Rolle rückwärts

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Europa ging es selten so schlecht wie heute. Der Rückhalt für die EU in der Bevölkerung schwindet, Corona machte Grenzkontrollen wieder nötig und selbst der Krieg zeigt ein weiteres Mal seine hässliche Fratze. An vieles in Europa hatte man sich gewöhnt, doch der Krisenprobe hält der viel gepriesene europäische Zusammenhalt immer weniger stand. Es wird Zeit, den Unterschied zwischen Traum und Realität zu begreifen.

Europa kommt seit Jahren nicht zur Ruhe. Eine Krise folgt dicht auf die andere. Die Finanz- und Eurokrise ging fast nahtlos über in eine Welle des Protests gegen eine Stärkung der EU gegenüber den Nationalstaaten. Die Flüchtlingskrise befeuerte diesen Unmut weiter und spielte rechten Kräften in die Hände. Auch die Klimakrise gönnt der EU keine Verschnaufpause – zu groß sind die Herausforderungen, die gesamteuropäisch angegangen werden müssen. Seit Anfang des Jahres tobt in Europa außerdem ein Krieg, wie die Bürgerinnen und Bürger ihn seit Jahrzehnten nicht erlebt haben. Der Trend geht deutlich abwärts.

Schwere Zeiten

Die Signale aus den einzelnen Mitgliedsländern gegenüber der EU lassen mitunter nichts Gutes hoffen. Seit der Griechenlandkrise vor etwa zehn Jahren stehen Austrittsdrohungen quasi an der Tagesordnung. Besonders die südeuropäischen Länder zählen zu den Wackelkandidaten. Nach zähen Verhandlungen sind die Briten seit 2020 offiziell nicht mehr Teil der EU.

In fast allen Ländern Europas feiern antieuropäische Parteien und Bewegungen seit Jahren einen Erfolg nach dem anderen. Pegida und die AfD sind keine rein deutschen Phänomene – in anderen Ländern heißen sie einfach anders. Immer mehr Menschen scheinen der EU verlorenzugehen. Ungarn fällt seit langem dadurch negativ auf, dass sein Regierungschef Orbán einen EU-Beschluss nach dem anderen blockiert – regelrecht aus Prinzip. Im eigenen Land und darüber hinaus wird er dafür gefeiert.

Schwieriger Kompromiss

Europa ist gespalten wie nie zuvor. Nur ein Idiot würde das in Frage stellen. Dabei war die europäische Einheit einst einer der Grundpfeiler der Staatengemeinschaft. Von einer Einigkeit unter den Völkern ist die EU aber meilenweit entfernt. Die Interessen der einzelnen Länder stehen teilweise in diametralem Widerspruch zueinander. Unter solchen Voraussetzungen ist es in weniger turbulenten Zeiten schon schwierig genug, einen Kompromiss zu finden, mit dem jeder leben kann.

Als eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union heben viele die Freizügigkeit hervor. Bürger aus einem Land können ohne langwierige Grenzkontrollen in ein anderes Land reisen. Seit Corona ist auch das nicht mehr so leicht möglich. Um das Virus einzudämmen, wurden alte Grenzen wieder hochgezogen, Ein- und Ausreisen dauerten erheblich länger. Covid-19 brachte eine weitere Garantie der EU zu Fall.

Wie im 20. Jahrhundert

Die schwerste Stunde in der Geschichte der EU erleben wir aber seit dem 24. Februar. Noch kurze Zeit davor brüsteten sich viele mit der vermeintlichen Gewissheit, die EU sei das größte Friedensprojekt in der Geschichte. Putin hat diese Hoffnungen zunichtegemacht. Mit seinem völkerrechtswidrigen Einmarsch in das Nachbarland und die täglichen unmenschlichen Verbrechen hat er den europäischen Traum hart vergewaltigt.

Immer weniger erinnert an die Visionen der Gründungsmütter und -väter der Europäischen Union. Schaut man heute nach Europa, hat man eher das Gefühl, man betrachte den Kontinenten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Krieg ist für viele Bürgerinnen und Bürger Europas inzwischen wieder traurige Realität. Angesichts der Bedrohung durch Russland wünschte sich der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko jüngst sogar den Eisernen Vorhang wieder. Europa machte an diesem Tag drei weitere Schritte zurück.

USA 2.0?

Der Rückhalt der EU unter den Bürgerinnen und Bürgern ist ebenfalls seit Jahren rückläufig. Viele Menschen haben heute nicht mehr das Gefühl, genau so Europäer zu sein wie die Bürgerinnen und Bürger aus anderen Ländern. Mit Europa verbinden sie nichts weiter als den Kontinent, auf dem sie leben. Gemeinsame europäische Werte und eine europaweite Solidarität – Fehlanzeige.

