Programme statt Personen

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Wer wird Deutschland ab 2025 regieren? Ins Spiel gebracht haben sich mittlerweile eine ganze Reihe von Personen unterschiedlicher Parteien. Die Auswahl an potenziellen Bundeskanzlern war selten so groß wie heute. Keine der im Bundestag vertretenen Parteien kann aus ihren Zustimmungswerten einen klaren Regierungsauftrag für sich beanspruchen, zu leicht könnte sie überstimmt werden. Die Zersplitterung des Parteiensystems macht stattdessen Gespräche auf Augenhöhe immer nötiger.

Klare Sache

Deutschland braucht einen neuen Kanzler. Mit jedem weiteren Tag im Amt macht Olaf Scholz (SPD) das deutlicher. Die Union sieht ihre Chance gekommen und scharrt schon mit den Hufen. Die Bundestagswahl ist bereits zwölf Monate vor dem Wahlsonntag ein Thema. Ginge es nach der CDU, hieße der nächste Bundeskanzler Friedrich Merz.

Seine Ernennung zum Kanzlerkandidaten ging überraschend geräuschlos über die Bühne. Auf einen echten Kampf ums Kanzleramt hat die Union diesmal verzichtet. Zwar brachte sich auch Markus Söder von der bayerischen Schwesterpartei in Stellung, da dieser aber am laufenden Band Kanzler werden will, nimmt seine Ambitionen niemand mehr ernst.

Um dem ganzen nachträglich doch noch ein wenig Spannung zu verleihen, brachte man geschwind den Namen „Hendrik Wüst“ ins Spiel. Die Kandidatur des unbekannten Ministerpräsidenten war kaum in den Medien, da stand Herr Merz schon als Sieger fest.

Ein Verlegenheitskandidat?

Die Union braucht dieses Theater. Einerseits betont sie immer wieder, der Parteichef hätte das Erstzugriffsrecht, andererseits gibt es dann doch immer wieder andere Interessenten. Dieses Phänomen gab es schon zu Amtszeiten von Angela Merkel, die neben ihrer Tätigkeit als Parteichefin sogar zufällig selbst Bundeskanzlerin war und ihre erneute Kandidatur trotzdem immer irgendwie rechtfertigen musste.

In gewisser Weise können die Wähler der Union dennoch dankbar sein, dass sie sich so schnell auf Friedrich Merz festgelegt hat. Was dabei herauskommt, wenn die Partei die K-Frage zu lange unbeantwortet lässt, sieht man am Wahlkampf 2021, als den Konservativen quasi nichts anderes übrigblieb, als den tragikomischen Armin Laschet ins Rennen zu schicken.

Mit der wenig überraschenden Nominierung von Friedrich Merz stand auch die SPD unter Zugzwang. Bei den Sozen war das Ergebnis ebenso vorhersehbar: Olaf Scholz soll die Partei ein weiteres Mal in die Bundestagswahl führen. Seine Nominierung ist logisch, aber völlig aussichtslos. Es ist unwahrscheinlich, dass sich Merz einen Fau-pax leistet, der gewaltig genug ist, um ihn den Wahlsieg zu kosten. Auch in den letzten Monaten hat er viel Ekelhaftes von sich gegeben – die Umfragewerte der Union berührte das nicht.

Zuwachs für’s Kanzlerduell

Zumindest werden die beiden in geselliger Runde miteinander streiten. Denn wie schon bei der letzten Bundestagswahl greifen auch andere Parteien nach der Macht. Die AfD hat zwar leicht abgebaut, liegt in den Umfragen aber nur knapp unter 20 Prozent. Die Wahlergebnisse in Brandenburg, Sachsen und Thüringen verliehen der Kanzlerkandidatur von Alice Weidel den letzten Schliff. Es ist das erste Mal in der bundesdeutschen Geschichte, dass sich eine rechtsextreme Partei ernsthafte Ambitionen auf das Kanzleramt leisten kann.

