Die Putinversteher

Lesedauer: 6 Minuten

Man wird sie nicht mehr los: Querdenker, Gutmenschen, Spaziergänger – und seit neuestem Putinversteher. Einst geschätzte und respektierte Menschen mit teilweise unkonventionellen, aber erfrischenden Meinungen, sind heute das pure Böse. Sie führen nichts geringeres im Schilde als die Unterminierung und Zersetzung der bestehenden Gesellschaft. Gegen sie ist mit aller Härte vorzugehen, Verständnis ist Schwäche. Stück für Stück wird durch die Dämonisierung Andersdenkender die Fähigkeit zu Diplomatie und Dialog abgebaut. Das kommt außenpolitisch zum Tragen, ist aber auch weit in unsere Gesellschaft vorgedrungen.

Es gibt heute zwei Sorten von Pazifisten. Die einen möchten Frieden durch Waffengewalt herstellen, die anderen wollen Waffen lieber heute als morgen abschaffen. Die einen sind pragmatische Weltverbesserer, die anderen naive Putintrolle. Genau so gibt es heute zwei Sorten von Spaziergängern. Die einen erfreuen sich am Grün der Landschaft und der frischen Luft, die anderen ziehen pöbelnd und skandierend durch die Straßen. Und es gibt heute zwei Arten von Linken. Die einen heißen Anton Hofreiter, die anderen Sahra Wagenknecht.

Vom Exot zum Dämon

Die Spaltung der Gesellschaft ist weit vorangeschritten und drückt sich immer deutlicher durch Kampfbegriffe und politisch aufgeladene Vokabeln aus. In manchen Fällen gibt es dabei eindeutige Gewinner: Der früher zwar belächelte, aber dennoch respektable und erfrischende Querdenker ist heute nichts weiter als ein versponnener Schwurbler, der ohne Frage von der extremen Rechten unterwandert ist. All diese Entkernungen und Neudeutungen vormals unverfänglicher Begrifflichkeiten verfolgen ein Ziel. Sie ziehen eine dicke Linie zwischen sich und Andersdenkende und versuchen, diese möglichst komplett aus dem akzeptierten Diskurs auszuschließen.

Neuerster Clou in dieser Serie an Umdeutung und Verzerrung: der mittlerweile inflationär verwendete Begriff „Putinversteher“.  Diese neuartige Wortschöpfung hat im Prinzip nur eine einzige Bedeutung. Sie ist ein Sammelbegriff für alle Menschen, die eine diplomatische Lösung des Kriegs in der Ukraine einem militärischen Ansatz vorziehen. Ihnen wird pauschal unterstellt, dass sie Verständnis für die Motive Putins haben oder sein aggressives Gebaren sogar unterstützen.

Moralische Opfer

Damit überhohen die Meinungsgeber aber einen Teilaspekt dieses Begriffs und lassen einen anderen völlig außer Acht. Sie beschränken sich in ihrer zwanghaft anmutenden Interpretation auf die emotionale Ebene des Begriffs. Ein „Versteher“ zeigt Verständnis für jemanden oder etwas und identifiziert sich mit den zugrundeliegenden Vorstellungen und Werten. Unbeleuchtet lassen sie hingegen die logische Ebene. Wer etwas versteht, vollbringt die intellektuelle Leistung, etwas zu begreifen und zu durchschauen.

Dem Begriff „Putinversteher“ bleibt damit nichts weiter als eine moralische Interpretation. Es geht nicht ums Begreifen, es geht um Verständnis und das Gutheißen angeblich größenwahnsinniger nationaler Expansionspläne. Jedem, der nur im Entferntesten daran denkt, der russischen Aggression mit Diplomatie und Besonnenheit zu begegnen, wird sogleich mit der moralischen Keule niedergerungen. So ging es dem Papst und so ging es Rolf Mützenich (SPD).

Wer recht hat, gewinnt

Das Ausblenden einer logischen und sachlichen Ebene macht derweil Schule. Längst steckt hinter der Umdeutung von Begriffen ein perfides System. Immer mehr und immer dreister wird jeglicher Dialog unterdrückt. Es geht immer weniger darum, ins Gespräch zu kommen und sich über konträre Meinungen auszutauschen. Das Rechthaben und Gewinnen steht an erster Stelle. Begriffe wie Querdenker, Putinversteher und linksgrüne Ökosozialisten machen die Gegenseite verächtlich und erhöhen die eigene moralische Position. Es fühlt sich ungemein gut an, auf der richtigen Seite zu stehen. Warum nicht also gleich alle anderen mit Dreck bewerfen und rhetorisch zerstören?

