Von Rassismus und Hypermoral

Lesedauer: 9 Minuten

Eine ältere Frau zieht im Stadtpark ihre Runden. Sie ist auf der Suche nach Pfandflaschen, mit denen sie ihr Abendessen bezahlen kann. Über sie redet niemand. Auch der kleine Junge, der nicht mit auf Klassenfahrt kann, weil das Geld fehlt, ist vergessen, als der Bus abfährt. Begünstigt werden solche Schicksale von Politikern, die eine schlechte Arbeit machen. Kritisiert werden diese Politiker aber erst, wenn sie etwas vermeintlich falsches sagen. Dann regt sich plötzlich ein breiter Widerstand, der vielen anderen unglaubwürdig und verlogen vorkommt. So wiegeln sich beide Seiten gegenseitig auf, weil jeder glaubt, rechtzuhaben. Kein einziges Problem wird so gelöst.

Stillose Verabschiedung

Linda Teuteberg ist fortan nicht mehr Generalsekretärin der FDP. Ihren Posten hat kürzlich Volker Wissing übernommen. Angeblich führten eine zu laxe Arbeitsauffassung und wenig Schlagkraft zu der Entscheidung der Parteispitze. Ob vielleicht auch politische Querelen hinter der Absetzung steckten, bleibt in der Gerüchteküche. Anders als andere Parteien schaffen es die Liberalen bisweilen gut, solche Dinge hinter den Kulissen zu klären.

Die scheidende Generalsekretärin hatte es in ihrer kurzen Amtszeit aber auch wirklich nicht leicht. Ihre Partei glänzte selten durch konstruktive Beiträge, welche vom Volk hätten gut aufgenommen werden können. Währenddessen schmierte die FDP in den Umfragewerten immer weiter ab – zeitweise sogar bis unter die 5-Prozent – Hürde. Das machtbesessene und skrupellose Verhalten des Thüringer Landtagsabgeordneten Thomas Kemmerich trug sicher auch nicht zur Beliebtheit der Partei bei. Für Linda Teuteberg aber bestimmt am schlimmsten: In ihrer Zeit als Generalsekretärin musste sie um die 300 Mal mit Christian Lindner den Tag beginnen.

Eine Frage der Geschmacklosigkeit

Dieser „Witz“ von Parteichef Lindner sorgt gerade für mächtig Furore. Dabei war dieser missglückte Kalauer nichts weiter als ein billiger Versuch, Linda Teutebergs Arbeit niederzumachen. Als frauenverachtender Kommentar eignet sich der Spruch von Christian Lindner nicht wirklich. Er hat zwar eine sexuelle Komponente provoziert, sie durch seinen Hinweis auf die Telefonate allerdings gleich wieder revidiert.

Das ändert aber nichts an der Geschmacklosigkeit von Lindners Ansprache, die sicherlich Kritik verdient hat. Der Shitstorm, der aber sogleich im Netz losging – come on. Hier noch mal ein echter sexistischer und frauenverachtender Kommentar: „Bei dir, liebe Linda, sind die Umfragewerte unserer Partei leider ins Bodenlose gefallen. Wenn ich dich so angeschaut habe, ist bei mir zwar eher was hochgegangen, aber lassen wir das.“ DAS wäre zutiefst frauenverachtend gewesen, weil es eine Frau in derbster Weise zum Objekt der männlichen Lust degradiert hätte. Daneben wirkt Lindners echtes Zitat fast wie ein Kompliment.

Ohne Kontrolle, ohne Kompass

Die Flut an Kritik und Beschimpfungen gegen Christian Linder, die auf dem Fuße folgten, suggerieren, dass er allein aufgrund dieser Äußerung nicht zur Führung einer Partei geeignet ist. Dabei ist Lindner in der Vergangenheit doch nun wirklich nicht als Paradebeispiel eines Chauvinisten aufgefallen. Der Mann hat einfach und ergreifend einen sehr fragwürdigen Sinn für Humor und eine Neigung, unpassende „Witze“ zu erzählen. Erinnert sei hier nur an seinen Ausrutscher mit Claudia Roth (pun intended).

