Mehr Schein als Sein

Lesedauer: 5 Minuten

Kamala Harris will Präsidentin der USA werden. Die meisten Demokraten wollen, dass nicht Joe Biden Präsident wird. Auf nichts anderem gründet der seit Wochen anhaltende Hype um die plötzliche Nachrückerin. Sie ist ein frisches Gesicht, denn große Erfolge oder Skandale blieben von ihr bislang aus. Ob sie wirklich eine Chance gegen Donald Trump hat, ist dennoch äußerst fraglich.

Plötzlich Präsidentin

Eigentlich wollte Kamala Harris einfach nur ihre Ruhe haben. Nach vier Jahren Mike Pence als Vizepräsident wollte sie der USA und der Welt zeigen, wie sich eine echte Vizepräsidentin zu verhalten hat: ruhig und unauffällig. So kam es dann auch. Nach dem Sieg von Joe Biden 2020 konnte sie sich leise, still und heimlich aus der Öffentlichkeit zurückziehen. Vielleicht übertrieb es die Gute dabei ein wenig. Seit der Wahl von Joe Biden zum 46. US-Präsidentin ward sie nie mehr gesehen.

Das änderte sich, als im Vorgeplänkel zum Wahlkampf immer offensichtlicher wurde, was viele schon lange hinter vorgehaltener Hand wussten: Der Präsident ist zu alt. Als er vor einem Millionenpublikum auch noch Schwierigkeiten hatte, seinen zugewiesenen Platz zu finden, war es beschlossene Sache – Biden darf nicht noch einmal ins Rennen gehen. Die Suche nach einem geeigneten Ersatz war zu Ende, bevor sie überhaupt begonnen hatte. Weil die Zeit knapp wurde, nahm man die erstbeste Person, die greifbar war. In diesem Fall war das Vizepräsidentin Kamala Harris.

Riskanter Personenkult

Seitdem ist ein regelrechter Hype um die ausrangierte Zweitplatzierte ausgebrochen. Plötzlich kannte jeder ihren Namen – als wäre sie in den letzten Jahren auf irgendeine Weise nennenswert in Erscheinung getreten. Die Euphorie der Demokraten war kaum zu bremsen. Streckenweise hätte man meinen können, sie hätten die Wahl schon gewonnen – dabei dauerte es noch Wochen, bis Harris überhaupt offiziell zur Präsidentschaftskandidatin gewählt wurde.

Die extasenhafte Freude über die Kandidatur von Kamala Harris kam so plötzlich und mit einer solchen Wucht, dass da was faul sein muss. Und tatsächlich ist sie völlig austauschbar. Der Jubel und Applaus, mit dem sie gerade verwöhnt wird, gilt gar nicht ihr. Es ist die unbändige Freude darüber, dass ein völlig aussichtsloser Kandidat endlich die Zeichen der Zeit erkannt hat und abgetreten ist. Dazu kommt: Mit einer schwarzen Frau kann doch eigentlich nichts mehr schiefgehen, oder?

Dabei sollten doch selbst die Amis mittlerweile begriffen haben: Personenkulte sind selten erfolgreich, erst recht, wenn sie so plötzlich kommen. Sie bergen immer das Risiko des tiefen Falls nach unten. Kamala Harris kann sich auch sehr schnell als Luftnummer erweisen. Viele andere Hypes haben es ihr vorgemacht.

Auch die deutsche Politik hat schon ausreichend Erfahrung mit solchen Senkrechtstartern gemacht. Jüngstes Beispiel ist Martin Schulz (SPD), der zunächst mit 100 Prozent Zustimmung zum Kanzlerkandidaten seiner Partei gewählt wurde, die Titelseiten sämtlicher Zeitschriften schmückte und schließlich der SPD das schlechteste Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik bescherte. So etwas kann sich wiederholen.

Amtsvorgängerbonus

Kamala Harris mag sich als Generalstaatsanwältin einen Namen gemacht haben. Hier setzte sie sich vehement für eine stärkere Regulierung des Waffenrechts ein und setzte sich mehrfach gegen republikanische Kontrahenten bei der Wahl auf das Amt der Generalstaatsanwältin durch. Nichtsdestotrotz ist sie als Politikerin bislang erstaunlich blass geblieben. Keiner hatte sie so recht auf dem Zettel. Große politische Erfolge kann sie ebenso wenig für sich beanspruchen.