Es ist extrem schwierig, gegen dieses moralische Cheaten anzukommen. Viele haben das während der Pandemie gemerkt. Wer sich nicht impfen lassen wollte, wurde wie ein Aussätziger behandelt. Die medizinische Bedrohung, die angeblich von Ungeimpften ausging, war dabei nur ein Vehikel, um die Ausgrenzung Andersdenkender zu legitimieren. Eine sachliche Diskussion über unterschiedliche Meinungen war so gut wie unmöglich. Der Ungeimpfte war der Böse, egal wie logisch er seine Beweggründe darlegen konnte. Bestenfalls wurde er geduldet.

Wahre Putinversteher

Ähnlich verhält es sich heute mit denen, die nicht an den ukrainischen Endsieg glauben. Die Debatte um Taurus ist dabei eine Nebelkerze: Sie simuliert eine kritische Debatte über Waffenlieferungen, wobei die grundsätzliche Entscheidung längst feststeht. Strittig sind einzig Detailfragen. Verständnis für den Aggressor wird nicht geduldet. Das muss die Bundesregierung immer wieder betonen. Denn verstanden hat sie ihn schon lange.

Sie versteht ihn seit dem 24. Februar 2022. In dem Moment, als Putin die Ukraine angriff, war ihr alles klar. Augenblicklich wusste sie, was der russische Diktator im Schilde führt. Wozu also eine kritische Debatte, wenn einem die Wahrheit förmlich ins Gesicht springt? Die deutsche Regierung weiß genau, dass es Putin nicht nur um die Ukraine geht. Er will ganz Europa mit seinem Terror überziehen. Ihm schwebt ein russisches Europa vor und der unliebsame Nachbar ist sein erstes Opfer.  Wenn wir ihm jetzt nicht mit aller Gewalt Einhalt gebieten, verleibt er sich bald Ungarn, Polen und Berlin ein.

Zum Glück ist ihm der Westen immer einen Schritt voraus. Es ist einzig dem strategischen Kalkül der NATO zu verdanken, dass sein Feldzug so schnell zum Stillstand kam. Dabei weiß das Bündnis die höheren Mächte auf seiner Seite. Diese haben den westlichen Regierungen nämlich eingeflüstert, dass der irre Putin auf keinen Fall verhandeln will. Durch dieses Wissen konnten sinnlose Gespräche und ein Gesichtsverlust des Westens bislang zuverlässig abgewendet werden. Es steht völlig außer Frage: Die größten Putinversteher sitzen in Washington, Berlin, Paris und London.

Sie wissen genau, dass es jedes Opfer wert ist, wenn man Russland ruinieren will. Es ist egal, wenn Russland als Reaktion auf diesen Kampf den Gashahn zudreht. Es ist unerheblich, wenn die Energiepreise ins Unermessliche steigen. Und es macht nichts, wenn US-amerikanisches Fracking-Gas eine Versündigung am Klima ist. Es muss unter allen Umständen eines verhindert werden: Unrecht zu haben.

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Die Ära der Traumtänzer

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Ein Ziel vor Augen zu haben, ist eine wichtige Sache. Die meisten treibt eine solche Vision an. Finden sich dann noch überzeugte Mitstreiter, ist das eine unglaublich aufbauende und motivierende Erfahrung. Ihr wesentliches Ziel haben heute aber viele aus den Augen verloren. Immer wichtiger wird es stattdessen, zu bestimmten Themen die richtige Haltung und Einstellung zu haben. Dass am Ende des Weges ein glorreiches Ziel steht, wird immer mehr zur Nebensache, ebenso wie der Umstand, dass am Wegesrand viele mögliche Weggefährten stehen, die nur darauf warten, mitgenommen zu werden. Ihre ausgestreckte Hand wird meist ausgeschlagen, weil ihre moralischen Westen nicht so einwandfrei strahlen wie die eigene. Viele Allianzen und Chancen bleiben so ungenutzt.