Damit keine Zweifel aufkommen: Als Parteichef ist dieser Mann absolut fehl am Platz. In dieser Funktion hat er eine ganze Bewegung als sinnlos dargestellt. Mit dem Verweis darauf, das Klima sei ein Fall für die Experten, diskreditierte er alle jungen Menschen, die für Fridays for Future auf die Straße gehen, ohne deren politische Überzeugung und Standfestigkeit zu würdigen. Viel eher trug er dazu bei, alle diese Schülerinnen und Schüler als Schwänzer zu diffamieren.

Und auch sein fragwürdiges Verhalten nach dem Skandal im Thüringer Landtag ist gelinde gesagt befremdlich. Anstatt sich klipp und klar davon zu distanzieren, dass sich sein Parteifreund Kemmerich mit einer rechtsextremen Fraktion verbrüdert hat, faselte er von Demokratie und freier Abgeordnetenentscheidung. Das macht ihn zu einem schlechten Parteivorsitzenden, weil es offenbart, dass er sowohl die Kontrolle über die Partei als auch seinen eigenen politischen Kompass verloren hat.

Ein homophober Bundeskanzler?

Christian Linder ist beileibe nicht der einzige Politiker, dessen wirkliche Verfehlungen durch einen Shitstorm geradezu weggefegt wurden. Auch Friedrich Merz muss derzeit einiges an harscher Kritik einstecken. Die ungünstige Aneinanderreihung einiger Worte hat ihn in Teufelsküche gebracht. Auf die Frage, ob er ein Problem mit einem schwulen Bundeskanzler hätte, antwortete er mit einem klaren Nein. Die sexuelle Orientierung eines Menschen spielte für ihn keine Rolle. Dann kam sein folgenschwerer Fehler: Er fügte hinzu, dass seine Toleranz dort endete, wo Gesetze gebrochen würden oder Kinder zu Schaden kämen. Flugs beschuldigte man ihn, er hätte männliche Homosexualität in die Nähe von Pädophilie gerückt.

Das ist natürlich Unsinn. Er hat sich zwar missverständlich ausgedrückt, keine Frage, aber ihm allen Ernstes einen solchen Vorwurf zu machen – gewagt, gewagt. Vielleicht hat dieser Mann tatsächlich ein Problem damit, wenn die sexuelle Orientierung des einen den Schaden des anderen bedeutet. Das honoriert aber so gut wie niemand. Stattdessen wird eine viel zu aufgebauschte öffentliche Debatte darüber geführt, wie wenig deutlich sich Herr Merz von Homophobie distanziert hat.

Steile Thesen

Einen solchen Aufschrei gegen Merz hätten sich viele sicher auch gewünscht, als der gute Mann seinen Hut in den Ring um den CDU-Parteivorsitz warf. Immerhin steht der Name Friedrich Merz für eine finstere Politik des Sozialabbaus, für eine skrupellose Bevorzugung der wirtschaftlich Mächtigen und eine goldene Brücke des Lobbyismus in den Bundestag. Aber von wegen: In den Medien wurde Merz‘ Kandidatur lediglich als verspäteter Rachefeldzug gegen Angela Merkel abgetan.

Auch in anderen Verfassungsorganen wird immer wieder krampfhaft nach Spuren von Intoleranz und Homophobie gesucht. So musste es sich auch der in diesem Jahr zum Vorsitzenden des Bundesverfassungsgerichts ernannte Stephan Harbarth gefallen lassen, gerade von der queeren Presse als Homophober gebrandmarkt zu werden. Sein Verbrechen: Er hatte verfassungsrechtliche Bedenken gegen die Ehe für Alle angemeldet. Das mag sicherlich nicht jedem passen. Doch es gehört zu den Kernaufgaben eines Verfassungsrichters bei dem ein oder anderen Vorhaben, verfassungsrechtliche Bedenken kundzutun. Und die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz sollte besonders hohe Priorität haben, wenn es um Minderheiten geht. Hier sogleich Homophobie zu wittern, begünstigt solche, die wirklich homophob sind.

