Rolle rückwärts

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Europa ging es selten so schlecht wie heute. Der Rückhalt für die EU in der Bevölkerung schwindet, Corona machte Grenzkontrollen wieder nötig und selbst der Krieg zeigt ein weiteres Mal seine hässliche Fratze. An vieles in Europa hatte man sich gewöhnt, doch der Krisenprobe hält der viel gepriesene europäische Zusammenhalt immer weniger stand. Es wird Zeit, den Unterschied zwischen Traum und Realität zu begreifen.

Europa kommt seit Jahren nicht zur Ruhe. Eine Krise folgt dicht auf die andere. Die Finanz- und Eurokrise ging fast nahtlos über in eine Welle des Protests gegen eine Stärkung der EU gegenüber den Nationalstaaten. Die Flüchtlingskrise befeuerte diesen Unmut weiter und spielte rechten Kräften in die Hände. Auch die Klimakrise gönnt der EU keine Verschnaufpause – zu groß sind die Herausforderungen, die gesamteuropäisch angegangen werden müssen. Seit Anfang des Jahres tobt in Europa außerdem ein Krieg, wie die Bürgerinnen und Bürger ihn seit Jahrzehnten nicht erlebt haben. Der Trend geht deutlich abwärts.

Schwere Zeiten

Die Signale aus den einzelnen Mitgliedsländern gegenüber der EU lassen mitunter nichts Gutes hoffen. Seit der Griechenlandkrise vor etwa zehn Jahren stehen Austrittsdrohungen quasi an der Tagesordnung. Besonders die südeuropäischen Länder zählen zu den Wackelkandidaten. Nach zähen Verhandlungen sind die Briten seit 2020 offiziell nicht mehr Teil der EU.

In fast allen Ländern Europas feiern antieuropäische Parteien und Bewegungen seit Jahren einen Erfolg nach dem anderen. Pegida und die AfD sind keine rein deutschen Phänomene – in anderen Ländern heißen sie einfach anders. Immer mehr Menschen scheinen der EU verlorenzugehen. Ungarn fällt seit langem dadurch negativ auf, dass sein Regierungschef Orbán einen EU-Beschluss nach dem anderen blockiert – regelrecht aus Prinzip. Im eigenen Land und darüber hinaus wird er dafür gefeiert.

Schwieriger Kompromiss

Europa ist gespalten wie nie zuvor. Nur ein Idiot würde das in Frage stellen. Dabei war die europäische Einheit einst einer der Grundpfeiler der Staatengemeinschaft. Von einer Einigkeit unter den Völkern ist die EU aber meilenweit entfernt. Die Interessen der einzelnen Länder stehen teilweise in diametralem Widerspruch zueinander. Unter solchen Voraussetzungen ist es in weniger turbulenten Zeiten schon schwierig genug, einen Kompromiss zu finden, mit dem jeder leben kann.

Als eine der größten Errungenschaften der Europäischen Union heben viele die Freizügigkeit hervor. Bürger aus einem Land können ohne langwierige Grenzkontrollen in ein anderes Land reisen. Seit Corona ist auch das nicht mehr so leicht möglich. Um das Virus einzudämmen, wurden alte Grenzen wieder hochgezogen, Ein- und Ausreisen dauerten erheblich länger. Covid-19 brachte eine weitere Garantie der EU zu Fall.

Wie im 20. Jahrhundert

Die schwerste Stunde in der Geschichte der EU erleben wir aber seit dem 24. Februar. Noch kurze Zeit davor brüsteten sich viele mit der vermeintlichen Gewissheit, die EU sei das größte Friedensprojekt in der Geschichte. Putin hat diese Hoffnungen zunichtegemacht. Mit seinem völkerrechtswidrigen Einmarsch in das Nachbarland und die täglichen unmenschlichen Verbrechen hat er den europäischen Traum hart vergewaltigt.