Die EU hat in ihrer jetzigen Verfassung nicht das Potenzial zu den USA 2.0. Eine Vielzahl an unterschiedlichen Sprachen, verschiedene kulturelle Hintergründe und eine fehlende gemeinsame Geschichte legen der Idee der europäischen Einheit so manchen Stein in den Weg. Während sich die US-Amerikaner immer als Mitglieder in einem übergroßen Staatenbund verstanden haben, sind viele Europäer von diesem Hochgefühl weit entfernt. Sie kommen aus einer Generation des Gegeneinanders, bestenfalls des Miteinanders, aber nicht des Füreinanders. Jahrhunderte des Kriegs und der Zerstörung lassen sich nicht einfach vom Tisch wischen.

Die vielbeschworene Währungsunion gaukelte den Menschen jahrelang eine europäische Verbundenheit vor. Das gemeinsame Geld schuf eine Zeit lang eine regelrechte EU-Euphorie. Viel zu gerne vergaß man, dass Geld eine der geeignetsten Ursachen für Streit ist.

So kam es dann auch. Nicht nur aus finanzieller Sicht fühlen sich heute viele Menschen in der EU bevormundet. Sie haben das Gefühl, dass eine Gruppe einflussreicher Nationen den Ton angibt und ihnen Entscheidungen aufbürdet, die ganz sicher nicht in ihrem Interesse sind. Die überzeugten Europäerinnen und Europäer können solchen Strömungen nicht das Wasser abgraben. Sie leben inzwischen einen Traum, aus dem viele bereits erwacht sind.

Falsches Tempo

Das europäische Haus ist auf einem Fundament gebaut, dem man nicht genügend Zeit gab zu trocknen. Viele Beschlüsse kamen zu schnell und überforderten die Menschen. Das kollektive Trauma des Zweiten Weltkriegs spielt heute kaum noch eine Rolle. Die meisten Zeitzeugen von damals sind zwischenzeitlich tot. Immer mehr Menschen fällt es schwer, mit dem Tempo der Entwicklungen schrittzuhalten. Sie sehnen sich nicht zufällig nach der guten alten Zeit. Sie haben das Gefühl, dass ihre Stimmen früher mehr Gewicht hatten und die Entwicklungen entschiedener kontrollieren konnten.

Es ist an der Zeit einzusehen, dass der europäische Integrationsprozess länger braucht, als man bisher dachte. Die Konsequenz daraus darf nicht sein, ihn mit aller Macht voranzutreiben. Europa muss für die Menschen dasein und nicht andersrum. Wer hier zu sehr auf die Tube drückt, gefährdet den europäischen Zusammenhalt. Einzelne Nationen denken über einen Austritt aus der EU nach, ein Land ist schon raus. Die extreme Rechte erlebt ihre Renaissance und in Europa tobt ein verheerender Krieg. Das Rad dreht sich zurück.

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Er ist wieder da

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Der Krieg in der Ukraine hat vielen Menschen vor Augen geführt, wie zerbrechlich der Frieden in Europa ist. Erstmals seit den Jugoslawienkriegen kommt es wieder zu kriegerischen Handlungen auf europäischem Festland. Der Konflikt brodelte lange, nun ist er eskaliert. Scheinbar machtlos stehen die europäischen Staaten Putins Aggressionen gegenüber. Der Krieg in Europa – er ist wieder da.

Gefühlte Provokation und echte Aggression

Es herrscht Krieg in Europa. Nicht zum ersten Mal. Was viele lange Zeit für undenkbar hielten, ist nun brutale Realität geworden. Putin hat die Ukraine angegriffen. Stück für Stück versucht er, sich das Land einzuverleiben. Dafür greift er von mehreren Seiten an. Der Einmarsch ist eindeutig völkerrechtswidrig; mehrere hundert Menschen sind ihm bereits zum Opfer gefallen. Momentan kesselt der russische Machthaber die Hauptstadt Kiew ein. Der Zeitpunkt, um mit legitimen Sicherheitsinteressen Russlands zu argumentieren, ist endgültig vorbei.

Denn nichts kann diesen Angriff rechtfertigen – auch nicht eine gefühlte Bedrohung durch die NATO. Es ist richtig, dass sich die NATO in den vergangenen Jahren immer weiter gen Russland ausgebreitet hat. Wir wissen, dass zu keinem Zeitpunkt die Absicht bestand, Russland zu überfallen. Aus russischer Sicht war das anders. Die Osterweiterung der NATO musste die russische Regierung zwangsläufig als Provokation interpretieren.

Falsche Mittel

Daraus aber eine Rechtfertigung für einen kriegerischen Erstschlag abzuleiten, ist absurd. Es gab Bestrebungen der Ukraine, der NATO beizutreten und damit noch näher an Russland heranzutreten. Um das zu verhindern, besetzt Putin nun das ganze Land. Das ist genau so, als würde ein bulliger angsteinflößender Typ in den Raum kommen. In der Vermutung, er könnte ein Messer bei sich tragen und auf einen losgehen, kommt man ihm zuvor und massakriert ihn, bis er sich nicht mehr rührt. Die späteren polizeilichen Ermittlungen ergäben dann, dass der Mann außer seinem Geldbeutel und einer Clubkarte eines Fitnesscenters nichts weiter bei sich trug.

