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Ohne entschlossenes Gegenlenken könnte der Bundestag nach der nächsten Wahl mehr als 1.000 Abgeordnete zählen. Handlungsbedarf zur Reduzierung der Sitze ist daher dringend geboten. Die Ampelkoalition hat sich nun etwas ganz Besonderes überlegt: die Abschaffung von Überhang- und Ausgleichsmandaten und die Streichung der Grundmandatsklausel. Mathematisch geht ihr Plan voll auf, die Demokratie bleibt währenddessen auf der Strecke.
Bundestag ohne Bayern?
Der Bundestag ist zu groß. Das Problem ist seit Jahren offensichtlich. Schon beim Umzug ins Reichstagsgebäude Ende der 1990er-Jahre beherbergte die berühmte Kuppel 665 Abgeordnete. Heute zwängen sich regelmäßig bis zu 736 Abgeordnete in den Plenarsaal. Der Handlungsbedarf lag auf der Hand, eine Lösung ließ aber bis vor kurzem auf sich warten. Nun ist sie da, die langersehnte Wahlrechtsreform – und mit ihr jede Menge neue Probleme.
Die von der Regierungsmehrheit getragenen Fraktionen haben am 17. März im Grunde nichts anderes beschlossen als eine Schwächung der Direktmandate. Durch die Reform ist die Sitzzuteilung im Bundestag ab sofort allein vom Zweitstimmenergebnis abhängig. Die Erststimmen spielen bei dieser Frage keine Rolle mehr. Ein errungenes Direktmandat erhöht zwar die Chance, in den Bundestag einzuziehen, der Sieg in einem Wahlkreis ist aber lange keine Garantie mehr für einen Sitz im Parlament. Selbst wer seine Mitstreiter weit hinter sich lässt, kann sich fortan nicht mehr darauf verlassen, in den nächsten vier Jahren in Berlin zu sitzen.
In der Theorie bedeutet das: Eine Partei könnte alle Direktmandate eines Bundeslands gewinnen, aber keinen einzigen Sitz im Bundestag erhalten, weil ihr Zweitstimmenergebnis dazu nicht ausreicht. In der Praxis heißt das: Die CSU geht im Zweifelsfall leer aus, obwohl sie in Bayern enormen Rückhalt hat. Allein dieses bildhafte Beispiel reicht aus, um die großen Zweifel an der Reform zu verstehen.
Die Christlich-Sozialen haben bei den vergangenen Bundestagswahlen kontinuierlich schwächer abgeschnitten und müssen inzwischen darum bangen, die 5-Prozent – Hürde zu meistern. Trotzdem gewinnen sie regelmäßig die meisten Wahlkreise im größten deutschen Bundesland. Ihre personelle Repräsentanz im Bundestag dürfte damit außer Frage stehen.
Wahlkampf ohne Sinn?
Das Direktmandat ist der direkte Draht zum Wahlkreis. Die gerade beschlossene Wahlrechtsreform missachtet diesen Grundsatz, weil sie die Bindung zwischen Abgeordneten und Wählern schwächt. Die Abgeordneten werden auch in Zukunft einen Bezug zu ihren Wahlkreisen haben, aber es sind eben nicht mehr zwingend die Kandidaten im Bundestag vertreten, welche die größte Zustimmung hinter sich wissen. Viele Wähler werden sich fragen: Warum soll ich einer bestimmten Person meine Stimme geben, wenn die Vertretung meiner persönlichen Interessen damit nicht wahrscheinlicher wird?
Auf der anderen Seite werden es besonders kleine Parteien künftig schwerer haben, motivierte Kandidaten für ihren Wahlkampf zu gewinnen. Wenn absehbar ist, dass die Partei nur mit Mühe mindestens 5 Prozent der Zweitstimmen holen wird, dann macht die Performance der Direktkandidaten keinen Unterschied mehr. Kandidaten von Parteien, die im Trend liegen andererseits, brauchen sich nicht besonders abzumühen: Ihr Einzug in den Bundestag ist schon allein aufgrund des Zweitstimmenergebnisses wahrscheinlicher. Die Reform hat also auch einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Wahlkampf. Es besteht das Risiko politisch verwahrloster Wahlkreise, weil der Wählerwille nicht ausreichend repräsentiert wird und die Kandidaten ein demotivierendes Szenario vor Augen haben.