Immer weniger erinnert an die Visionen der Gründungsmütter und -väter der Europäischen Union. Schaut man heute nach Europa, hat man eher das Gefühl, man betrachte den Kontinenten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhundert. Krieg ist für viele Bürgerinnen und Bürger Europas inzwischen wieder traurige Realität. Angesichts der Bedrohung durch Russland wünschte sich der Kiewer Bürgermeister Vitali Klitschko jüngst sogar den Eisernen Vorhang wieder. Europa machte an diesem Tag drei weitere Schritte zurück.

USA 2.0?

Der Rückhalt der EU unter den Bürgerinnen und Bürgern ist ebenfalls seit Jahren rückläufig. Viele Menschen haben heute nicht mehr das Gefühl, genau so Europäer zu sein wie die Bürgerinnen und Bürger aus anderen Ländern. Mit Europa verbinden sie nichts weiter als den Kontinent, auf dem sie leben. Gemeinsame europäische Werte und eine europaweite Solidarität – Fehlanzeige.

Die EU hat in ihrer jetzigen Verfassung nicht das Potenzial zu den USA 2.0. Eine Vielzahl an unterschiedlichen Sprachen, verschiedene kulturelle Hintergründe und eine fehlende gemeinsame Geschichte legen der Idee der europäischen Einheit so manchen Stein in den Weg. Während sich die US-Amerikaner immer als Mitglieder in einem übergroßen Staatenbund verstanden haben, sind viele Europäer von diesem Hochgefühl weit entfernt. Sie kommen aus einer Generation des Gegeneinanders, bestenfalls des Miteinanders, aber nicht des Füreinanders. Jahrhunderte des Kriegs und der Zerstörung lassen sich nicht einfach vom Tisch wischen.

Die vielbeschworene Währungsunion gaukelte den Menschen jahrelang eine europäische Verbundenheit vor. Das gemeinsame Geld schuf eine Zeit lang eine regelrechte EU-Euphorie. Viel zu gerne vergaß man, dass Geld eine der geeignetsten Ursachen für Streit ist.

So kam es dann auch. Nicht nur aus finanzieller Sicht fühlen sich heute viele Menschen in der EU bevormundet. Sie haben das Gefühl, dass eine Gruppe einflussreicher Nationen den Ton angibt und ihnen Entscheidungen aufbürdet, die ganz sicher nicht in ihrem Interesse sind. Die überzeugten Europäerinnen und Europäer können solchen Strömungen nicht das Wasser abgraben. Sie leben inzwischen einen Traum, aus dem viele bereits erwacht sind.

Falsches Tempo

Das europäische Haus ist auf einem Fundament gebaut, dem man nicht genügend Zeit gab zu trocknen. Viele Beschlüsse kamen zu schnell und überforderten die Menschen. Das kollektive Trauma des Zweiten Weltkriegs spielt heute kaum noch eine Rolle. Die meisten Zeitzeugen von damals sind zwischenzeitlich tot. Immer mehr Menschen fällt es schwer, mit dem Tempo der Entwicklungen schrittzuhalten. Sie sehnen sich nicht zufällig nach der guten alten Zeit. Sie haben das Gefühl, dass ihre Stimmen früher mehr Gewicht hatten und die Entwicklungen entschiedener kontrollieren konnten.

Es ist an der Zeit einzusehen, dass der europäische Integrationsprozess länger braucht, als man bisher dachte. Die Konsequenz daraus darf nicht sein, ihn mit aller Macht voranzutreiben. Europa muss für die Menschen dasein und nicht andersrum. Wer hier zu sehr auf die Tube drückt, gefährdet den europäischen Zusammenhalt. Einzelne Nationen denken über einen Austritt aus der EU nach, ein Land ist schon raus. Die extreme Rechte erlebt ihre Renaissance und in Europa tobt ein verheerender Krieg. Das Rad dreht sich zurück.

