Protest aus Routine

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Die große Errungenschaft der Demokratie ist, dass man sich immer dann zu Wort melden kann, wenn man mit bestimmten Entwicklungen nicht einverstanden ist. Findet man dann noch Mitstreiter, die gleiche Ansichten vertreten, kann man besonders effektiv auf seine Sache aufmerksam machen. Dieser Protest war über Jahrzehnte ein wichtiger Bestandteil der politischen Willensbildung in der Bundesrepublik. In den letzten Jahren spüren wir aber, dass sich legitimer Protest gewandelt hat. Immer lautstärker tritt eine Gruppe in den Vordergrund, denen es nicht um Veränderung geht, sondern einzig darum, ihren Unmut kundzutun. Für die Demokratie ist dieser inhaltslose Protest auf Dauer eine Zumutung.

Protest als Erfolgsrezept

„Opposition ist das Salz in der Suppe der Demokratie.“ – Mit diesem Satz bekundete der ehemalige Bundespräsident Walter Scheel seine Loyalität gegenüber unserer Verfassung. Er wusste, dass eine Demokratie nur dann auf Dauer funktioniert, wenn man den Widerspruch nicht nur erträgt, sondern auch wertschätzt. In der Geschichte der Bundesrepublik gibt es zahlreiche Beispiele dafür, dass unsere Gesellschaft am Widerstand einiger gewachsen ist. Es war gut, dass die Studierenden Ende der 1960er gegen die Notstandsgesetze auf die Straße gingen. Sie befürchteten zurecht, dass ein ausgerufener Notstand viel zu leicht zur Abschaffung der Demokratie missbraucht werden könnte.

Aus den Protesten gegen die Atomenergie erwuchs sogar eine Partei, die zwischenzeitlich mehrfach an der Bundesregierung beteiligt war. Und auch die heutige Linkspartei ging aus einer Protestbewegung gegen die unsozialen Hartz-Gesetze hervor. Bis vor einigen Jahren gingen die Menschen immer dann auf die Straße, wenn sie ein besonderes Anliegen hatten. In Demonstrationszügen und Aufmärschen zeigten sie den Regierenden, dass sie mit deren Politik nicht einverstanden waren. Die Politik richtete ihren Kurs danach aus – mal mehr, mal weniger.

1001 Gründe zum Demonstrieren

Mittlerweile hat sich allerdings eine Protestkultur entwickelt, bei der die konkrete Zielsetzung nicht mehr erkennbar ist. Schon bei den Pegida-Demonstrationen war die Zusammensetzung der Proteste einigermaßen diffus. Bei den Hygienedemos des Jahres 2020 und den heutigen Querdenkerveranstaltungen tummeln sich aber Menschen verschiedener Altersgruppen, aus unterschiedlichen sozialen Schichten und mit vielfältigen nationalen Hintergründen.

Während der genaue Zweck der Demo bis vor einiger Zeit eindeutig war, sind die Aufmärsche auch in diesem Punkt mittlerweile absolut heterogen. Im Laufe der Pandemie gingen viele Menschen zunächst gegen die Maskenpflicht auf die Straße. Monate später argwöhnten sie die Einschränkungen gegen Ungeimpfte und schließlich positionierten sie sich gegen die einrichtungsbezogene Impfpflicht. Die Bewegung wuchs mit der Zeit stetig an. Anfang des Jahres zählten die Demonstrationszüge teilweise mehrere Tausend Teilnehmer. Ein beträchtlicher Teil von ihnen waren völlig normale Bürger ohne nennenswerten Hang zu Verschwörungstheorien.

Nach dem russischen Einfall in die Ukraine brachen dann jedoch auch bei den Demonstrationen sämtliche Dämme. Plötzlich fanden auch ukrainische Flaggen Einzug in die Protestmärsche. Völlig unklar war dabei, was die Demonstrierenden an der deutschen Ukrainepolitik störte. Finden sie den Kurs der Bundesregierung zu lasch oder lehnen sie Waffenlieferungen ab? Sind die Flaggen eine Aufforderung zum Handeln oder bekunden sie grundsätzliches Mitgefühl für ein Land, das momentan völkerrechtswidrig überrannt wird?