Auch die Legende, man wolle eine faschistische Machtübernahme in der Ostukraine verhindern, ist eine faule Ausrede. Erstens ist Putin selbst ein Diktator und zweitens ist es vom Völkerrecht in keinster Weise gedeckt, in ein Land einzumarschieren, weil einem anderen Land der Regierungsstil nicht passt. Selbst wenn sich eine Mehrheit in der Ostukraine einen Anschluss an Russland wünscht, ist dieses Ziel mit friedlichen Mittel zu erreichen und nicht durch Putsche und Kriege.

Ein altes Muster

Der Kalte Krieg in Europa ist einem heißen Krieg gewichen. Denn der alte Ost-West – Konflikt schwelte auch nach dem Untergang der Sowjetunion und der Wiedervereinigung Deutschlands weiter. Dieser Gegensatz war in den Köpfen der Menschen verankert und erlebte durch die völkerrechtswidrige Annexion der Krim im Jahr 2014 bestenfalls eine Renaissance. Er wurde Anfang der 1990er-Jahre vorerst auf Eis gelegt. Man war bemüht um einen verträglichen und nachbarschaftlichen Umgang miteinander. Doch spätestens seit den 00er-Jahren taute der alte Zwist wieder auf.

Auffallend dabei ist, dass die gleichen Akteure im Mittelpunkt stehen wie bereits in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg. Wieder spielen die USA, Russland, Europa und die NATO-Staaten die Hauptrolle. Auch die Argumente sind die gleichen geblieben. Russland verbittet sich jedwede Ausbreitung der US-geführten NATO nach Osteuropa. Die NATO hingegen heizt die Lage durch Militärmanöver am Schwarzen Meer weiter auf. Der Krieg in der Ukraine ist der neueste Höhepunkt in einer Spirale aus Unverständnis, Kriegstreiberei und Eskalationen.

Kriegsrelikte

Die Schuld für den Krieg in der Ukraine liegt allein bei Russland. Putin ist dort einmarschiert und Putin ließ die Waffen auf die ukrainischen Soldaten und die Bevölkerung richten. Verantwortlich für den Konflikt sind aber sowohl die russische Seite als auch die NATO. Die Sowjetunion ist Anfang der 1990er-Jahre untergegangen, die NATO aber blieb bestehen. Sie ist ein Relikt aus der Zeit des Kalten Kriegs und war ein Gegengewicht zur übermächtigen Sowjetunion, die mit den USA um die Vormachtstellung in der Welt konkurrierte.

Ihr Fortbestand und ihre weitere Ausdehnung, nachdem der Eiserne Vorgang gefallen war, ist widersinnig. Der Frieden in Europa wäre längerfristig gesichert gewesen, hätte man gleich zu Beginn der 1990er-Jahre ein neues Bündnis unter Einschluss Russlands aufgelegt. Persönlichkeiten wie Putin hätten dann niemals den Auftrieb erfahren, mit dem er nun diesen Krieg führen kann.

Bewährungsprobe

Nichts in Europa wird so sein, wie es war. Der eskalierende Konflikt in der Ukraine hat allen Europäerinnen und Europäern in erschreckender Weise vor Augen geführt, dass der Frieden in Europa keine Selbstverständlichkeit ist. Mit dem Einmarsch in die Ukraine stellt Putin Europa, die EU und die NATO vor eine harte Bewährungsprobe.

Nach den Statuten der NATO ist der Einfall in die Ukraine nämlich kein Bündnisfall. Die Ukraine ist kein Mitglied des Militärbündnisses und kann sich daher nicht auf die Verteidigung durch andere Staaten berufen. Deutschland mag Schutzhelme an die Ukraine geliefert haben – zur aktiven militärischen Verteidigung ist es nicht verpflichtet. Das weiß auch Putin. Mit dem Angriff auf die Ukraine ist er dem drohenden Bündnisfall zuvorgekommen.

Mit einer militärischen Intervention würde die NATO gegen ihre eigenen Grundsätze verstoßen und Putin Stoff liefern für seine Legende, man dürfte dem Westen nicht trauen. Im Zweifelsfall mischte er sich immer ein. Andererseits können sich die europäischen Staaten aus diesem Krieg nicht heraushalten. Putin würde ihnen das sicher als Schwäche auslegen und sich in seinen Allmachtsfantasien bestätigt fühlen. Dann wäre zu befürchten, dass er sich weitere Länder einverleibt, um einen Beitritt dieser Nationen zur NATO zu verhindern.


Der Krieg in der Ukraine ist das Produkt aus Entfremdung, Aufrüstung und gegenseitigen Provokationen. Nichts rechtfertigt diesen Angriff, aber vieles erklärt ihn. Die militärische Aufrüstung hatte für beide Seiten stets Vorrang vor diplomatischen Gesprächen. Viele Chancen sind ungenutzt verstrichen. Einmal mehr steht fest, was William Du Bois bereits im vergangen Jahrhundert sagte: „The cause of war is preparation for war.“ Echte Solidarität mit der Urkaine bedeutet, den aberwitzigen Weg der endlosen Aufrüstung für immer zu verlassen. Waffen verhindern keinen Krieg – sie verursachen ihn.

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