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Fatale Dynamik

Lesedauer: 8 Minuten

Mehr Waffen erhöhen die Resilienz. Angesichts der unfassbaren Tat in Uvalde am 24. Mai 2022 klingt dieser Satz wie aus einer anderen Welt. Vor knapp zwei Wochen lief dort ein 18-jähriger Täter in einer Grundschule Amok. Er tötete 21 Menschen und zerstörte das Leben von weitaus mehr. Die Bewohner der Kleinstadt, die USA, die ganze Welt ist entsetzt über diese Bluttat. Gleichzeitig fliegen an vielen anderen Orten die Bomben und scharfe Munition wird verschossen. Es wird Zeit, die lobbykratische Geisterfahrt zu beenden und endlich einzusehen, dass Waffen niemals nur der Verteidigung dienen.

Die texanische Kleinstadt Uvalde ergänzt seit dem 24. Mai 2022 die Liste der Städte, in denen sich ein unfassbares Massaker ereignet hat. Der 18-jährige Täter marschierte dort schwer bewaffnet in die Robb Elementary School. Er tötete neunzehn Grundschüler und zwei Lehrerinnen. Zahlreiche weitere Personen wurden bei dem Amoklauf verletzt. Den Täter traf schließlich eine Polizeikugel tödlich. Die 15.000 Einwohner große Ortschaft im Südwesten Texas bleibt fassungslos zurück.

Traurige Routine

Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert. Besonders US-amerikanische Städte erlangen durch solche Vorfälle immer wieder traurige Bekanntheit. Doch auch in Deutschland sind derartige Exzesstäter leider keine Seltenheit. Die Tat in Uvalde weckt schmerzhafte Erinnerungen an die Amokläufe in Winnenden, in Heidelberg und in Erfurt. Letzterer jährt sich 2022 zum zwanzigsten Mal.

Die Bilder sind nach jedem Angriff die gleichen: Absperrbänder vor den Schulen, Polizisten, die Menschen aus dem Gebäude in Sicherheit bringen, weinende Angehörige, die angesichts dieser Taten zusammenbrechen. Jeder kennt diese Bilder. Jeder kennt aber auch die salbungsvollen Worte, die Politiker nach sämtlichen solcher Angriffe routiniert in die Kameras sprechen: Die Waffengesetze müssen verschärft werden.

Auch US-Präsident Joe Biden beeilte sich nach dem jüngsten Amoklauf, strengere Regeln beim Waffenverkauf in Aussicht zu stellen. Er vergisst dabei, dass viele seiner Vorgänger mehrmals in ihren Amtszeiten von ähnlichen Restriktionen gesprochen haben. Nichts hat sich seitdem geändert: Die Amokläufe gingen weiter, Familien wurden zerstört, Politiker erzählen die gleichen Lügen.

Im Waffenrausch

Joe Biden hat dieses Mal ein ganz besonderes Glaubwürdigkeitsproblem: Erst im vergangenen Jahr hatte der texanische Gouverneur Greg Abbott die Waffengesetze weiter gelockert und es Tätern wie Salvador Ramos spielend leicht gemacht, solche Taten zu verüben. Solche Gesetze begünstigen nicht nur Amokläufe an Schulen: Auch Supermärkte und andere Einrichtungen wurden in den letzten Jahren immer wieder Schauplatz brutalster Verbrechen. Erst vor knapp zwei Wochen eröffnete ein ebenfalls 18-jähriger Täter in einem Geschäft in Buffalo das Feuer und tötete dabei zehn Menschen.

Jeder weiß, dass kein einziger Politiker in den USA die Waffengesetze wirklich verschärfen möchte. Viel zu tief sind die Amtsträger mit der Waffenlobby verstrickt. Heute kommt quasi jeder Bürger der USA völlig legal an potentiell tödliche Schusswaffen. Die Hersteller hätten mit einem bösen Umsatzrückgang zu rechnen, würde in die amerikanische Waffenpolitik endlich Vernunft einziehen.