Ihre Beliebtheitswerte haben eben doch nichts mit ihr und ihren Leistungen zu tun. Sie profitiert einzig von der Schwäche ihres Vorgängers. Ohne die bemitleidenswerte Figur Joe Biden käme Harris nicht einmal in die Nähe des Präsidentinnenamts. Die Frage ist nur: Wie lange wird sie diesen Effekt noch aufrechterhalten können? Denn sind wir mal ehrlich – das Zeug zur Angela Merkel hat Kamala Harris mit Sicherheit nicht.

Trotzdem werden am 5. November viele Menschen Kamala Harris wählen. Ein Haushoch-Sieg von Donald Trump über seine neue Kontrahentin ist höchst unwahrscheinlich. Gewählt wird die 59-jährige sehr wahrscheinlich von Urdemokraten und radikalen Trump-Gegnern. Denn genau das ist ihre Klientel. Sie gehört zum Establishment. An den Zweifelnden und Unentschlossenen wird sie scheitern.

Mehr Schein als Sein

Kamala Harris ist bekannt für ihr Engagement gegen Rassismus und andere Formen der Diskriminierung. Als Verfechterin für soziale Gerechtigkeit und als Kümmerin der sogenannten kleinen Leute kennt sie jedoch niemand. Wie will sie da einem Meistermanipulator wie Donald Trump das Wasser abgraben? Auch die kürzlich bekanntgewordenen Spendengelder für ihren Wahlkampf arbeiten eher gegen sie. Man kann noch so viel Geld in Kampagnen investieren – Misstrauen verschwindet nicht so einfach. Viele derer, die sich jetzt noch nicht zwischen Demokraten und Republikanern entschieden haben, werden sich fragen, wo das Geld herkommt. Kann Harris diese Frage nicht zufriedenstellend beantworten, bleiben genau zwei Optionen: Entweder diese Kritiker wählen Trump oder gar nicht.

Kamala Harris kann Stimmen halten. Dass sie in großer Zahl neue hinzugewinnt ist unwahrscheinlich. Deswegen wird es eng für sie am 5. November- sehr eng. Auch 2016 hielten es viele für gesetzt, dass Hillary Clinton Präsidentin wird – und im Gegensatz zu Kamala Harris war damals ein noch größerer Name im Rennen. Hillary Clinton scheiterte, weil sie sich zu sehr auf ihren Erfolgen ausruhte und sich nicht ausreichend in die Lebensrealitäten potenzieller Trump-Wähler hineinversetzen konnte. Kamala Harris muss schwer aufpassen, nicht in die gleiche Falle zu treten.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Sieg der Wahrheit?

Lesedauer: 5 Minuten

Es war ein Kampf gegen Wahrheit und Gerechtigkeit. Am 25. Juni 2024 hat Julian Assange diesen Kampf gewonnen. Doch der Preis, den er dafür zu zahlen hatte, war hoch. Der USA ist es gelungen, ein deutliches Exempel zu statuieren. Auch wenn das ganze zwiespältig ausgegangen ist: Vor dem Mut und dem Rückgrat von Julian Assange kann man sich nur verneigen. Und auch die deutsche Bundesregierung hat eine Sorge weniger.

Julian Assange ist frei. Endlich. Nach unglaublichen 1.903 Tagen Gefangenschaft konnte er am 25. Juni 2024 als freier Mann in seine Heimat in Australien zurückkehren. Mehr als fünf Jahre war er im britischen Hochsicherheitsgefängnis von Belmarsh inhaftiert, zuvor saß er mehrere Jahre in der ecuadorianischen Botschaft in Großbritannien fest. Bis zum Schluss war seine Zukunft ungewiss. Ihm drohten bei Auslieferung an die USA bis zu 175 Jahre Haft. Sein Verbrechen: die Wahrheit.

Einsatz für die Wahrheit

Julian Assange hat Schreckliches ans Licht gebracht. Mithilfe seiner Informantin Bradley Manning konnte er belegen, dass US-Soldaten im Irakkrieg aus einem Hubschrauber heraus auf unbewaffnete Zivilisten und Journalisten geschossen und mehrere davon getötet hatten.