Ein gutes Gefühl

Wir dürfen keine Energie von Menschenrechtsverbrechern beziehen. Wir müssen Putin ruinieren. Berlin soll schon bis 2030 klimaneutral sein. All diese Forderungen und Appelle will man intuitiv mit einem klaren Ja bekräftigen. Lauscht man diesen Leitmotiven, hat man ein gutes Bauchgefühl. Es fühlt sich gut an, zu den Guten zu gehören.

Ehrenwerte Motive zu haben, reicht in der Realität allerdings nicht aus. Nur weil man erkannt hat, dass Putin ein Menschenrechtsverbrecher ist und man das klar benennt, ist der russische Aggressor kein bisschen harmloser geworden und die Ukraine kein Stück sicherer. Vieles kann man sich wünschen, aber eine Menge davon wird nicht eintreten. Ein militärischer Sieg über Russland gehört dazu.

Moralisches Wunschdenken

Die Verfechter von Waffenlieferungen, beschleunigter Klimaneutralität und Gendersternchen haben zwei grundlegende Dinge gemeinsam: Es handelt sich meist um die gleichen Personen und es ist schwer, ihren Intentionen etwas entgegenzusetzen. Das liegt daran, dass ihre Ideen und Vorstellungen wirklich nicht schlecht sind. Fast jeder wünscht sich ein friedliches Europa, niemand will diskriminiert werden und alle Menschen wollen eine Welt ohne Klimakatastrophen.

Trotzdem sind es die konkreten Maßnahmen, die Zweifel an der Ernsthaftigkeit dieser Menschen säen. Das Ziel verlieren sie viel zu häufig aus den Augen und ersetzen es durch schwulstige und realitätsferne Wunschvorstellungen, für welche die Zeit noch nicht reif ist. Regelmäßig machen sie den dritten vor dem ersten Schritt.

Einstellungssache

Das geht so weit, dass sie ihre Vorstellungen einer idealen Welt über alles stellen und sich mit nichts weniger zufriedengeben. Die Einstellung zu bestimmten Themen ist für sie wichtiger als die Erringung irgendwelcher Teilerfolge. Sie haben Codes und Indizes generiert, die festlegen, wie treu jemand auf Linie ist. Weicht er zu oft oder zu stark von diesen Vorgaben ab, wird er ausgeschlossen und diffamiert.

Es ist dabei völlig unerheblich, ob die ausgeschlossene Person in Wahrheit für die gleichen Ziele kämpft wie die gefühlte Mehrheitsgesellschaft. Wer mit Impfunwilligen in den Dialog treten will oder die zentrale Rolle der NATO beim eskalierenden Konflikt zwischen Russland und der Ukraine anspricht, kann nicht mit ganzem Herzen ein guter Mensch sein oder sich voll und ganz einer gerechten und diskriminierungsfreien Welt verschrieben haben. Die unbefleckte Moral verbietet jegliche Zusammenarbeit mit solchen Menschen, auch wenn sie noch so oft sagen, dass Putin völkerrechtswidrig die Ukraine angegriffen hat.

Auf diese Weise entsteht ein Klima des Gegeneinanders. Jeder normaldenkende Mensch erkennt Putin als einen Verbrecher, der schon für tausende von Morden verantwortlich ist. Er kann diese Verbrechen tagtäglich begehen, weil er sich in einer sehr günstigen Position befindet. Er ist das Oberhaupt des größten Lands der Erde und verfügt über Atomwaffen, mit denen er den Planeten vernichten könnte. Es reicht nicht aus, ihn für diese Offensichtlichkeiten auszuschimpfen und astronomische Summen in einen Krieg zu investieren, dessen Ende noch lange auf sich warten lassen wird.

An einem Strang

Es wäre deutlich effektiver, wenn die Guten sich zusammenschlössen und gemeinsam gegen den russischen Aggressor vorgingen. Befürworter und Gegner von Waffenlieferungen an die Ukraine eint in sehr großer Mehrheit das Ziel, dass sie das Sterben in der Ukraine beenden wollen. Beide Seiten müssen das erkennen und aufeinander zugehen. Diffamierungskampagnen verhindern diese Einigkeit und lassen und schwach dastehen.

Demokratie kann nur gemeinsam gelingen. Sie ist dann besonders schlagkräftig, wenn die Menschen an einem Strang ziehen. Momentan ist das nicht der Fall. Die Wirtschaftssanktionen gegen Russland und die militärische Unterstützung der Ukraine haben uns einem Frieden keinen Schritt nähergebracht. Stattdessen haben wir uns entzweien lassen und kämpfen gegeneinander. Putin lacht sich währenddessen halbtot über uns.