Auch international zeigen sich die USA in Punto Waffenhandel und -lieferungen selten bescheiden. Ungeniert diktieren sie anderen Nationen, mindestens 2 Prozent ihrer Wirtschaftskraft für Waffen auszugeben. Weltweit sind die USA Spitzenreiter bei den angeblichen „Verteidigungs“-Ausgaben.

Fatale Dynamik

Das Argument der Verteidigungsfähigkeit ist eine uralte Legende, um höhere Rüstungsausgaben zu rechtfertigen. Die Regierungen der Welt stecken Unsummen in Waffen und Kriegsgerät, um für den Ernstfall vorbereitet zu sein. Auch Bündnispartnern steht man mit großzügigen Waffenlieferungen gerne zur Seite. Putin hat diese Logik weiter eskalieren lassen und nennt seinen Angriff auf die Ukraine nun einen Präventivkrieg, der den angeblich kriegslüsternen Bestrebungen der NATO etwas entgegensetzen soll.

Das Beispiel Ukraine zeigt deutlich, dass Aufrüstung immer eine gefährliche Spirale in Gang setzt. Keine Seite wird es jemals hinnehmen, dass andere Länder signifikant mehr in Rüstung stecken als man selbst. Steigende Rüstungsausgaben sind immer eine Provokation gegenüber anderen Staaten. Sie mögen die Gefechtsfähigkeit des eigenen Landes aufwerten, erhöhen aber immer die Kriegsgefahr. Im atomaren Zeitalter ist dieses Wettrüsten besonders gefährlich, weil territoriale Konflikte schnell zu einem globalen Inferno ausarten können.

Waffen für’s Schaufenster gibt es nicht. Es ist eine Lüge, wenn man behauptet, man besorgte sich nur deshalb Waffen, um anderen zu zeigen, wozu man unter gewissen Umständen in der Lage wäre. Wer sich eine Waffe anschafft, hat in letzter Konsequenz immer vor, diese auch einzusetzen. Salvador Ramos hat sich sein Gewehr nicht zugelegt, um damit ausschließlich auf Instagram zu prahlen. Er hatte ganz genau geplant, wo und wann diese Waffe zum Einsatz kommen sollte.

Lobbykratischer Realitätsverlust

Taten wie solche in Uvalde passieren in den letzten Jahren immer wieder. Die Täter sind in den meisten Fällen männlich. Bevorzugt schlagen sie an Orten zu, wo sich viele Menschen auf wenig Raum versammeln, zum Beispiel in Einkaufszentren oder in Schulen. Doch noch etwas anderes fällt ins Auge: Sehr viele dieser Taten ereignen sich in den USA. Immer wieder greifen Menschen dort zu Schusswaffen und richten Blutbäder an. Die Skrupellosigkeit und Brutalität der Täter erschüttern immer wieder, obwohl ähnliche Taten auch schon in Deutschland passiert sind.

Liegt es ausschließlich an den laxen Waffengesetzen, dass die USA immer wieder Schauplatz solch verheerender Taten werden? Sicher ist nicht nur die Rechtslage der Grund für die völlige Enthemmung der Amokschützen. Trotzdem hängt das eine direkt mit dem anderen zusammen. Viele Waffen in den USA sind nicht deshalb legal, weil führende Politiker Waffen per se für harmlos halten. Sie wissen um die Gefahren scharfer Waffen, haben sich aber in einem für sie sehr bequemen Lobbyumfeld eingerichtet.

Krankende Gesellschaften

Die schier grenzenlose Lobbyhörigkeit in den USA ist Ausdruck eines zutiefst kapitalistischen Politik- und Gesellschaftsverständnisses: Wer das beste Angebot vorlegt, bekommt den Zuschlag, egal, ob die Vorhaben moralisch vertretbar sind. Gepaart mit einer psychisch immer ungesünderen Gesellschaft sind Massaker wie in Uvalde vorprogrammiert.