Die Enthüllungen von Julian Assange bewiesen das, was viele lange vermutet hatten: Die USA begehen Menschenrechtsverbrechen. Erschreckend war vor allem die Dimension der amerikanischen Kriegsverbrechen. Mit konstruierten Vorwürfen versuchten die USA, den Whistleblower Assange in Misskredit zu bringen. Sie unterschätzten dabei die Welle der Solidarität, die über all die Jahre ungebrochen groß blieb.

Berechtigte Interessen?

Der Prozess wegen Geheimnisverrats war von Anfang an eine einzige Farce. Natürlich hat jedes Land das Recht darauf, bestimmte Dinge unter Verschluss zu halten, damit feindliche Mächte dieses Wissen nicht destruktiv einsetzen können. Ein Gesetz aber so zu deuten, dass es dazu genutzt werden kann, um Verbrechen zu vertuschen oder gar zu ermöglichen, ist eine bemerkenswerte Rechtsauffassung und öffnet Tür und Tor für Willkür und Unrecht. Es ist daher völlig klar: Egal, wie das amerikanische Gericht geurteilt hat: Julian Assange hat kein Verbrechen begangen.

Letztendlich kam es dann doch zum Schuldspruch. Ein Deal mit der amerikanischen Justiz bewahrte Julian Assange vor der lachhaft hohen Haftstrafe. Offenbar hatten die US-Richter begriffen, dass sie keine Chance hatten, die dreistellige Haftstrafe zu verhängen, ohne eine neue Welle der Empörung loszutreten. Deswegen änderten sie ihre Taktik: Nicht mehr die Sühne stand im Vordergrund, sondern der Gesichtsverlust des Angeklagten.

97 Prozent Strafnachlass

Das Geständnis von Julian Assange interpretiert die US-Justiz als Demonstration ihrer eigenen Macht. Sie bringen auch noch so gefeierte Delinquenten zum Gestehen. Seine Überzeugung kann gar nicht so groß sein, wenn er nicht einmal bereit ist, die Konsequenzen seines Handelns zu tragen. Sie hoffen darauf, dass das Geständnis von Julian Assange von der Weltöffentlichkeit als Einknicken vor den USA aufgefasst wird.

Tatsächlich beweist das abstiegsgefährdete Imperium damit aber ein weiteres Mal seine komplette Hilflosigkeit gegenüber Wahrheit und Gerechtigkeit. Das Gericht war bereit, einen nicht geständigen Angeklagtem mit einer 35-mal höheren Haftstrafe zu belegen. Oder andersrum: Sie gewährten einem geständigen Angeklagten einen Rabatt von satten 97 Prozent. Man muss sich nicht schämen, wenn man dieses Rechtssystem nicht ernstnimmt.

Der Deal beweist aber auch, dass beide Urteile von vornherein feststanden. Entscheidend war nur das Szenario: Geständnis oder nicht? Letztendlich gestand Julian Assange, dass er die US-Verbrechen ans Licht gebracht und damit gegen amerikanisches Recht verstoßen hatte. Er bekannte sich damit zu seinem Handeln – nicht aber zu irgendeiner Schuld.

Maximaler Gesichtsverlust

Julian Assange geht sogar gestärkt aus Angelegenheit hervor – auch wenn die Jahre der Haft deutliche Spuren hinterlassen haben dürfte. Die USA ist indes damit beschäftigt, möglichst gesichtswahrend aus der Nummer rauszukommen. Vielleicht gelingt ihr das sogar. Klar war aber schon lange vor dem Urteil, wer auf jeden Fall ihr Gesicht verloren hat: die deutsche Bundesregierung.

Auch die deutschen Ministerinnen und Minister kritisierten die Inhaftierung und drohende Auslieferung von Julian Assange hier und da – meist, wenn es opportun war. Im Wahlkampf zum Beispiel. Insbesondere die Grünen wetterten im Wahlkampf vor drei Jahren damit, dass Julian Assange unverzüglich aus der Haft zu entlassen wäre. Zur Erinnerung: Das Außenministerium untersteht dieser Partei. Unsere Chefdiplomatin blieb aber auch bei diesem Thema bemerkenswert dünnlippig. Hohles Geschwätz mal wieder, wie vieles andere aus dem Wahlkampf 2021 auch.