Auch die gestiegenen Energiepreise treiben viele Menschen auf die Straße. Sie machen sich Sorgen darum, wie sie die nächste Heizkostennachzahlung stemmen sollen. Die Politik liefert darauf bislang kaum vernünftige Antworten. Es fällt dem Konglomerat aus Verschwörungstheoretikern, Rechtsextremen und Hobbyprotestlern darum umso leichter, die Menschen zu ködern.

Von der Realität zur Verschwörungstheorie

Schon zu Pegida-Zeiten stellte man schnell fest, dass viele der Demonstrierenden für logische Argumente überhaupt nicht mehr zugänglich waren. Sie hatten sich in eine fixe Idee verrannt. Ihnen ging es hauptsächlich darum, ihre Wut und ihren Frust zum Ausdruck zu bringen und nicht im klassischen Sinne nach Veränderung zu streben. Weil sie lange nicht gehört wurden, verwiesen sie immer wieder auf eine angeblich eingeschränkte Meinungs- und Versammlungsfreiheit, obwohl ihre personenstarken Aufmärsche das Gegenteil offensichtlich machten.

Sie gingen auf die Straße, weil viele von ihnen das Vertrauen in die Politik vollends verloren hatten. Sie spürten, dass sich ihre Lage kaum nennenswert zum Positiven veränderte, obwohl verschiedene Parteien an der Regierung beteiligt waren. Immer hatten sie das Gefühl, die Regierenden würden Entscheidungen über ihre Köpfe hinweg machen. Tatsächlich hat sich während der Coronapandemie und insbesondere mit Anlaufen der ersten Impfkampagne gezeigt, dass Politik und Wissenschaft verlernt hatten, ihre Entscheidungen zu erklären und populär zu machen.

Für viele Querdenker gilt die Pandemie weiterhin als staatseigene Schikane, welche die Bürgerinnen und Bürger nur kleinhalten soll. Die Existenz des Virus bestreiten diese Menschen. Wissenschaft und Politik haben den Draht zu ihnen verloren. Immerhin ziehen es diese Menschen ernsthaft in Erwägung, die politisch Verantwortlichen könnten eine medizinische Krise konstruieren, um ihre Macht zu festigen.

Politisch heimatlos

Mit Ausnahme der AfD schafft es bislang keine bedeutende Partei, den Frust der Bürgerinnen und Bürger zu kanalisieren. Während die Linke krampfhaft versucht, bei den Protesten zum heißen Herbst die Oberhand zu gewinnen, haben sich die übrigen Parteien damit abgefunden, dass Protest und Widerstand längst Sache der AfD ist – und treiben damit unweigerlich noch mehr Menschen in die Fänge der Rechtspopulisten.

Die Querdenkerszene bietet damit ein Sammelbecken für alle Menschen, die in unterschiedlichem Ausmaß von der Politik enttäuscht sind. Die Initiatoren solcher Demonstrationszüge schaffen eine parallele Gesellschaft, die Platz bietet für all jene, die in der Realität abgehängt wurden. Willkommen ist jeder, den an der aktuellen Politik etwas stört. Das ist besonders gut daran zu erkennen, dass die Themenpalette der Märsche immer bunter wird.

Blinder Frust und routinierter Protest

Ohne die Ziele der Demonstrationen zu hinterfragen, beteiligen sich heute viele Bürgerinnen und Bürger an den sogenannten Spaziergängen. Die Motive der Initiatoren sind ihnen weitgehend egal, es zählen einzig ihre eigenen Beweggründe, auf die Straße zu gehen. Sie sind überzeugt davon, dass sie besonders erfolgreich protestieren – und tun genau das nicht. Sie protestieren nicht, sie leben ihren Frust aus.