Denn der große Einfluss von Lobbys und Wirtschaft auf die Lebenswirklichkeit der Menschen hinterlässt deutliche Spuren. Ist der Markt erst einmal entfesselt und wird keiner kapitalistischen Fantasterei Grenzen gesetzt, kommen die Menschen mit Fair Play immer weniger vom Fleck. In dieser Umgebung wächst eine Ellbogengesellschaft heran, der nicht jeder Zeitgenosse gewachsen ist. Viele menschliche Bedürfnisse bleiben auf der Strecke und die Gesellschaft entwickelt sich unweigerlich in eine fatale Richtung.

Es entsteht eine Gesellschaft der Individuen, in welcher der Zusammenhalt immer weniger zählt. Niemand gibt mehr auf den anderen Acht und so fällt gar nicht auf, dass einige wenige einem krankhaften Wahn verfallen. Wenn Politiker dann davon sprechen, man müsse mehr Geld in Waffen und Kriegsabenteuer investieren oder dass Lehrerinnen und Lehrer noch schwerer bewaffnet werden müssten, rechtfertigt das die menschenverachtende Weltsicht solcher Psychopathen.


Viele Länder dieser Welt haben mit krankenden Gesellschaften zu kämpfen. In ihnen scheint kein Platz mehr zu sein für Rücksicht und Verständnis. Die Menschen in diesen Ländern fühlen sich immer machtloser gegenüber politischen Entscheidungen, die zwar ihre Leben beeinflussen, bei denen sie aber nur wenig Mitspracherecht hatten. Es kommt zu persönlicher Isolation und manchmal eben auch zu Übersprungshandlungen. Erlaubt der Staat dann fast allen Menschen, eine Waffe mit sich zu führen, drückt der eine oder andere tatsächlich ab. Uvalde hätte verhindert werden können. Genau so wie andere Taten, die noch kommen werden.


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Abgeschrieben

Lesedauer: 8 Minuten

Joe Biden hat die US-Wahl gewonnen. An dieser Gewissheit führt kein Weg mehr vorbei. Auch nicht für Donald Trump, der ja schon immer ein ganz spezielles Verhältnis zur Wahrheit hatte. Wahr ist aber auch, dass fast die Hälfte der Amerikanerinnen und Amerikaner überhaupt kein Kreuzchen gemacht haben. Eine neoliberale Politik aus Privatisierung und Marktradikalismus hat sie immer weiter von der Demokratie weggetrieben. Sie fühlen sich nicht mehr vertreten und bleiben im schlimmsten Fall zu Hause. Urplötzlich gibt es zu der demokratischen Option eine extremistische Alternative…

Pest und Cholera

Die Wahlen in den USA waren eine knappe Kiste. Obwohl Biden seinen Vorsprung gegen Trump weiter ausbaut, haben beachtlich viele Menschen für den noch amtierenden Präsidenten gestimmt. Ähnlich wie vor vier Jahren zeigen sich viele entsetzt darüber, wie man einen Mann wie Donald Trump überhaupt wählen kann. Dabei liegt die Antwort doch auf der Hand. Wenn mir einer der beiden Präsidentschaftskandidaten nicht behagt, dann wähle ich den anderen. Oder ich bleibe der Wahl ganz fern, wenn mir auch der Gegenkandidat so gar nicht zusagt.

Denn seit Jahrzehnten ist die Wahlbeteiligung in den USA besorgniserregend niedrig. Das hat natürlich mehr als einen Grund. Aber ein ganz entscheidender ist die Alternativlosigkeit, die sich den Menschen in den USA auftut. In dem Land gibt es im wesentlichen zwei Parteien – die Demokraten und die Republikaner. Ein Wechsel zwischen diesen beiden Wahlentscheidungen ist nicht so leicht, wie man ihn sich vielleicht vorstellt. Denn die beiden Parteien, so ähnlich ihre Politik manchmal auch scheinen mag, folgen zwei völlig unterschiedlichen Wertekanons. Jemand, der sonst immer Demokraten gewählt hat, dann immer wieder enttäuscht wurde, wird trotzdem nicht so einfach Republikaner wählen. Da wird einem schon fast ein Charakterwechsel abverlangt. Stattdessen verkriechen sich viele in das Lager der Nichtwähler. Und das umfasst seit mehreren Dekaden fast die Hälfte der wahlberechtigten Amerikaner.