In beschämender Art und Weise wurde das Schicksal des Herrn Assange bestenfalls mit Samthandschuhen angefasst. Zu keinem Zeitpunkt wurde in Frage gestellt, dass er in den USA ein faires Verfahren bekommt. Zum Nawalny hat er es in der deutschen Politik nie gebracht. Trotzdem steht die Frage im Raum, ob der Kanzler bereits eine Trauerrede für den mutigen Whistleblower in der Schublade liegenhatte – nur für den Fall, dass auch Julian Assange den „Haftbedingungen“ zum Opfer fällt.


Das Schicksal von Julian Assange ist eine Geschichte der himmelschreienden Ungerechtigkeiten. Es ist gut, dass für ihn das Schlimmste ausgestanden ist. Er kann endlich aufatmen. Genau so wie die USA, die dieses Problem zunächst los ist. Und auch die deutsche Regierung hat Grund zur Erleichterung: Ein weiteres Mal ist es ihr erspart geblieben, Farbe zu bekennen und Verantwortung zu übernehmen. Es ist gut, dass Julian Assange offenbar nie auf die Unterstützung dieser Truppe angewiesen war.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Rolle rückwärts

Lesedauer: 6 Minuten

Europa ging es selten so schlecht wie heute. Der Rückhalt für die EU in der Bevölkerung schwindet, Corona machte Grenzkontrollen wieder nötig und selbst der Krieg zeigt ein weiteres Mal seine hässliche Fratze. An vieles in Europa hatte man sich gewöhnt, doch der Krisenprobe hält der viel gepriesene europäische Zusammenhalt immer weniger stand. Es wird Zeit, den Unterschied zwischen Traum und Realität zu begreifen.

Europa kommt seit Jahren nicht zur Ruhe. Eine Krise folgt dicht auf die andere. Die Finanz- und Eurokrise ging fast nahtlos über in eine Welle des Protests gegen eine Stärkung der EU gegenüber den Nationalstaaten. Die Flüchtlingskrise befeuerte diesen Unmut weiter und spielte rechten Kräften in die Hände. Auch die Klimakrise gönnt der EU keine Verschnaufpause – zu groß sind die Herausforderungen, die gesamteuropäisch angegangen werden müssen. Seit Anfang des Jahres tobt in Europa außerdem ein Krieg, wie die Bürgerinnen und Bürger ihn seit Jahrzehnten nicht erlebt haben. Der Trend geht deutlich abwärts.

Schwere Zeiten

Die Signale aus den einzelnen Mitgliedsländern gegenüber der EU lassen mitunter nichts Gutes hoffen. Seit der Griechenlandkrise vor etwa zehn Jahren stehen Austrittsdrohungen quasi an der Tagesordnung. Besonders die südeuropäischen Länder zählen zu den Wackelkandidaten. Nach zähen Verhandlungen sind die Briten seit 2020 offiziell nicht mehr Teil der EU.

In fast allen Ländern Europas feiern antieuropäische Parteien und Bewegungen seit Jahren einen Erfolg nach dem anderen. Pegida und die AfD sind keine rein deutschen Phänomene – in anderen Ländern heißen sie einfach anders. Immer mehr Menschen scheinen der EU verlorenzugehen. Ungarn fällt seit langem dadurch negativ auf, dass sein Regierungschef Orbán einen EU-Beschluss nach dem anderen blockiert – regelrecht aus Prinzip. Im eigenen Land und darüber hinaus wird er dafür gefeiert.

Schwieriger Kompromiss

Europa ist gespalten wie nie zuvor. Nur ein Idiot würde das in Frage stellen. Dabei war die europäische Einheit einst einer der Grundpfeiler der Staatengemeinschaft. Von einer Einigkeit unter den Völkern ist die EU aber meilenweit entfernt. Die Interessen der einzelnen Länder stehen teilweise in diametralem Widerspruch zueinander. Unter solchen Voraussetzungen ist es in weniger turbulenten Zeiten schon schwierig genug, einen Kompromiss zu finden, mit dem jeder leben kann.

Als eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union heben viele die Freizügigkeit hervor. Bürger aus einem Land können ohne langwierige Grenzkontrollen in ein anderes Land reisen. Seit Corona ist auch das nicht mehr so leicht möglich. Um das Virus einzudämmen, wurden alte Grenzen wieder hochgezogen, Ein- und Ausreisen dauerten erheblich länger. Covid-19 brachte eine weitere Garantie der EU zu Fall.