Opposition für das ganze Volk

Gerade Minderheiten verdienen den Respekt und den Schutz der Gesellschaft. Denn oftmals sind Minderheiten aufgrund ihrer geringen Größe nicht dazu in der Lage, sich ausreichend selbst zu schützen. Woher kommt aber dieser beinahe fetischistische Trend, Minderheiten inzwischen über alles zu stellen? Ganz bestimmt spielen politische Entscheidungen dabei eine Rolle. Es ist nämlich die politische Opposition, die die kritische Stimme im Land vorgibt. Die Opposition beeinflusst maßgeblich, worüber und in welcher Weise kritisch debattiert wird. Dank der ewigen GroKo wurde viele Jahre keiner der beiden großen Volksparteien diese Aufgabe zuteil. Die kritischen Fragen kamen stattdessen von Klientelparteien. Weil sich Union und SPD seit Jahren nicht sattregieren können, kommt kaum frischer Wind in das politische Geschehen. Andere Parteien geben die Kritik am Regierungshandeln vor. Sie kritisieren politische Entscheidungen häufig aus Sicht einer Minderheit. Was fehlt, ist eine durchsetzungsstarke oppositionelle Kraft, die gewisse Vorhaben im Sinne einer viel breiteren Öffentlichkeit an den Pranger stellt.

Passiert dies zu lange nicht, fühlen viele sich irgendwann vernachlässigt. Sie haben das Gefühl, die da oben machen sowieso, was sie wollen. Sie beobachten fassungslos einen moralischen Überbietungswettbewerb, weil jede Klientel behauptet, ihre Kritik sei die richtigere. Der Frust steigt. Und damit die Bereitschaft, auch den absurdesten Sündenbock anzunehmen.

Das machen sich vor allem rechte Populisten zunutze. Die Nischen- und Klientelparteien finden meist keine Antworten, die eine breitere Masse zufriedenstellt. Eine Volkspartei in harter Opposition zur Regierung könnte da schon eher was reißen. Zu verlockend war es aber gerade für die SPD nach dem Scheitern von Jamaika doch wieder in die Regierung zu gehen und die AfD die erste Geige in der Opposition spielen zu lassen. Linke und Grüne konnten es in der vergangenen Legislaturperiode nicht schaffen, alle Enttäuschten aufzufangen. Die haben sich andere gesucht, von denen sie sich besser verstanden fühlten.

Die äußere Rechte befreite sie von der gefühlten Hypermoralisierung der Gesellschaft und konnte mit plumpen Sprüchen und teilweise offenem Rassismus punkten. Die Flüchtlinge waren natürlich an den prekären Verhältnissen schuld. Das große Ganze war lange aus den Augen geraten. Stattdessen suchten immer mehr Menschen ihre eigene Erklärung dafür, warum es um das Land so schlecht steht. Die einen setzen auf gefühlte Intoleranz und Diskriminierung, die anderen auf den immerkriminellen Flüchtling. Beide Ansätze ändern an den Ursachen aber nichts.


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Coming-Out im Kino, Coming-Out auf der Straße

Lesedauer: 10 Minuten

Filme über das Coming-Out junger Leute gibt es heute noch und nöcher. Viele von ihnen ähneln den anderen. Es geht häufig darum, dass ein junger Mensch seine sexuelle Orientierung erkennt und lernt, sie anzunehmen und mit ihr zu leben. Andere Filme setzen sich gezielt mit der Thematik Homophobie und Diskriminierung auseinander. Wieder andere Filme verbinden all diese Elemente. So auch Heiner Carows Film „Coming Out“. Und trotzdem ist dieser Film herausragend. Mit dem Jahr 1989 erschien er sehr früh in der Geschichte des schwulen Kinos. Doch der Film begnügt sich nicht mit einer simplen Darstellung eines schmerzhaften Coming-Outs. Er geizt auch nicht mit Kritik an den damaligen Verhältnissen und einer Überstrapazierung so manchen Geistes.