Die Grünen glauben indes, sie hätten ein Dauerabo für die Kanzlerkandidatur gewonnen. Mit Robert Habeck setzen sie dieses Mal zwar auf einen charismatischen Politiker, dieses Einlenken kommt aber vier Jahre zu spät. Dass die Partei gerade so noch auf zweistellige Werte kommt, bei der EU-Wahl knapp halbiert wurde und gerade aus zwei Landtagen geflogen ist, scheint für die selbsternannte Klimapartei kein Problem zu sein.

Kanzlerkandidat kann heute offenbar jeder werden. BSW-Chefin Sahra Wagenknecht hat eine formale Kandidatur gar nicht nötig – sie ist sowieso omnipräsent in Talkshows und Wahlsendungen. Der Gipfel an Lächerlichkeit wäre erreicht, wenn sich auch Die Linke anschickt, einen Kanzlerkandidaten zu opfern. Getreu dem alten FDP-Motto: Auch mit wenigen Prozentpunkten kann man Regierungschef werden.

Wahlkampf der Visionen

Das Duell ums Kanzleramt ist nicht mehr zeitgemäß. Schon bei der letzten Bundestagswahl stellten sich drei Kandidaten den Fragen der Moderatoren. In der Zwischenzeit haben sich die Zustimmungswerte weiter verschoben. Mit der Union gibt es zwar eine klar führende Kraft, aber selbst mit ihren traurigen 30 Prozent wird sie dem Anspruch einer Volkspartei nicht mehr gerecht.

Seit 2021 erleben wir das erste Mal seit 60 Jahren eine Koalition auf Bundesebene mit mehr als zwei Fraktionen. In Rede stand eine solche Konstellation aber schon seit einigen Jahren. Solche Regierungsbildungen sind immer die Folge eines Machtverlusts einzelner Parteien. Auch die Macht künftiger Kanzler wird dadurch geschmälert.

Deswegen würden Gesprächsrunden mit den Spitzenkandidaten sämtlicher aussichtsreicher Parteien die politische Realität im Land deutlich besser abbilden. Im Vordergrund stünde nicht mehr die Frage, wer nächster deutscher Bundeskanzler wird. Der Fokus läge stattdessen auf den Programmen und Vorschlägen der einzelnen Parteien. Da selbst Koalitionen mit zwei Parteien ein Auslaufmodell sind, könnten auf diese Weise besonders gut mögliche Schnittmengen aber auch Unterschiede zwischen den Akteuren sichtbar werden. Auch der Wahlkampf wäre dann weniger auf Personen zugeschnitten, sondern auf Inhalte und Visionen.


Deutschland ist politisch gespalten wie selten. Die Vielzahl an Parteien im Bundestag sind das beste Zeugnis dafür. Diese Spaltung ist auf Dauer nur durch Dialogbereitschaft und gegenseitigen Austausch zu überwinden. Wer allerdings die Schotten dichtmacht und sich in exklusiver Kungelrunde zusammentut, obwohl andere Parteien mindestens den gleichen Anspruch auf Teilnahme hätten, verspielt das letzte bisschen Glaubwürdigkeit, das bleibt, um die Demokratie vor ihren Feinden zu verteidigen.

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Realitätsverweigerung terminalis

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Nie wurde mehr auf eine Wahl hingefiebert als bei der EU-Wahl am 9. Juni. Jeder wusste, dass diese Wahl entscheidend sein wird für die Zukunft Europas. Das Ergebnis lässt viele entsetzt zurück. In fast allen EU-Ländern triumphiert der rechte Rand, Parteien des Establishments wurden ein weiteres Mal hart abgestraft. Die Ergebnisse der deutschen Regierungsparteien sind selbst in Summe weniger als ein schlechter Witz. Doch von Einsicht keine Spur. Anstatt endlich aufzuarbeiten, woran der Rechtsruck liegen könnte, geht die Talfahrt der europäischen Demokratie weiter wie zuvor. Es ist zum Davonlaufen.

