken Extremisten auf den Leim zu gehen. Selbst denken scheint immer mehr ein Tabu zu werden.

Wenn Rechte Rechte verteidigen

Gerade die Schwabenmetropole Stuttgart hat sich rasant zu einem Hotspot der sogenannten „Hygienedemos“ entwickelt. Woche für Woche lockt das Areal, auf welchem sonst eigentlich der Cannstatter Wasen stattfindet, tausende Menschen an. Von echter Hygiene in Zeiten der Pandemie ist bei diesen Aufläufen wenig zu spüren. Abstandsregeln werden missachtet, Reportern und Kamerateams werden die Viren im Nahkampf förmlich in die Fresse gedrückt, es wird gesungen und es wird laut protestiert. Mit großen Schildern machen viele der Demonstranten darauf aufmerksam, dass sie nicht bereit sind, ihre Grundrechte einfach so aufzugeben. Sie sind gekommen, um für ihre Rechte zu kämpfen.

Zumindest glauben sie das. Denn längst hat die extreme Rechte die Oberhand über diese Demos gewonnen. Was zunächst als linksalternativer Protest begann, wurde den roten Rebellen schneller aus der Hand gerissen als sie „Bolschewiki“ sagen konnten. Ein Konglomerat aus Reichsbürgern, AfDlern und anderen nationalistischen Gruppierungen weckt in vielen der Teilnehmern wieder einmal einen uralten Instinkt: das Nichtstun.

Anti-Fortschritt, Anti-Flüchtling, Anti-Pasti

Weil der Mensch aber nicht gerne zugibt, faul und träge zu sein, benutzen die ewig gestrigen die Demonstrationen als Fassade für ihren Putsch gegen die Solidarität in der Krise. Es ist nämlich auffallend, dass sich sämtliche Aktionen sogenannter Wutbürger immer für den Erhalt des Status quo einsetzen. Wer auf Hygienedemos geht, einen Pegida-Aufmarsch bereichert oder peinliche Teil-mich – Bilder in sozialen Medien postet, der nimmt für sich meist in Anspruch ein besonders kritischer Geist zu sein. In Wahrheit sind solche Leute allerdings vor allen Dingen Anti.

Sie sind Anti-Flüchtlinge, weil diese sich angeblich in unser Sozialsystem einschleichen und am Ende schuld daran sind, wenn die Oma keine angemessene Pflege im Heim bekommt. Sie sind Anti-Greta, weil diese die junge Generation manipuliert und uns alle ins Verderben reißen wird. Sie sind Anti – Corona-Maßnahmen, weil die Maßnahmen überhaupt nichts bringen und das Virus gar nicht so gefährlich ist wie die Rautenkanzlerin es immer predigt.

Noch nie hat sich jemand dieser Protestierenden, die sich penibel von den Gutmenschen abgrenzen, offensiv FÜR einen Fortschritt in der Gesellschaft eingesetzt. Diesen Schlechtmenschen reicht es offenbar vollkommen, jedwede Veränderung im Ansatz abzuwehren. Immerhin gab es kritische Widerworte in unserem Land viel zu lange nicht.

Würdevoller Protest?

Gut, die gefühlt ewige GroKo macht eine kontroverse politische Debatte wirklich nicht einfach, aber wird euch dieses Argument nicht langsam langweilig? Die Menschen, die gestern zu Pegida gingen und sich heute Hygienedemonstranten schimpfen, werden nicht müde, die fehlende Debattenkultur in unserem Land zu beklagen. Angeblich hört ihnen seit Jahren keiner mehr zu. Hätten sie allerdings pünktlich ihre GEZ-Gebühren gezahlt, dann wüssten sie, dass AfD, Wutbürger und jüngst auch Hygienedemos die Medien seit geraumer Zeit dominieren.

Wer sich heute auf den Cannstatter Wasen stellt und laut die Rückgabe der Grundrechte einfordert, der vergisst einen wichtigen Aspekt: Die Demo ist genehmigt. Um Versammlungsfreiheit kann es diesen Menschen also nicht gehen, sie dürfen sich schließlich versammeln. Um Meinungs- und Redefreiheit sicherlich auch nicht, schließlich kann man mit deren halbpolitischen Ergüssen inzwischen ganze Bücherregale füllen. Religionsfreiheit fällt auch weg – die Kirchen, Synagogen und Moscheen dürfen inzwischen auch wieder gemeinsam Wenimmer anbeten. Bleibt noch die Würde des Menschen. Würdevoll benehmen sich diese Aufrührer jedenfalls nicht.