Kultklassiker im Newsfeed

Die Algorithmen von Google und Co. sind schon manchmal unergründlich. Bisweilen haben sie allerdings auch eine so hohe Trefferquote, dass es fast unheimlich wird. Für Corona interessiert sich derzeit jeder und auch der Klimawandel ist noch nicht ganz vom Tisch. Artikel und Videos zu diesen Themen gibt es zuhauf, dazu muss nicht extra ein komplizierter Algorithmus generiert werden. Jenseits dieser offensichtlichen Themen wissen die Algorithmen der Internetgrößen aber doch ziemlich genau, was für jemanden interessant sein könnte. So habe ich dank YouTube erst kürzlich meine Leidenschaft für Haustiervideos entdeckt. 50 Leckerlies und gefühlt unendlich viele Umdrehungen bei der Jagd auf den eigenen Schwanz später schlug mir das World Wide Web allerdings noch einen weiteren Leckerbissen vor: den DDR-Kultfilm Coming Out, aus der Feder von Wolfram Witt und unter Regie von Heiner Carow.

Der Plot des Films ist schnell erklärt. Der junge Lehrer Philipp entdeckt seine Homosexualität und lernt Matthias kennen, mit dem er eine heimliche Beziehung beginnt. Problem: Philipp ist bereits mit seiner Kollegin Tanja zusammen. Es kommt wie es kommen muss. Philipps Geheimnis kommt für alle Beteiligten ans Licht. Schließlich muss Philipp lernen, zu seiner Veranlagung mit allen Konsequenzen zu stehen. Was zunächst ziemlich seicht und mainstreaming anmutet, war in der Spätphase der DDR eine regelrechte Revolution auf Leinwand. In keinem der beiden Deutschlands hatte es zuvor einen Film mit so zentral schwuler Thematik gegeben.

Mehr als schwules Kino

Okay, das historische ist damit abgehakt. Der Vollständigkeit halber erwähnt sei noch, dass der Film am 9. November 1989 Premiere feierte, ein Datum, welches für den Film sicherlich Fluch und Segen zugleich ist. Doch was ist es, das diesen Film von allen anderen frühen Versuchen unterscheidet, dem breiten Publikum das Thema Homosexualität und Coming-Out näherzubringen?

Die Antwort ist einfach: Der Film hat so viel mehr zu bieten als einen an sich recht flachen Plot, der trotz allem hochkontrovers war. Wer den Film schaut, hat eher das Gefühl, Zuschauer bei einem Theaterstück zu sein als auf dem heimischen Sofa mit aufgeklapptem Laptop zu sitzen. Denn der Film ist tatsächlich sehr intelligent inszeniert. An vielen Stellen muss der Zuschauer mitdenken, um zumindest einen Teil des gezeigten zu begreifen. Wichtigstes Instrument dazu sind Symbole, von denen der Film geradezu strotzt.

Spot the easter eggs

Manche dieser Symbole sind reine Easter Eggs, die wohl mit einem Augenzwinkern aufgenommen werden können. Wenn Philipp am Ende des Films endlich zu seiner sexuellen Orientierung steht, sieht man in der letzten Kameraeinstellung kurz ein Wendeverbotsschild. Philipp fährt mit seinem Fahrrad in ein neues, in ein befreites Leben, ein Umkehren ist nicht mehr möglich.

Andere Symbole im Film sind wesentlich wichtiger für die Handlung. Der Soundtrack des Films wird geschickt genutzt, um Einblicke in das Innenleben der Charaktere zu ermöglichen. Die fröhliche Musik aus den Clubs und die anmutigen Töne aus den Konzertsälen weichen immer wieder einer unbehaglichen Musik aus Streichern, die natürlich die innere Zerrissenheit und Verwirrung des Protagonisten Philipp wahrnehmbar macht.

Zwei in einem

Dann sind da noch greifbare Dinge, die im Laufe des Films eine immer größere Dynamik gewinnen. Der Schmuck von Tanja und Matthias ist die offensichtlichste Darstellung des Parallelismus, der dem Film von Beginn an innewohnt. Dabei sind es nicht nur die Armreifen, die Philipp beiden geliebten Personen schenkt oder die dreieckigen Ohrringe, die sowohl Tanja als auch Matthias am rechten Ohr tragen – mit besonderem Augenmerk auf die dreieckige Form der Ohrringe und der Konstellation zwischen den Charakteren. Es sind auch die Verläufe der beiden Parallelbeziehungen, die sich fast gleichen.