Dieser inhaltslose vom Frust getragene Protest ist auf Dauer schädlich für die Demokratie. Viele der Themen, welche die Menschen auf die Straße treiben, sind ernstzunehmende Probleme, die einer weitaus differenzierteren und professionelleren Betrachtung und Organisation bedürfen als die Querdenkerszene es jemals leisten kann. Die Demos treten jedoch seit vielen Monaten auf der Stelle, ohne politisch etwas zu bewirken. Sollte eine Änderung der Verhältnisse jemals das Ziel der Querdenker gewesen sein, haben sie sich lange von dieser Vision verabschiedet. Die Samstagsaufmärsche sind mittlerweile zu einem routinierten Protest geworden und Routine hat keine Durchschlagskraft.


Es ist noch nicht zu spät: Die regierenden Parteien und Teile der Opposition dürfen auf den Frust und den Protest der Bürger nicht ebenso routiniert mit Unverständnis und Ablehnung reagieren. Die Menschen machen zuhauf darauf aufmerksam, dass sie ein Anliegen haben. Es wäre ein unverzeihlicher Fehler, sie der Straße zu überlassen, wo sie Teil eines Durcheinanders aus Frust und Enttäuschung werden und verlernen, wie echte Demokratie funktioniert.

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Der letzte Sargnagel

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Alle Abgeordneten der Linken-Bundestagsfraktion haben ihre Arbeit künftig am Parteiprogramm auszurichten. Das besagt ein Fraktionsbeschluss vom 20. September 2022. Vorspiel der Entscheidung war eine kontroverse Rede der Abgeordneten Sahra Wagenknecht. Seit Jahren dreht sich die Berichterstattung dieser Partei fast ausschließlich um diese Personalie. Doch Sahra Wagenknecht ist nicht etwa überrepräsentiert. Sie ist das einzige, was diese sterbende Partei noch zu bieten hat. Inhaltlich unterscheiden sich die Linken kaum noch von den Grünen. Einige Parteimitglieder arbeiten besonders engagiert daran, die prominente Politikerin aus der Partei zu kicken. Der Preis dafür liegt auf der Hand.

Kampflos die Segel gestrichen

Die Linkspartei war mal die große Hoffnungsträgerin der sozial Benachteiligten. Besonders in den ostdeutschen Bundesländern konnte die Partei dadurch punkten, dass sie die Sorgen vieler Menschen ernstnahm und ihnen ein glaubwürdiges politisches Angebot machte. In Thüringen ist Die Linke sogar stärkste Fraktion und erreichte dort den Charakter einer Volkspartei, was nicht zuletzt mit der Beliebtheit von Ministerpräsident Bodo Ramelow zusammenhängt. Im Westen hingegen hatten es die Linken schon immer schwerer. Trotzdem sind sie zumindest im hessischen Landtag als Fraktion vertreten.

Von diesen Erfolgen ist die Partei momentan Lichtjahre entfernt. Bei vergangen Wahlen gab es massive Wählerwanderungen. Besonders Grüne und AfD bedienten sich bei den demokratischen Sozialisten. Viele andere entschwanden zu den Nichtwählern. Die einstige Protestpartei ist nur noch ein Schatten ihrer selbst. Krawall und Protest verspricht heute die AfD. Diesen Posten haben die Linken den Rechtspopulisten ohne nennenswerte Gegenwehr überlassen, ihn der rechten Partei sogar förmlich aufgedrängt. Es scheint den Genossinnen und Genossen viel mehr zu gefallen, an einzelnen Punkten zwar Kritik zu üben, im Grunde aber doch alles durchzuwinken, was von der Regierung kommt. Bodo Ramelow hat sogar schon das entschiedene Nein der Linken zu Waffenlieferungen infrage gestellt.

Kein Bedarf

Auf eindeutige Signale reagiert die Partei nicht. Obwohl sie bei der letzten Bundestagswahl nur durch Sonderregelungen in Fraktionsstärke in den Bundestag eingezogen ist, verfolgt sie unbeirrt den Kurs, der sie immer mehr in die politische Bedeutungslosigkeit manövriert. Fleißig kopieren die Entscheidungsträger in der Partei die Positionen der Grünen und verpassen ihnen einen sozialen Anstrich. Die Wähler jedoch durchschauen das Spiel und zeigen den Linken sehr direkt, was sie von dem billigen Grünenabklatsch halten: nichts.