Immer auf die Kleinen
Völlig überraschend erweiterten die Regierungsparteien ihre Wahlrechtsreform um die Streichung der Grundmandatsklausel. Selbst die Fachpresse war von dieser Entwicklung überrumpelt. Fraktionslose Abgeordnete sind in den künftigen Bundestagen also nicht mehr vorgesehen. Nur wenn gewählte Abgeordnete ihre Fraktionen verlassen, gehören sie dem Parlament weiterhin als Fraktionslose an. Die Abbildung regionaler politischer Präferenzen wird so unterbunden.
Es ist in Zukunft nämlich völlig unerheblich, ob Parteien in bestimmten Wahlkreisen und Regionen deutlich mehr Zustimmung erfahren als im Bundesdurchschnitt. In der Geschichte der Bundesrepublik gab und gibt es Parteien, die in manchen Gegenden besonders punkten können und Wahlkreise für sich bestimmen, in anderen Gegenden aber nur die dritte oder vierte Geige spielen. Sie konnten bislang trotzdem Abgeordnete ins Parlament entsenden oder sogar eine Abgeordnetengruppe bilden.
In den 1990er-Jahren profitierte von dieser Regelung besonders die damalige PDS. Auch bei der Bundestagswahl 2021 rettete die Grundmandatsklausel der heutigen Linken den Kopf. Von jeher hatten gerade kleine Parteien durch die Klausel sprichwörtlich einen Fuß in der Tür. Auch wenn ihr Zweitstimmenergebnis nicht für die Bildung einer Fraktion ausreichte, konnten die Wählerinnen und Wähler auf ihre politischen Belange auf sich aufmerksam machen.
Der Wegfall der Grundmandatsklausel ist somit ein Anschlag auf demokratische Entwicklung und Innovation. Vor allem kleine und aufkeimende Parteien werden dadurch von Anfang an abgewürgt. Ihre Chancen, im Bundestag repräsentiert zu sein, sinken erheblich durch den Wegfall einer Regelung, die sich als überaus demokratisch erwiesen hat.
Die unvollständige Reform
Die kürzlich beschlossene Wahlrechtsreform schließt demokratische Türen, ohne an anderer Stelle neue zu öffnen. Beim Ausdruck des Wählerwillens sieht sie einseitig Einschränkungen vor. Die Erststimmen werden künftig weniger zählen als die Zweistimmen, direkt gewählte Kandidaten verpassen womöglich den Einzug in den Bundestag, regionale politische Bewegungen und Strömungen werden konsequent ignoriert. All diese Defizite lassen sich durch einfache und nachvollziehbare Maßnahmen ausgleichen.
Fällt das Direktmandat als Garantie für den Bundestageinzug weg, muss die Sperrklausel sinken. Auf diese Weise wird gewährleistet, dass Parteien mit hohen Erst- aber niedrigen Zweistimmenergebnissen im Bundestag vertreten sind. Senkt man die Hürde zum Beispiel auf 3 Prozent, wäre es außerdem wahrscheinlicher, dass vorrangig Kandidaten von kleinen Parteien einziehen, die ein Direktmandat errungen haben.
Abgesehen davon, sind Direktmandate durch die neue Reform obsolet geworden. Sie spielen in der Abbildung des Wählerwillens künftig bestenfalls eine nebengeordnete Rolle. Wenn bei unseren Wahlen aber weiterhin der Gleichheitsgrundsatz gelten soll, müssen sie ganz abgeschafft werden. Nach der neuen Regelung verursachen sie einzig ein Ungleichgewicht. Solange die Balance nicht wiederhergestellt ist, bleibt die Reform unvollständig und unehrlich.
Die regierungstragenden Fraktionen haben am 17. März Geschichte geschrieben. Sie haben Schluss gemacht mit einem Wahlsystem, das überaus demokratisch war, das Parlament aber unnötig aufblähte. Mit einem Schnellschuss haben sie beide Aspekte dieses Systems überwunden. Künftige Wahlen werden dadurch nicht gerechter, sondern undemokratischer.