Ménage à troi: Für Philipp wird die Luft dünn (Matthias Freihof, r. mit Dagmar Manzel und Dirk Kummer).
Quelle: Heiner Carow. Coming Out, DDR 1989.

So spielen die Geburtstage der Charaktere eine zentrale Rolle. Philipp kommt Matthias an dessen Geburtstag näher. Gleich zweimal sitzt Philipp mit Tanja an deren Geburtstag in einem Konzert. Beim ersten ist sie glücklich mit ihm, beim zweiten kommt sie hinter sein Geheimnis und trennt sich von ihm. Auch die Szenen, in denen körperliche Liebe dargestellt wird, ähneln sich stark. Philipp kann sich nicht daran erinnern, dass er und Tanja einst zusammen studierten. Matthias‘ Namen erfährt Phillip erst, als er sich mit ihm in seine Wohnung zurückzieht. Er beginnt einen Satz mit „Du heißt Matthias.“ und antwortet damit sehr verspätet auf Matthias Feststellung „Du heißt Philipp!“ ungefähr zehn Laufzeitminuten früher.

In beiden Beziehungen wird Philipp auch leicht von der Gegenseite überrannt. Tanja sieht in ihm offenbar die Liebe ihres Lebens. Als er sie fragt, ob sie ihn als Mann attraktiv finde, interpretiert sie das als halben Heiratsantrag. Bei der ersten intimen Begegnung zwischen Philipp und Matthias nimmt Matthias sogleich die Stellung als Phillips fester Freund für sich in Anspruch. Philipp widerspricht all dem nicht. Er lässt sich treiben, in der naiven Hoffnung, beide halten zu können und beide glücklich zu machen. Am Ende macht er beide unglücklich und verliert auch beide.

Charaktere mit Wiedererkennungswert

So übersichtlich die Handlung an sich ist, so leicht überschaubar sind auch die wichtigen Charaktere im Film. Die meisten von ihnen wirken zunächst austauschbar und oberflächlich. Tatsächlich sind manche von ihnen derart dicht konstruiert, dass sie metaphorische Ausmaße annehmen. Tanja ist mehr als nur die zweite oder dritte Geige. Sie mag verletzt sein von Philipps Verhalten, doch es ist ihre persönliche Stärke, die ihr die Kraft gibt, ihren Geliebten freizugeben und nicht rachsüchtig zurückzuschlagen.

Phillips Figur genießt dafür einen hohen Wiedererkennungswert. Zum einen, weil er die Geschichte von Drehbuchautor Wolfram Witt nachzeichnet, zum anderen, weil seine Geschichte stellvertretend für so viele andere schwule junge Männer steht. In den Grundzügen kann sich jeder Schwule in die Gefühlswelt von Philipp versetzen. Dass ein Coming-Out nicht immer schmerzfrei verläuft, zeigen so viele andere Filme dieser Art aus den letzten Jahren.

Matthias (Dirk Kummer) hat Philipp endlich gefunden.
Quelle: Heiner Carow. Coming Out, DDR 1989.

Der Charakter von Matthias ist wahrscheinlich der metaphorischste im ganzen Film. Schon bei seiner ersten Begegnung mit Philipp ist er der geheimnisvolle Fremde, der die ganze Zeit auf Philipp gewartet hatte. Verdeutlicht wird das durch die weiße Theaterschminke im Gesicht, die eher wie eine Maske wirkt. Sein Gesicht, als Philipp ihm Tanja vorstellt, spricht wahrlich Bände. In sehr überspitzter Form ist Matthias die Verkörperung des Gefühls, das jeder Schwuler jedes Mal dann spürt, wenn er einen Jungen mit einem Mädchen sieht.

Lutz. Wer ist eigentlich Lutz?

Und dann ist da noch die Rolle des Lutz. Wer ist eigentlich Lutz? Zumindest fragte ich mich das, als Matthias diesen ominösen Kerl am Ende des Films als seinen neuen Partner präsentierte. Wo kam der auf einmal her? Erst nach und nach fiel mir auf, dass sich ebendieser Lutz wie ein viel zu schlecht wahrnehmbares Gespenst durch den Film schlängelte. Tatsächlich ist er nämlich einer von Philipps Schülern, der dem Lehrer mehr als einmal beachtlich nahekommt. Da ist zum einen die menschliche Geste, als Lutz seinem Lehrer in der Zauberflöte ein Taschentuch reicht. Zum anderen sieht man Lutz, wie er eine Mitschülerin barsch zur Seite stößt, nachdem Philipp von einer Gruppe Neonazis attackiert worden war.