Neues gelingt nur mit Mut

Aufzustehen und seine Meinung zu sagen erfordert Mut. Partout gegen alles neue zu sein, tut das allerdings nicht. Wer generell alles neue verteufelt und nicht dazu bereit ist, sich zu bewegen, der ist nicht mutig. Und so jemand ist auch nicht kritisch. Er ist nur eines: bequem. Immer wieder missbraucht dieses Heer an trägen Protestlern den Begriff der Kritik im Namen der Bequemlichkeit.

Es ist verdammt einfach, gegen Neues zu sein. Verantwortung zu übernehmen und für Neues einzustehen, ist meist allerdings schwerer als gedacht. Von dieser Inbrunst, von diesem Mut und von dieser Leidenschaft ist bei den Hygienedemos nur wenig zu spüren. Denn wenn eine Marionette den Kopf schüttelt, dann ist das selten auf ihren Mut zurückzuführen. Konsequent verschließen die Demonstranten die Augen davor, in wessen Interesse sie eigentlich handeln. Sicherlich nicht im Namen der Demokratie, die ihnen so heilig scheint. Und sicher auch nicht im Sinne ihrer Mitmenschen, von denen jeder der Überträger eines überaus aggressiven Virus sein kann.

Demonstrativ verweigern sich die Hygienedemonstranten der Verantwortung, die sie schultern müssten, wenn sie die Augen aufmachen würden. Sie bemerken nicht, dass ihre Verantwortung nicht die über 8.000 Toten in Deutschland sind, die dem Virus bereits zum Opfer gefallen sind. Es sind die zigtausenden Toten mehr, die zur Debatte stünden, würden wir dem kopflosen Getöse der Demonstranten nachgeben. Es wäre unser kollabierendes Gesundheitssystem, das auf das Konto der Aufständischen ginge, würden wir ihrer Vorstellung der Pandemiebekämpfung folgen. Es ist beinahe zynisch, dass die Menschen, die sich angeblich so gut mit den Grundrechten auskennen, im Alltag in großer Zahl trotzdem Maske tragen. Das klitzekleine bisschen Rückgrat, welches sie auf den Demos zu besitzen vorgeben, wird damit sofort wieder vernichtet.

Ein Land voller Wissenschaftler

In dieser notorischen Unfähigkeit, sich der gesellschaftlichen Verantwortung zu stellen, schustern sich viele dieser Menschen ihre eigene Wahrheit zusammen. Diese Wahrheit schließt nicht ein, sich in seiner Position nur ein klein wenig zu bewegen, geschweige denn, anderen Menschen entgegenzukommen. In diesem unendlichen Kosmos aus reinem Egoismus zählt nur der eigene Bestand. Die allgemein geltende Maskenpflicht ist ein gut sichtbares Symbol dieser Krise. Augen und Herzen dieser Menschen waren aber schon während der letzten Krise gut bedeckt.

Blind und taub glaubten sie allen, die sie in ihrer engstirnigen Sichtweise bestärkten. Vieles, was einst als unscheinbare Fake News begonnen hat, ist inzwischen zu einer regelrechten Pseudowissenschaft ausgewachsen. Egal, wen man fragt, unser Land wimmelt plötzlich vor gut informierten Ärzten und Wissenschaftlern. Da könnten wir uns doch eigentlich glücklich schätzen. Doch außer gut gemeinten Ratschlägen und Binsenweisheiten kommt bei den Experten von heute selten was rum. Viel zu emsig sind sie damit beschäftigt, den Begriff „Wissenschaft“ zu vergewaltigen und für ihre kruden Ideen zu missbrauchen. Und das alles nur, weil sie es einfach nicht über sich bringen, von ihrem bequemen Sessel aufzustehen und für echte Veränderung einzustehen. Dabei brauchen wir mutige und starke Menschen heute mehr denn je.


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