Fröhliches Kriegskabarett

Solange es salonfähig ist, Menschen mit abweichender Meinung das Allerschlimmste zu unterstellen, sind wir verletzlich und angreifbar. Nicht alle Menschen lassen sich von moralgeleiteter Politik gängeln und bevormunden. Die neue Friedenbewegung im Stile von Alice Schwarzer und Sarah Wagenknecht sind daher die zwangsläufige Folge einer Wertepolitik, die viele Menschen vor den Kopf stößt und sie von sich wegtreibt.

Am 25. Februar war nicht das Sprachrohr Moskaus zu hören. Menschen sind auf die Straße gegangen, weil sie sich einerseits Frieden in Europa wünschen und sich andererseits politisch nicht repräsentiert fühlen. Viel eher im Sinne Putins agiert eine Bundesregierung, welche diese Menschen für ihr Ansinnen verlacht und an den Pranger stellt. Damit kommt sie Putin letzten Endes viel stärker entgegen, weil sie die Bundesrepublik zum Kriegskabarett des russischen Präsidenten macht.

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Rolle rückwärts

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Europa ging es selten so schlecht wie heute. Der Rückhalt für die EU in der Bevölkerung schwindet, Corona machte Grenzkontrollen wieder nötig und selbst der Krieg zeigt ein weiteres Mal seine hässliche Fratze. An vieles in Europa hatte man sich gewöhnt, doch der Krisenprobe hält der viel gepriesene europäische Zusammenhalt immer weniger stand. Es wird Zeit, den Unterschied zwischen Traum und Realität zu begreifen.

Europa kommt seit Jahren nicht zur Ruhe. Eine Krise folgt dicht auf die andere. Die Finanz- und Eurokrise ging fast nahtlos über in eine Welle des Protests gegen eine Stärkung der EU gegenüber den Nationalstaaten. Die Flüchtlingskrise befeuerte diesen Unmut weiter und spielte rechten Kräften in die Hände. Auch die Klimakrise gönnt der EU keine Verschnaufpause – zu groß sind die Herausforderungen, die gesamteuropäisch angegangen werden müssen. Seit Anfang des Jahres tobt in Europa außerdem ein Krieg, wie die Bürgerinnen und Bürger ihn seit Jahrzehnten nicht erlebt haben. Der Trend geht deutlich abwärts.

Schwere Zeiten

Die Signale aus den einzelnen Mitgliedsländern gegenüber der EU lassen mitunter nichts Gutes hoffen. Seit der Griechenlandkrise vor etwa zehn Jahren stehen Austrittsdrohungen quasi an der Tagesordnung. Besonders die südeuropäischen Länder zählen zu den Wackelkandidaten. Nach zähen Verhandlungen sind die Briten seit 2020 offiziell nicht mehr Teil der EU.

In fast allen Ländern Europas feiern antieuropäische Parteien und Bewegungen seit Jahren einen Erfolg nach dem anderen. Pegida und die AfD sind keine rein deutschen Phänomene – in anderen Ländern heißen sie einfach anders. Immer mehr Menschen scheinen der EU verlorenzugehen. Ungarn fällt seit langem dadurch negativ auf, dass sein Regierungschef Orbán einen EU-Beschluss nach dem anderen blockiert – regelrecht aus Prinzip. Im eigenen Land und darüber hinaus wird er dafür gefeiert.

Schwieriger Kompromiss

Europa ist gespalten wie nie zuvor. Nur ein Idiot würde das in Frage stellen. Dabei war die europäische Einheit einst einer der Grundpfeiler der Staatengemeinschaft. Von einer Einigkeit unter den Völkern ist die EU aber meilenweit entfernt. Die Interessen der einzelnen Länder stehen teilweise in diametralem Widerspruch zueinander. Unter solchen Voraussetzungen ist es in weniger turbulenten Zeiten schon schwierig genug, einen Kompromiss zu finden, mit dem jeder leben kann.

Als eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union heben viele die Freizügigkeit hervor. Bürger aus einem Land können ohne langwierige Grenzkontrollen in ein anderes Land reisen. Seit Corona ist auch das nicht mehr so leicht möglich. Um das Virus einzudämmen, wurden alte Grenzen wieder hochgezogen, Ein- und Ausreisen dauerten erheblich länger. Covid-19 brachte eine weitere Garantie der EU zu Fall.