Lutz ist der Inbegriff der Verworrenheit des ganzen Films. Nicht nur Philipps Gerüst aus Lügen und Ausflüchten wirkt brüchig. Auch der Inszenierung des Streifens ist nicht immer leicht zu folgen. Der ganz am Anfang gezeigte Selbstmordversuch von Matthias – passierte der wirklich vor der Handlung oder gab es einen Zeitsprung und Matthias versuchte sich erst nach der Trennung von Philipp das Leben zu nehmen? Immerhin spielt die Suizidszene an Silvester; die Trennung war zur Weihnachtszeit. Und noch eine Frage bleibt: War es vielleicht Lutz, der seinen Lehrer Philipp am Ende bei der Schulleitung angeschwärzt hat? Denn nicht nur Tanja muss im Laufe des Films zugeben: „Ich hab‘ den Lutz ganz anders eingeschätzt“.

Unter den Augen von Karl und Friedrich

Nachdem die Filmaffinen und Literaturbegeisterten während der letzten Absätze voll auf ihre Kosten kamen, hier noch eine andere Botschaft, die der Film vermittelt: Neben der offensichtlich homosexuellen Thematik kritisiert der Film nebenbei das gerade zu Ende gehende Regime der DDR. Der Film zeigt nicht nur auf, dass auch in der angeblich so progressiven DDR das Thema Liebe unter Männern ein Tabu war. Man brüstete sich gegenüber der Bundesrepublik, den Schwulenparagraphen bereits in den 1960ern abgeschafft zu haben, doch die gesellschaftliche Realität sah anders aus.

Feiger Angriff von rechts. Unmöglich in der DDR?
Quelle: Heiner Carow. Coming Out, DDR 1989.

Auch ein anderes totgeschwiegenes Problem in der DDR-Gesellschaft greift der Film rigoros auf. Die Führung des Arbeiter- und Bauernstaats nahm es so gerne für sich in Anspruch, dass Rechtsradikalismus ein Problem des kapitalistischen Auslands war. Das passt so gar nicht zu der Szene im Film, als eine Gruppe Neonazis in der S-Bahn einen ausländischen Fahrgast angreift und alle Fahrgäste stur wegsehen. Schließlich greift Philipp beherzt ein. Er kassiert selbst Schläge, kann die Skinheads allerdings am nächsten Bahnhof aus der Bahn werfen. Am Marx-Engels – Platz. Ge-ni-jal.

Wir haben die Schwulen vergessen

Ebenso verbissen behaupteten die hohen Tiere der DDR – und einige Menschen tun das bis heute – es hätte keine sozialen Unterschiede zwischen den Menschen gegeben. Die Randfigur Redford widerlegt diesen Mythos. Er erinnert Philipp an ein erotisches Intermezzo zu Schulzeiten und konfrontiert ihn damit, dass Philipps Eltern ihm großzügige Geschenke machten, um die Beziehung zu unterbinden. Seinen Satz „Und weil meine Eltern nicht so…“ muss er nicht beenden. Der Zuschauer weiß, dass er vom sozialen Unterschied zwischen Philipps und seiner Familie spricht. Bezeichnenderweise läuft Philipp erst dann aus dem Raum. Den Satz zu beenden und die gravierenden Unterschiede in der Gesellschaft explizit auszusprechen – so weit wollte, oder konnte, man dann doch nicht gehen.

Bei so viel impliziter und expliziter Kritik an den Verhältnissen ist allerdings klar, dass der Film erst veröffentlicht werden durfte, als es mit der DDR spürbar zu Ende ging. Früher wäre der Film undenkbar gewesen. Walters Monolog am Ende findet noch einmal deutliche Worte. Er beschwört die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen im Kommunismus. Doch er zieht auch ein düsteres Resümee: „Bloß die Schwulen, die haben wir vergessen.“

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