Wie im 20. Jahrhundert

Die schwerste Stunde in der Geschichte der EU erleben wir aber seit dem 24. Februar. Noch kurze Zeit davor brüsteten sich viele mit der vermeintlichen Gewissheit, die EU sei das größte Friedensprojekt in der Geschichte. Putin hat diese Hoffnungen zunichtegemacht. Mit seinem völkerrechtswidrigen Einmarsch in das Nachbarland und die täglichen unmenschlichen Verbrechen hat er den europäischen Traum hart vergewaltigt.

Immer weniger erinnert an die Visionen der Gründungsmütter und -väter der Europäischen Union. Schaut man heute nach Europa, hat man eher das Gefühl, man betrachte den Kontinenten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Krieg ist für viele Bürgerinnen und Bürger Europas inzwischen wieder traurige Realität. Angesichts der Bedrohung durch Russland wünschte sich der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko jüngst sogar den Eisernen Vorhang wieder. Europa machte an diesem Tag drei weitere Schritte zurück.

USA 2.0?

Der Rückhalt der EU unter den Bürgerinnen und Bürgern ist ebenfalls seit Jahren rückläufig. Viele Menschen haben heute nicht mehr das Gefühl, genau so Europäer zu sein wie die Bürgerinnen und Bürger aus anderen Ländern. Mit Europa verbinden sie nichts weiter als den Kontinent, auf dem sie leben. Gemeinsame europäische Werte und eine europaweite Solidarität – Fehlanzeige.

Die EU hat in ihrer jetzigen Verfassung nicht das Potenzial zu den USA 2.0. Eine Vielzahl an unterschiedlichen Sprachen, verschiedene kulturelle Hintergründe und eine fehlende gemeinsame Geschichte legen der Idee der europäischen Einheit so manchen Stein in den Weg. Während sich die US-Amerikaner immer als Mitglieder in einem übergroßen Staatenbund verstanden haben, sind viele Europäer von diesem Hochgefühl weit entfernt. Sie kommen aus einer Generation des Gegeneinanders, bestenfalls des Miteinanders, aber nicht des Füreinanders. Jahrhunderte des Kriegs und der Zerstörung lassen sich nicht einfach vom Tisch wischen.

Die vielbeschworene Währungsunion gaukelte den Menschen jahrelang eine europäische Verbundenheit vor. Das gemeinsame Geld schuf eine Zeit lang eine regelrechte EU-Euphorie. Viel zu gerne vergaß man, dass Geld eine der geeignetsten Ursachen für Streit ist.

So kam es dann auch. Nicht nur aus finanzieller Sicht fühlen sich heute viele Menschen in der EU bevormundet. Sie haben das Gefühl, dass eine Gruppe einflussreicher Nationen den Ton angibt und ihnen Entscheidungen aufbürdet, die ganz sicher nicht in ihrem Interesse sind. Die überzeugten Europäerinnen und Europäer können solchen Strömungen nicht das Wasser abgraben. Sie leben inzwischen einen Traum, aus dem viele bereits erwacht sind.

Falsches Tempo

Das europäische Haus ist auf einem Fundament gebaut, dem man nicht genügend Zeit gab zu trocknen. Viele Beschlüsse kamen zu schnell und überforderten die Menschen. Das kollektive Trauma des Zweiten Weltkriegs spielt heute kaum noch eine Rolle. Die meisten Zeitzeugen von damals sind zwischenzeitlich tot. Immer mehr Menschen fällt es schwer, mit dem Tempo der Entwicklungen schrittzuhalten. Sie sehnen sich nicht zufällig nach der guten alten Zeit. Sie haben das Gefühl, dass ihre Stimmen früher mehr Gewicht hatten und die Entwicklungen entschiedener kontrollieren konnten.

Es ist an der Zeit einzusehen, dass der europäische Integrationsprozess länger braucht, als man bisher dachte. Die Konsequenz daraus darf nicht sein, ihn mit aller Macht voranzutreiben. Europa muss für die Menschen dasein und nicht andersrum. Wer hier zu sehr auf die Tube drückt, gefährdet den europäischen Zusammenhalt. Einzelne Nationen denken über einen Austritt aus der EU nach, ein Land ist schon raus. Die extreme Rechte erlebt ihre Renaissance und in Europa tobt ein verheerender Krieg. Das Rad dreht sich zurück.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!