Die Wahlen vom 9. Juni werden die EU verändern. Was sich schon 2019 abgezeichnet hat, erreichte bei der gerade zurückliegenden EU-Wahl eine völlig neue Dimension: Die extreme Rechte in Europa ist so stark wie nie zuvor. Fast alle Mitgliedsstaaten der Union erlebten in den letzten Jahren einen enormen politischen Rechtsruck auf nationaler Ebene, der sich nun in Europa fortsetzt. Schon vor der Wahl gab es zwei sehr rechte Fraktionen im Europäischen Parlament, möglich sind inzwischen sogar drei davon. Was ein Freudenfest für die Neofaschisten ist, bedeutet für die demokratischen Kräfte eine herbe Niederlage. Sie scheinen das nur noch nicht ganz begriffen zu haben.

Das Establishment in Feierstimmung

Wieder-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) gratulierte ihrer Partei noch am Wahlabend beinahe routiniert zu diesem vorgeblich fulminanten Erfolg. Dass die stärkste Partei gerade einmal so 30 Prozent der Stimmen einheimste – daran störte sich von den Christdemokraten offenbar niemand. Keinen schien es zu interessieren, dass man nur noch doppelt so stark abschnitt wie der rechte Rand.

Vielleicht kann man der CDU die Feierlaune sogar ein bisschen abnehmen. Was indes die Ampelparteien in Reaktion auf ihre Wahlergebnisse abzogen, verdient zweifellos das Prädikat „unterirdisch“. Selten schalteten Wahlverlierer so schnell auf Normal um wie die deutschen Regierungsparteien. Während es die Grünen anscheinend nicht im entferntesten juckt, dass ihnen fast die Hälfte ihrer Wähler abhandengekommen ist und sich insbesondere die Jungwähler von ihnen abgewendet haben, verkauft die FDP ihre Stagnation als großartigen Triumph. Auch die SPD hält sich mit vollmundigen Erneuerungsversprechen vornehm zurück. Sie kann nicht anders: Nach der Serie von Wahlniederlagen seit 2009, die keine grundsätzliche personelle und programmatische Neuaufstellung nach sich zogen, würden ihr das die Wählerinnen und Wähler sowieso nicht glauben.

Kein Grund zur Freude

Die AfD ist stark wie nie. Die demokratischen Parteien haben es bislang nicht vermocht, die Gefahr von rechts zu bannen. Ausgrenzen und diffamieren? Hat nicht geklappt. Rechtsextremes Gedankengut offenlegen? Hat nicht geklappt. Seit einiger Zeit nun schießt sich das Establishment auf einzelne Politiker der AfD ein und hofft, dass deren kriminelle Umtriebe den Wählern die Augen öffnen. Aber auch das wird nicht klappen. Wie sollen sich die Wählerinnen und Wähler besinnen, wenn die Parteien nicht mit gutem Beispiel vorangehen? In einer Parteiendemokratie gilt: Die Partei muss zum Wähler passen und nicht andersrum.

Stattdessen wird jeder Moment der Schwäche bei der AfD als übergroßer Sieg gefeiert. Kaum verliert Rechtsaußen einen Prozentpunkt in den Umfragen, ist der demokratische Umschwung eingeläutet. Die erschreckenden 16 Prozent bei der EU-Wahl werden reflexartig relativiert – das ist ja nur den starken Ergebnissen im Osten zu verdanken. Auch auf dem verfrühten Ausscheiden des Spitzenkandidaten wird bis zur Lächerlichkeit herumgeritten. Wie stark das Ergebnis wohl ausgefallen wäre, hätte die AfD einen Spitzenkandidaten gehabt?

Merz vs. Weidel?