Die Minifraktion im Bundestag ist Zeugnis dafür, dass nur sehr wenige Menschen im Land eine solche Partei wollen oder brauchen. Wenn sich am Parteimanagement nicht bald etwas ändert, wird es den Linken ähnlich ergehen wie vor einigen Jahren den Piraten. Zunächst glaubten viele, es würde sich eine neue Partei in der politischen Landschaft etablieren. Doch Pustekuchen! Mit den wenigen originellen Ansätzen verschwand die Partei alsbald wieder in der Versenkung. Ihren großen Markenkern – die Digitalpolitik – sogen die etablierten Parteien mühelos auf.

Heute zu links, morgen zu rechts

Der Abwärtskurs der Linken ist kein Phänomen der letzten Monate. Seit Jahren mischen sie ganz vorne mit, wenn es darum geht, die eigene Wählerschaft zu verprellen. Dass die Partei überhaupt noch im Gespräch ist, verdankt sie einer einzigen Persönlichkeit: Sahra Wagenknecht. Die promovierte Volkswirtin ist seit Jahren das Aushängeschild ihrer Partei. Schon lange übersteigt ihre Popularität die der Linken.

Wagenknecht ist als Politikerin von jeher umstritten. Schon in den 1990ern fiel sie dadurch auf, dass sie öffentlich den Niedergang der DDR bedauerte und sich in dieses System zurückwünschte. Bei der Elefantenrunde nach der Bundestagswahl 2005 warf man dem damaligen Linken-Parteichef Lothar Bisky vor, mit Sahra Wagenknecht eine Persönlichkeit zu dulden, die zu weit links stünde. Heute freilich muss sich Wagenknecht routinemäßig anhören, ihre Positionen seien rechts. Mit ihren jüngsten Äußerungen zur Coronaimpfung und zu den Wirtschaftssanktionen gegen Russland hat sich die Politikerin erneut eine Menge Kritik eingehandelt.

Gesprächsthema Nr. 1

Es ist trotzdem ein offenes Geheimnis, dass viele Wählerinnen und Wähler nur wegen Sahra Wagenknecht links wählen. Es ist daher umso unverständlicher, warum die Linken eine derartige Schmutzkampagne gegen ihr wichtigstes Mitglied führen. Regelmäßig ist von Posts und Tweets anderer Bundestags- und Landtagsabgeordneter der Partei zu lesen, in denen Wagenknecht unverblümt zum Parteiaustritt aufgefordert wird. Zugegeben hat Die Linke nicht mehr viel zu bieten außer des Streits mit der kontroversen Abgeordneten.

Ihr Überleben hat die Partei in erster Linie Sahra Wagenknecht zu verdanken. Auch die Medien scheinen momentan kein Interesse am Sterben dieser Partei zu haben: Sie heizen den Zank in der Linken weiter an, indem sie stellenweise wichtige Zusammenhänge unterschlagen oder sogar bewusst falsch darstellen. Gleich mehrere Berichterstattungen zum Parteiaustritt des ehemaligen Bundestagsabgeordneten Fabio de Masi stellten seine Entscheidung in eine Reihe mit Parteiaustritten wie beispielsweise die des Wagenkencht-Kritikers Ulrich Schneider. Tatsächlich war de Masi schlicht die innerparteilichen Auseinandersetzungen leid und wollte sich nicht für ein Lager entscheiden.

Krise mit Tradition

Mit ihrem derzeitigen Kurs stehen die Linken vor einer entscheidenden Weggabelung. Sie können mit Wagenknecht weitermachen wie bisher. Dann würden sie mit etwa 2 bis 3 Prozent bei der nächsten Bundestagswahl endgültig aus dem Parlament fliegen. Oder sie machen ohne Wagenknecht weiter wie bisher. Dann würden sie bei der nächsten Bundestagswahl mit etwa 1 Prozent unter die „Sonstigen“ fallen.