Ein schwerer Kompromiss

In anderen demokratisch verfassten Ländern ist ein Wechsel zu einer anderen Partei schon leichter. In vielen dieser Länder ist die Parteienlandschaft schließlich wesentlich differenzierter. Wem hierzulande die SPD nicht mehr links genug ist, der geht zur Linken. Wer im Handeln der CDU keine konservative Politik mehr erkennt, der wandert zur AfD ab. Wer in den USA allerdings mit übertriebenem Patriotismus, mit einem vollends entfesselten Marktradikalismus und mit der Parole „America first“ nichts anfangen kann, der hat schlicht und ergreifend keine andere Wahl als Joe Biden oder die eigenen vier Wände.

Im Prinzip wird vielen Amerikanern bei der Wahl ein besonders schwerer Kompromiss abverlangt. Nur zähneknirschend werden viele ihre Wahl getroffen haben. Dabei würde sich echter politischer Pluralismus gerade in einem so bevölkerungsreichen Land wie den USA lohnen. Zwei Parteien reichen in einem Land mit mehr als 300 Millionen Einwohnern einfach nicht aus.

Nun hat man in den USA zwei Parteien, die die Interessen aller abdecken sollen. Gut, die beiden Parteien trennen zwei völlig unterschiedliche Weltbilder. Ihre Politik ist sich aber in zu vielen Punkten zu ähnlich. Das haben nicht erst gestern auch viele US-Amerikaner erkannt. Sie haben es mit zwei großen Parteien zu tun, die beide am neoliberalen Kapitalismus festhalten und seit Anbeginn aller Zeiten davon ausgehen, dass der Markt alles regelt. Wohin das geführt hat, haben wir in den letzten vier Jahren zur Genüge gesehen: Donald Trump war Präsident.

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Die allermeisten Amerikaner leben heute in einem Land, in dem der vielgepriesene amerikanische Traum genau das ist: ein Traum. Kaum jemand steigt in den USA heute noch vom Tellerwäscher zum Millionär auf. Egal wie sehr sie sich abmühen, mit sozialem Aufstieg werden nur ganz, ganz wenige belohnt. Lange vorbei sind die Zeiten, wo man sich vom kleinen Paketezusteller zum Top-Manager eines Konzerns mausern konnte. Dieses Szenario gibt es heute nur noch bei den Sims. Und selbst dort nur mit Cheats.

Trotzdem werden amerikanische Politiker nicht müde, die USA als Land der unendlichen Möglichkeiten über den grünen Klee zu loben. Immer wieder heizen sie ihren Wählerinnen und Wählern ordentlich ein, denn mit ausreichend viel Fleiß und Ehrgeiz kann es doch jeder zu was bringen. Diese verfaulte Karotte binden sie ihrem Volk immer wieder vor das Gesicht und wundern sich, dass inzwischen fast niemand mehr zuschnappt.

Gute Preise, keine Besserung

An den Lebensrealitäten der Amerikaner gehen diese Versprechungen allerdings vorbei. Einer steilen Karriere inklusive Familienglück und dem nötigen Kleingeld werden viele nicht abgeneigt sein. Zu allererst wünschen sich sehr viele Amerikaner aber eine Krankenversicherung, die sie tatsächlich im Krankheitsfall auffängt. Stattdessen wird zu vielen eine angemessene Behandlung verweigert, weil angeblich ihre Leistungsfähigkeit dazu nicht ausreicht. Diese miserablen Zustände in der Gesundheitsversorgung der USA haben eine so katastrophale Ausbreitung des Coronavirus in dem Land erst möglich gemacht.