Umfragewerte politischer Parteien sind mit Vorsicht zu genießen, aber sie sind ein wichtiges Instrument, um die Stimmung im Land zu messen. Und die Zahlen sind eindeutig: Seit Monaten ist die AfD bundesweit die zweitstärkste politische Kraft im Land. In den ostdeutschen Bundesländern sieht es noch verheerender aus. Hier hat die AfD flächendeckend gute Chancen auf den Sitz des Ministerpräsidenten. Thüringen hat sich dieser Realität gestellt und ließ noch vor Anpfiff des Wahlkampfs zur Landtagswahl im TV-Duell Mario Voigt von der CDU gegen Björn Höcke von der AfD antreten.

Das Medienereignis war hart umstritten und doch ist es näher an der Wirklichkeit als das Gebaren der Bundespolitik. Außenministerin Baerbock ließ verlautbaren, sie stünde für eine erneute Kanzlerkandidatur nicht zur Verfügung. Lieber möchte sie sich als Außenministerin um die Krisen in der Welt kümmern. Kein Wort darüber, dass die Kanzlerkandidatur einer 12-Prozent – Partei im Kabarett besser aufgehoben wäre. Würden sich die Bundesparteien ehrlichmachen, müssten sich im TV-Duell 2025 Friedrich Merz und Alice Weidel gegenüberstehen.

Realitätsverweigerung im Endstadium

Doch je stärker die AfD wird, je ungehemmter sich die rechte Fratze zeigt und je mehr Wähler den demokratischen Parteien den Rücken kehren, desto verbissener hält das Establishment an seinem Kurs fest. Dass die Unzufriedenheit und Empörung in der Bevölkerung nicht gleichbedeutend mit rechtsextremer Gesinnung sind, geht nicht in die Köpfe von Politikern wie Klingbeil, Lang und Göring-Eckart.

Die Ampelparteien feiern sich als Fortschrittskoalition und verweigern sich trotzdem hartnäckig der Realität und der Veränderung. Niemand erwartet von SPD, FDP oder Grünen, dass sie ihre Grundüberzeugungen fallenlassen – das haben letztere sowieso längst getan. Aber Politik muss Antworten auf die Wirklichkeit geben. Es gibt ebenso konservative wie sozialdemokratische, liberale oder grüne Lösungsansätze, um den aktuellen Herausforderungen gerechtzuwerden. Doch die Scheuklappenpolitik der Ampel verhindert, dass die Probleme überhaupt gesehen und beherzt angegangen werden. Stattdessen kommen die lautesten Antworten vom rechten Rand.

Eines muss man den Regierungsparteien jedoch lassen: Ausdauer haben sie. Selbst desaströse Wahlergebnisse wie die vom 9. Juni führen nicht zu einer gründlichen Kurskorrektur. Sie wursteln weiter in ihrem politischen Paralleluniversum herum, in dem die Probleme der Bürger im Zweifelsfall hinter der Verwirklichung einer gutgemeinten Ideologie zurücktreten müssen. Selbsterhaltungstrieb sieht wahrlich anders aus, denn dieser Weg führt über kurz oder lang in die politische Bedeutungslosigkeit. Auf Länderebene ist das mitunter schon realisiert. Vielleicht bewahrt sie ja die nächste Bundestagswahl vor diesem Schicksal.

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Brandmauer mit Substanz

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CDU-Chef Friedrich Merz im Kreuzfeuer: Seine unbedachten Äußerungen zur AfD haben ihn mal wieder in Teufelsküche gebracht. Die Brandmauer zur AfD steht bei den Konservativen nach wie vor auf einem wackeligen Fundament. Die Rechtsaußen-Partei lässt das weitgehend kalt. Sie erfreut sich an einem Umfragehoch nach dem nächsten. Sie profitiert von einer Brandmauer ganz anderer Art – der unverständigen Front gegen ihre Wähler.