Je länger die Linken sich gegenseitig zerfleischen und in ihren Wahlprogrammen bei den Grünen abschreiben, desto schwieriger wird es für die Partei werden, wieder als authentische und ernstzunehmende politische Kraft wahrgenommen zu werden. Schon einmal stand die damalige PDS kurz vor dem Abgrund. Bei der Bundestagswahl 2002 hielten ihnen Gesine Lötzsch und Petra Pau im Bundestag die Stange – zur Abgeordnetengruppe hatte es bei der vorausgegangenen Bundestagswahl nicht gereicht. Dann kam die rot-grüne Regierung auf die Idee mit Hartz-IV. In der Bevölkerung brodelte es – Widerstand machte sich breit.

Die Linken verstanden es damals hervorragend, den Protest gegen das umstrittene Gesetz aufzufangen und zu kanalisieren. 2005 verdoppelten sie ihr vorheriges Wahlergebnis und legten vier Jahre später noch einmal ein paar Prozentpunkte drauf. Zugetraut hatte es dieser sterbenden Partei damals niemand. Die PDS öffnete sich stattdessen und kooperierte mit der Wahlalternative Soziale Gerechtigkeit, zwei Jahre später erfolgte die Fusionierung.

Eine neue Chance?

Auch heute ist die soziale Lage im Land wieder äußerst angespannt. Die explodierenden Energie- und Heizkosten machen den Menschen Angst. Viele wissen schon heute nicht mehr, wie sie über die Runden kommen sollen. Den Griff zum Heizthermostat zögern viele möglichst lange hinaus. Die Linke hat bereits zu Widerstand und Demonstrationen aufgerufen.

Die nächsten Wochen und Monate werden zeigen, wie sich dieses Engagement auf den Erfolg der Partei auswirken wird. Momentan hadern die Linken noch damit, dass auch die AfD zu Protesten aufruft. Einen großen Teil der Debatte hat man bereits unreflektiert der extremen Rechten überlassen. Die Linke muss sich wie bereits vor knapp zwanzig Jahren ehrlichmachen und sich das Feld der sozialen Ängste und Nöte zurückerobern. Ansonsten bewahrt sie auch bald der Dauerstreit mit Sahra Wagenknecht nicht mehr vor der Bedeutungslosigkeit.


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Wenn die Mehrheit schweigt

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Die Stimmung ist am Brodeln. Nachdem Russland den Gashahn zugedreht hat, nehmen die Energiepreise in Deutschland nie dagewesene Ausmaße an. Viele Familien wissen schon heute nicht mehr, wie sie die Kosten stemmen sollen. Bonbons wie die Energiepreispauschale helfen ihnen kaum weiter; besonders nicht, wenn ihnen das Geld durch die Gasumlage wieder weggenommen wird. Trotzdem bleiben die meisten Bürgerinnen und Bürger bislang ruhig. Auch das Unruhepotenzial des heißen Herbstes, wie ihn AfD und Linke fordern, schätzen Experten als gering ein. Viele Menschen ziehen sich lieber resigniert zurück, anstatt lauthals zu protestieren. Auf Dauer ist dieser Demokratieverdruss ein echtes Problem für unser Land.

Ein eisiger Winter

Die kalte Jahreszeit steht in den Startlöchern. Nach einem langen und trockenen Sommer mit neuen wahnwitzigen Hitzerekorden, verheerenden Waldbränden und verkümmerten Flussläufen hält allmählich der Herbst Einzug. Das Laub an den Bäumen verfärbt sich, die Tage werden kürzer und die Temperaturen sinken spürbar. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis in deutschen Wohnungen die Heizungen aufgedreht werden.