Und auch die Omnipräsenz von Waffengewalt dürfte vielen Menschen ein Dorn im Auge sein. Fast jeder darf in den USA ganz legal eine Waffe bei sich tragen. Die Waffengesetze variieren zwar von Bundesstaat zu Bundesstaat, doch trotzdem gibt es Bezirke in den USA, bei denen man froh sein muss, ohne Kugel im Kopf wieder rauszukommen. Kein einziger Präsident hat diesem wilden Treiben der Waffenlobby bisher Einhalt geboten. Warum sollten sie auch? Sie verdienen ja genug daran.

Die neue Egalité

Wenn fast die Hälfte der wahlberechtigten Amerikanerinnen und Amerikaner nicht zu einer solch bedeutenden Wahl wie vor zwei Wochen gehen, dann können sie sich in ihrem Land nicht allzu wohl fühlen. Schuld daran ist vor allem das neoliberale Vorbeiregieren am Volk, welches weite Teile immer weiter wegtreibt von der Demokratie. Viele gehen einfach nicht mehr wählen, sie haben sich längst von der Demokratie abgewendet. Das macht sie aber lange nicht zu Extremisten. Ihnen ist es einfach egal, was passiert und wer in den nächsten vier Jahren das Sagen hat.

Genau auf diese Menschen kommt es aber an. Was für ein Wahlergebnis wäre wohl zu erwarten gewesen, hätten doppelt so viele Menschen abgestimmt als es tatsächlich der Fall war? Und in welch katastrophalem Zustand muss eine Demokratie sein, wenn es fast der Hälfte der Wahlberechtigten egal ist, dass ein narzisstisches, frauenverachtendes Trumpeltier noch vier Jahre Präsident sein kann?

Abgeschrieben

In Deutschland liegt die Wahlbeteiligung bei Bundestagswahlen zwar deutlich höher, aber gut ein Viertel der Wählerinnen und Wähler haben bei den letzten Wahlen trotzdem auf ihr Votum verzichtet. Das kann unmöglich der Anspruch einer standhaften Demokratie sein. Und auch bei uns in Deutschland wählen die meisten Menschen nicht AfD, weil sie Rechtsextremismus, Diskriminierung und Nationalismus so geil finden, sondern weil ihnen dieser Aspekt der AfD schlicht und ergreifend egal ist. Die AfD ist für viele der letzte Strohhalm, der sie vor dem Nichtwählerlager bewahrt. Ihre fragwürdige Wahl muss doch alle demokratischen Parteien erschüttern: Nehmt uns endlich wieder mit, sonst wählen wir beim nächsten Mal gar nicht mehr.

Und jede verschenkte Stimme stärkt auch das Stimmgewicht für extremistische Parteien. Wenn sich zu viele Menschen von der Demokratie abwenden, dann haben gerade die Extremisten leichtes Spiel. Sie ködern die Leute, die abgehängt wurden und geben ihnen gleichzeitig das Gefühl, ganz besonders gute Demokraten zu sein. Und ganz plötzlich, und für alle völlig unerwartet, sind Szenarien wie Macron gegen Le Pen oder Trump gegen Biden möglich.

Besonders fatal an dem ganzen Schlamassel: Die Nichtwähler werden viel zu häufig ausgeblendet. Der Erfolg Bidens wird zu einem Sieg der echten Demokratie stilisiert, obwohl nur die Hälfte des Volks abgestimmt hat. Seit Jahren gibt es nur noch die einzig wahren Verfechter der Demokratie auf der einen Seite und das extremistische Gesocks auf der anderen. Unpolitisch zu sein, wird nicht mehr geduldet. Zu allem wird eine politische Haltung abverlangt. Ständig muss man aufpassen, nicht etwas zu sagen, mit dem man anderen auf die Füße tritt oder mit dem man ein politisches Statement abgibt. Auch das treibt viele weg von der Demokratie. Da hilft es auch nicht, das Stimmpotenzial dieser Menschen zu ignorieren. Gebt euch keine Mühe, sie abzuschreiben – sie sind es längst.


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