Ein Hoch auf die Brandauer

Ein neuer Shitstorm ist entbrannt. Und wieder einmal geht es um die AfD. Im Zentrum der hitzigen Diskussion steht CDU-Chef Friedrich Merz. Er hatte sich in den letzten Wochen wiederholt unglücklich geäußert. Unter anderem warb er im ZDF-Sommerinterview für einen pragmatischen Umgang mit der AfD auf kommunaler Ebene.

Besonders woke Kritiker werfen Merz nun vor, die Brandmauer der Union gegenüber den Rechtsextremen endgültig eingerissen zu haben. Sie können nicht akzeptieren, dass der CDU-Vorsitzende eine mögliche Zusammenarbeit mit der AfD in den Städten und Gemeinden suggerierte. Merz bemüht sich zwischenzeitlich um Schadenbegrenzung: Er habe das alles nicht so gemeint und schließe natürlich auch für die Zukunft jegliche Zusammenarbeit mit der AfD aus. In diesem kalkulierten Zurückrudern steht der ehemalige Chef von BlackRock Rechtsaußen tatsächlich in nichts nach.

Offen bleibt, wie für Merz ein „pragmatischer Umgang mit der AfD“ konkret aussieht. Dass er bei seiner Wortwahl mächtig danebengegriffen hat, steht außer Frage. Dass er die Union bei einer Pressekonferenz als die wahre Alternative für Deutschland mit Substanz bezeichnet hat, reißt für viele seiner Kritiker dem Fass allerdings den Boden aus. Auch parteiintern regt sich Widerstand: Auf keinen Fall will man sprachlich mit der extremen Rechten in Verbindung gebracht werden.

Abgrenzungsprobleme

Beide Debatten sind kurzsichtig und realitätsfremd. Wer wenn nicht der Oppositionsführer hat das Recht, seine eigene Partei als die Alternative für das Land zu bezeichnen? Selbstverständlich liegt es in der Natur der stärksten Oppositionspartei, die besten Gegenkonzepte zur Regierung für sich zu beanspruchen. Dass die Äußerung nebenbei eine gefährliche antidemokratische Partei herabstuft, ist im Grunde begrüßenswert.

Eine Nähe zwischen Union und AfD ist übrigens auch ohne die kontroversen Äußerungen von Friedrich Merz nicht von der Hand zu weisen. In manchen Debatten im Bundestag erhalten Redner der Union inzwischen mitunter mehr Applaus von der AfD als Sahra Wagenknecht. Zwei CSU-Abgeordnete stimmten im Europaausschuss des Bundestags Anfang Juli gemeinsam mit der AfD ab. Natürlich stellt sich dabei grundsätzlich die Frage, wie ratsam es ist, grundsätzlich anders abzustimmen als die AfD und die eigenen Überzeugungen hinten anzustellen.

Der Fall Thüringen zeigte überdies deutlich, dass es nicht nur in der CDU ein Problem mit der Abgrenzung zur AfD gibt. Um die politische Linke auszuschalten, machte man dort bei der denkwürdigen Wahl des Ministerpräsidenten im Februar 2020 gemeinsame Sache mit der Höcke-Partei. Die angebliche Brandmauer zur AfD bestand schon damals aus nichts weiter als einem Stoffvorhang.

Kein Platz für AfD-Wähler

Die fehlende Brandmauer zur Rechtsaußen-Partei zeigt sich auch daran, dass über keine andere Partei so häufig diskutiert wird wie über die AfD. Wo eine Brandmauer jedoch von Anfang an ausgesprochen gut funktioniert hat, ist gegenüber den Wählern und Sympathisanten der AfD. Für viele gibt es bis heute nichts Entsetzlicheres als die AfD zu wählen. Das initiale Entsetzen der Jahre 2013 und 2014, wie man überhaupt auf die Idee kommen könne, einer solchen Partei seine Stimme zu geben, hat sich bei vielen Menschen etabliert und festgesetzt und eine sachliche Auseinandersetzung mit der fragwürdigen Wahlentscheidung immer schon zuverlässig verhindert.