Wie im 20. Jahrhundert

Die schwerste Stunde in der Geschichte der EU erleben wir aber seit dem 24. Februar. Noch kurze Zeit davor brüsteten sich viele mit der vermeintlichen Gewissheit, die EU sei das größte Friedensprojekt in der Geschichte. Putin hat diese Hoffnungen zunichtegemacht. Mit seinem völkerrechtswidrigen Einmarsch in das Nachbarland und die täglichen unmenschlichen Verbrechen hat er den europäischen Traum hart vergewaltigt.

Immer weniger erinnert an die Visionen der Gründungsmütter und -väter der Europäischen Union. Schaut man heute nach Europa, hat man eher das Gefühl, man betrachte den Kontinenten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Krieg ist für viele Bürgerinnen und Bürger Europas inzwischen wieder traurige Realität. Angesichts der Bedrohung durch Russland wünschte sich der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko jüngst sogar den Eisernen Vorhang wieder. Europa machte an diesem Tag drei weitere Schritte zurück.

USA 2.0?

Der Rückhalt der EU unter den Bürgerinnen und Bürgern ist ebenfalls seit Jahren rückläufig. Viele Menschen haben heute nicht mehr das Gefühl, genau so Europäer zu sein wie die Bürgerinnen und Bürger aus anderen Ländern. Mit Europa verbinden sie nichts weiter als den Kontinent, auf dem sie leben. Gemeinsame europäische Werte und eine europaweite Solidarität – Fehlanzeige.

Die EU hat in ihrer jetzigen Verfassung nicht das Potenzial zu den USA 2.0. Eine Vielzahl an unterschiedlichen Sprachen, verschiedene kulturelle Hintergründe und eine fehlende gemeinsame Geschichte legen der Idee der europäischen Einheit so manchen Stein in den Weg. Während sich die US-Amerikaner immer als Mitglieder in einem übergroßen Staatenbund verstanden haben, sind viele Europäer von diesem Hochgefühl weit entfernt. Sie kommen aus einer Generation des Gegeneinanders, bestenfalls des Miteinanders, aber nicht des Füreinanders. Jahrhunderte des Kriegs und der Zerstörung lassen sich nicht einfach vom Tisch wischen.

Die vielbeschworene Währungsunion gaukelte den Menschen jahrelang eine europäische Verbundenheit vor. Das gemeinsame Geld schuf eine Zeit lang eine regelrechte EU-Euphorie. Viel zu gerne vergaß man, dass Geld eine der geeignetsten Ursachen für Streit ist.

So kam es dann auch. Nicht nur aus finanzieller Sicht fühlen sich heute viele Menschen in der EU bevormundet. Sie haben das Gefühl, dass eine Gruppe einflussreicher Nationen den Ton angibt und ihnen Entscheidungen aufbürdet, die ganz sicher nicht in ihrem Interesse sind. Die überzeugten Europäerinnen und Europäer können solchen Strömungen nicht das Wasser abgraben. Sie leben inzwischen einen Traum, aus dem viele bereits erwacht sind.

Falsches Tempo

Das europäische Haus ist auf einem Fundament gebaut, dem man nicht genügend Zeit gab zu trocknen. Viele Beschlüsse kamen zu schnell und überforderten die Menschen. Das kollektive Trauma des Zweiten Weltkriegs spielt heute kaum noch eine Rolle. Die meisten Zeitzeugen von damals sind zwischenzeitlich tot. Immer mehr Menschen fällt es schwer, mit dem Tempo der Entwicklungen schrittzuhalten. Sie sehnen sich nicht zufällig nach der guten alten Zeit. Sie haben das Gefühl, dass ihre Stimmen früher mehr Gewicht hatten und die Entwicklungen entschiedener kontrollieren konnten.

Es ist an der Zeit einzusehen, dass der europäische Integrationsprozess länger braucht, als man bisher dachte. Die Konsequenz daraus darf nicht sein, ihn mit aller Macht voranzutreiben. Europa muss für die Menschen dasein und nicht andersrum. Wer hier zu sehr auf die Tube drückt, gefährdet den europäischen Zusammenhalt. Einzelne Nationen denken über einen Austritt aus der EU nach, ein Land ist schon raus. Die extreme Rechte erlebt ihre Renaissance und in Europa tobt ein verheerender Krieg. Das Rad dreht sich zurück.

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