Jeder im Land weiß, dass diese Selbstverständlichkeit in den kommenden Monaten und Jahren ein teurer Luxus sein wird. Die Gaspreise schnellen seit dem russischen Angriff auf die Ukraine rasant in die Höhe. Die seither gegen Russland gerichtete Embargopolitik war der letzte Sargnagel der deutschen Energieversorgung. Putins Antwort folgte prompt: Nord Stream 1 war einmal. Die Pipeline versorgt uns seit wenigen Tagen nicht mehr mit dem dringend benötigten Gas. Viele deutsche Haushalte schauen in die Röhre. Experten warnen seit Monaten vor einem Preisanstieg, der einer durchschnittlichen Familie im kommenden Frühjahr horrende Nachzahlungen im deutlichen vierstelligen Bereich bescheren wird.

Die Regierungskoalition hält währenddessen an den Wirtschaftssanktionen gegen den Aggressor fest. Mit der geplanten Gasumlage setzte Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) kürzlich noch eins drauf: Der deutsche Steuerzahler soll die erwarteten Verluste der Energiekonzerne aus eigener Tasche ausgleichen. Die Bürgerinnen und Bürger bluten damit für eine fehlgeleitete Politik – really?! Again?

Potenzial zum Umsturz?

Während die größte Oppositionsfraktion im Bundestag angesichts dieser himmelschreienden Ungerechtigkeit die Füße stillhält, kommt besonders aus den Reihen von AfD und Linken heftige Kritik. Sie beschwören die Bürgerinnen und Bürger, sich diese Entwicklung nicht bieten zu lassen und proklamieren in Eigenregie einen „heißen Herbst“, mit dem sie der Regierung einheizen wollen.

Die Phrase der beiden kleineren Oppositionsparteien zieht weite Kreise und ruft sogar erfahrene Politikwissenschaftler auf den Plan, die sich mit dem Szenario anhaltender Proteste im Herbst auseinandergesetzt haben. Mehrheitlich kommen sie zu der Einschätzung, dass von dem Aufruf zum Widerstand kein wesentliches Potenzial für staatsgefährdende Unruhen ausginge.

Für den Moment mögen die Expertinnen und Experten recht behalten. Wie sich die Lage im Laufe der nächsten Monate entwickelt, wenn tatsächlich immer mehr Menschen ihre Wohnungen beheizen müssen, ist hingegen unklar. Fakt ist allerdings, dass sich nur wenige Menschen vorstellen können, sich Protesten anzuschließen, die von AfD oder Linken initiiert wurden. Der mit Spannung erwartete Auftakt der Protestserie am 5. September jedenfalls war ein Flop und ging sang- und klanglos vorüber.

Stiller Protest

Es ist aber nicht alles Friede, Freude, Eierkuchen, wenn sich die Menschen entschließen, zu Hause zu bleiben, anstatt ihren Unmut auf die Straße zu tragen. Es ist kurzsichtig und naiv, wenn man fehlenden Protest mit gleißender Zustimmung verwechselt. Dass viele Menschen im Land schon lange nicht mehr mit der politischen Situation zufrieden sind, zeigen die Wahlbeteiligungen der letzten Jahre. Besonders auf Landes- und Kommunalebene sind die Quoten mittlerweile so erbärmlich, dass es an Realitätsverweigerung grenzt, wenn die gewählten Abgeordneten von irgendwelchen herbeikonstruierten Mehrheiten in der Bevölkerung sprechen. In manchen Kreisen bleiben mehr Menschen den Urnen fern, als sich an den Wahlen beteiligen. Auch sie üben sich nicht im lautstarken Protest, sondern in stiller Resignation.

Ganz offensichtlich glaubt ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung nicht mehr daran, mit seiner Stimme etwas bewegen zu können. Das liegt zum einen daran, dass wesentliche direktdemokratische Beteiligungsformate auf Bundesebene fehlen. Zum anderen erleben viele Menschen schon zu lange, dass eine Politik betrieben wird, die ganz sicher nicht in ihrem Interesse ist. Ihren Rückzug ins Nichtwählerlager kann man ihnen entweder selbstgerecht vorhalten oder man ändert den politischen Kurs grundlegend.