Erklärtes Ziel ist es nach wie vor, die Ergebnisse der AfD zu schmälern. Mit deren Wählern möchte man aber am liebsten nichts zu tun haben. Das ist eine Milchmädchenrechnung, die leider auf Gegenseitigkeit beruht. Die heutigen potenziellen 20 Prozent der AfD-Wähler haben überhaupt keinen Anreiz zu einer der demokratischen Parteien zurückzukehren. Immer wieder bekamen sie zu hören, warum sie denn auf gar keinen Fall die blaue Partei mit dem roten Pfeil wählen dürften. Immer besser konnten sie es sich in der Rolle der querdenken Revoluzzer bequemmachen. Immer seltener gab es für sie Gründe umzukehren. Enttäuscht sind sie gegangen und überzeugt sind sie geblieben.

Lückenfüller

Selbst Menschen, die mit der AfD so gar nichts am Hut haben, wird immer wieder eine ideologische Nähe zu den rechten Brandstiftern unterstellt. Häufigster Grund: Sie haben Themen angesprochen, zu denen sich zuvor die AfD positioniert hatte. Wer auf Nummer sicher gehen will, sollte an manchen Stellen lieber den Mund halten oder lauthals das Gegenteil dessen verkünden, was die AfD sagt. Dass dieses krampfhafte Aussparen von Themen teilweise lächerlich anmutet und ausschließlich der AfD in die Hände spielt, scheint den Wortführern anderer Parteien egal zu sein.

Diese Tabuisierung bestimmter Sichtweisen erwies sich besonders in der Pandemie als fatal. Geschickt sprach die AfD solche Menschen an, die Zweifel an der Wirksamkeit der Impfstoffe hatten. Die anderen Parteien reagierten mit einer noch vehementeren Verteidigung ihrer Impfstrategie und diskutierten ernsthaft eine allgemeine Impfpflicht. Wer so übergriffig gegen konträre Meinungen vorgeht, braucht sich nicht zu wundern, wenn die Menschen scharenweise nach rechts abwandern.

Zeit für Debatten

Besonders zu Zeiten der Großen Koalitionen war von enttäuschten Wählern immer wieder zu hören, die ehemaligen Volksparteien wären in ihren Programmatiken gar nicht mehr unterscheidbar. Inzwischen gilt das auch für die übrigen im Bundestag sitzenden demokratischen Parteien. Dass viele von ihnen in trauter Einigkeit Stimmung gegen die AfD und ihre Wähler machen, bestätigt diesen Trend eher als dass er ihm etwas entgegensetzt.

Von einer eindeutigen Positionierung und einem unterscheidbaren Profil hätten in den vergangenen Jahren besonders linke Parteien profitieren können. Dass linke Positionen durchaus erfolgreich sein können und sogar im Sinne sehr vieler Menschen sind, zeigte eindrucksvoll der Schulz-Hype Anfang 2017. Als der frischgebackene SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz in seinem Wahlkampf schwerpunktmäßig auf das Thema Gerechtigkeit setzte, erlebte die SPD ein Umfragehoch wie lange nicht mehr. Die Werte der AfD schmolzen indessen dahin. Wären die Sprüche von Sankt Martin ernstgemeint gewesen, hätte die SPD durchaus schon vier Jahre früher den Kanzler stellen können.

Natürlich können sich die unterschiedlichen Parteien nur dann profilieren, wenn sie wieder eine breite Diskussion zu bestimmten Themen zulassen, anstatt sie angestrengt zu unterdrücken. Das führt nämlich momentan dazu, dass sich die Menschen weder vertreten noch verstanden fühlen. Zuflucht bietet ihnen die extreme Rechte, die zwar keine Visionen für dieses Land hat, aber zumindest eine Plattform bietet für Frust und Enttäuschung. Doch Demokratie kennt nur den Mittelweg – und der spielt sich zwischen den Polen ab.


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