Wir bewegen uns in Richtung einer politischen Ära, in der die Demokratie nur noch auf dem Papier existiert. Immer mehr Menschen finden keine politische Repräsentanz mehr – nicht, weil sie nicht wählen gehen, sondern weil das politische Angebot fehlt. Die Grünen haben bei der letzten Bundestagswahl einen herausragenden Erfolg erreicht. So stark wie 2021 haben sie bei noch keiner Bundestagswahl abgeschnitten. Das liegt aber nicht daran, dass überragend viele Menschen sie gewählt haben. Es liegt daran, dass die Partei von Menschen gewählt wird, die überdurchschnittlich oft zur Wahl gehen. Als Reichenpartei machen die Grünen inzwischen der FDP ernsthaft Konkurrenz.

Zwischen Schuldzurufen und Selbstinszenierung

Es gibt inzwischen Szenen im Bundestag, da bleibt einem fast die Spucke weg. Auf der Tagesordnung stehen Punkte, die durchaus für viele Menschen im Land relevant sind. Der Umgang der Abgeordneten mit diesen wichtigen Anliegen ist bisweilen aber unterirdisch. Anstatt sachliche Argumente auszutauschen und zur Sache zu sprechen, ist es inzwischen Sport geworden, sich die Versäumnisse der letzten Legislaturperioden um die Ohren zu hauen. Wir sind alle froh, dass die Union nicht mehr regiert. Man kann seine Redezeit aber durchaus schlauer füllen als mit den Defiziten der Regierungszeit Merkel.

Getoppt wird das nur dadurch, wenn manche Abgeordnete einen besonders woken Kommentar ablassen und mit Pfiffen und Grölen aus den eigenen Reihen dafür belohnt werden. Die Damen und Herren Volksvertreter vergessen offenbar immer häufiger, dass sie sich nicht auf einem Rockkonzert befinden, sondern in der Herzkammer der Demokratie.

Ein neues Weimar?

Ihre erprobte Selbstbeweihräucherung macht viele Abgeordnete blind für die wahren Nöte und Sorgen der Bürgerinnen und Bürger. Das frustriert viele von ihnen und erzeugt eine Politik- und Demokratieverdrossenheit, die weitaus gefährlicher für unsere Verfassung ist als aktiver Protest an Montagen. Einer Republik, in der immer weniger Menschen ihre Unzufriedenheit artikulieren, obwohl immer klarer gegen einen Teil von ihnen regiert wird, der laufen mit der Zeit die Demokraten davon. Das hatte in der deutschen Geschichte schon einmal verheerende Folgen.

Auch die Weimarer Republik scheiterte nicht in erster Linie daran, dass die Nazis politisch Andersdenkende angriffen und die Jüdinnen und Juden zu Staatsfeinden Nr. 1 erklärten. Die Putschversuche in den Anfangsjahren von Weimar schädigten die junge Demokratie nicht nachhaltig. Die erste deutsche Republik scheiterte daran, dass zu viele Menschen resigniert beiseitetraten und den Kameraden von SS und SA freie Hand ließen. Sie taten es, weil sie mit der bisherigen Volksvertretung nicht zufrieden waren und innerhalb weniger Jahre zu oft von den Herrschenden enttäuscht worden waren. Zugegeben spielten auch damals äußere Einflüsse wie der Friedensvertrag von Versailles und die Hyperinflation in den 1920ern eine nicht unwesentliche Rolle. Viel entscheidender war aber der Umgang der Regierenden mit diesen Problemen und schon in der Zwischenkriegszeit fanden die Abgeordneten im Parlament keine passenden Antworten auf diese Fragen.

Die Lage vor hundert Jahren war sicher eine andere als heute. Es gibt aber Ähnlichkeiten, die zumindest zum Nachdenken anregen. Auch heute erleben wir immer häufiger extremistische Gewalttaten, welche die übergroße Mehrheit der Bürger fassungslos zurücklassen. Weder der Angriff auf die Synagoge in Halle noch der vereinzelte Protest gegen hohe Energiepreise hat bislang zum Umsturz des Systems geführt. Der Rückhalt für die aktuelle Politik schwindet aber zusehends, was es Extremisten auch 2022 immer leichter macht, die Verfassung zu unterwandern.


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