An der Realität vorbei

Lesedauer: 6 Minuten

Seit vielen Jahren ist eine Gruppe im Deutschen Bundestag hoffnungslos überrepräsentiert: die Akademiker. Abgeordnete, die zuvor als Arbeiter oder Angestellte tätig waren, werden im Parlament immer seltener. Doch selbst die Gelehrten unter den Abgeordneten arbeiten an einer Scheinwelt. Immer wieder kommen sie wegen erschlichener Doktortitel in die Schlagzeilen – zuletzt Ex-Familienministerin Franziska Giffey. Eine Repräsentanz der Bevölkerung außerhalb des Reichstagsgebäudes ist schon lange nicht mehr gegeben. Direktdemokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten könnten dieses Problem beheben.

Nach der erneuten Überprüfung ihrer Doktorarbeit zeichnet sich für Franziska Giffey ab, dass sie ihren Doktortitel verlieren wird. Um einer noch größeren öffentlichen Schmach zu entgehen, trat sie daher vor einigen Tagen von ihrem Amt als Bundesfamilienministerin zurück. Das Ressort für Familie, Frauen, Senioren und Jugend übernimmt bis zur Bundestagswahl kommissarisch die amtierende Justizministerin Christine Lambrecht. Mit der freiwilligen Abgabe ihres Doktortitels versuchte sich die ehemalige Familienministerin noch vor einigen Monaten aus der Schusslinie zu ziehen. Auch auf eine Kandidatur als Parteivorsitzende verzichtete sie mit Blick auf die Plagiatsaffäre. Ganz schön viel Verzicht und ganz schön viel Reue, könnte man da meinen. Auf ihre Kandidatur als SPD-Spitzenkandidatin für das Berliner Abgeordnetenhaus möchte die falsche Doktorin aber nicht verzichten.

Ein Skandal nach dem anderen

Wieder einmal wurde eine hochrangige Politikerin der Täuschung und des Betrugs überführt. Und wieder einmal klebt sie an der Macht. Mit ihrem Rücktritt als Ministerin wenige Monate vor der Bundestagswahl kann Franziska Giffey da auch nicht mehr viel retten. Aus dem Bundestag kann die 43-jährige nicht ausscheiden, dem hat sie nie angehört. Und erneut kommt die Überführte aus den Reihen der regierungstragenden Parteien. Mit Franziska Giffey holt die SPD gegenüber der Union sogar etwas auf. Immerhin sind die letzten falschen Doktortitel allesamt der CDU oder der CSU anzulasten.

Aber schon lange beschränken sich die Betrügereien von Politikern nicht mehr auf akademische Titel. In den letzten Monaten reihte sich eine schamlose persönliche Bereicherung an die nächste. Da waren die dubiosen Beratertätigkeiten des Philipp Amthor, der plötzliche Gedächtnisverlust von Vizekanzler Olaf Scholz oder die Maskendeals um den früheren CSU-Abgeordneten Georg Nüßlein.

Ein Parlament mit vielen Defiziten

Wer sich im Bundestag auf die Suche nach ehrlichen und rechtschaffenen Abgeordneten begibt, der sieht einer immer größeren Herausforderung entgegen. Der Spruch „Die haben doch alle Dreck am Stecken“ wird durch alle diese aufgedeckten Skandale ein wenig lauter. Aber noch etwas fällt erneut bei der Plagiatsaffäre um Franziska Giffey auf: Beachtlich viele Abgeordnete tragen einen Doktortitel – zumindest noch. Offenbar gibt es im Bundestag eine deutliche Überrepräsentanz von Menschen, die über einen höheren Bildungsabschluss verfügen. Fast drängt sich der Verdacht auf, man käme nur mit einem Universitätsabschluss ins Parlament. Und um besonders gut dazustehen, legen viele noch einen Doktor obendrauf. Ob der echt ist oder nicht – zweitrangig.

Aber nicht nur in Sachen Bildung wird der Bundestag seiner wichtigen Aufgabe, die Bevölkerung widerzuspiegeln, schon lange nicht mehr gerecht. Die Süddeutsche Zeitung hat die Besetzung des Bundestags auf mehrere Aspekte hin untersucht und kam in fast allen Bereichen zu einem ernüchternden Ergebnis. Die Defizite zeigen sich am deutlichsten bei der Geschlechterverteilung, in den Alterskohorten, bei der Herkunft der Abgeordneten und nicht zuletzt auch bei Bildung und Beruf.

Mittelalt, weiß und männlich

So besteht der Bundestag mit aktuell 219 weiblichen Abgeordneten nicht einmal ganz zu einem Drittel aus Frauen. Das ist insofern problematisch, da sich der Anteil von Männern und Frauen in der Gesamtbevölkerung ungefähr die Waage hält. Überrepräsentiert im Bundestag ist auch die Altersgruppe zwischen 30 und 60 Jahren. Besonders jüngere Abgeordnete sucht man meist mit der Lupe.

Auch die Anzahl von Abgeordneten mit nicht-deutschen Wurzeln spiegeln bei weitem nicht die Realität wider. Besonders krass ist dabei die Diskrepanz bei Parlamentariern, die dem muslimischen Glauben angehören. Unter allen Abgeordneten finden sich gerade einmal zwei davon. Mit der Realität außerhalb des Plenarsaals hat das wenig zu tun.

Die neue Arbeiterpartei?

Dieser Trend der mangelnden Repräsentanz lässt sich schon lange beobachten. Bereits 2013 bemängelte der SPD-Politiker Rolf Mützenich, dass der Bundestag „fast vollständig ein Akademikerparlament“ geworden sei. Die meisten der Abgeordneten seien inzwischen Juristen. Arbeiter seien im Bundestag fast gar nicht mehr vertreten. Für eine Demokratie wird das auf Dauer zum Problem. Immerhin neigt ein Akademikerparlament dazu, Politik für Akademiker und Bessergebildete zu machen und nicht für Menschen, die einer einfachen Tätigkeit nachgehen und vielleicht über ein geringes Einkommen verfügen. Dieser Verdruss über die fehlende Interessensvertretung führt viele zur AfD. Und siehe da: Die meisten Wähler der AfD sind Arbeiter – also genau jene Gruppe, die im Bundestag so kläglich unterrepräsentiert ist.

Ist die AfD also die neue Arbeiterpartei? Momentan scheint sie das tatsächlich zu sein, auch wenn sie ganz sicher nicht deren Interessen vertritt. Der Schlüssel zur Lösung dieses Problems liegt tatsächlich darin, die Menschen stärker in die politischen Entscheidungen einzubeziehen. Anderenfalls werden Berufspolitiker den Ruf nicht los, ständig nur gute Politik für sich selbst zu machen. Eine nicht ausreichende Kontrolle durch das Volk führt fast zwangsläufig zu einem latent zügellosen Machtstreben bei Mandatsträgern. Das mag für die Mehrheit der Abgeordneten nicht gelten. Trotzdem schlagen besonders die Ausreißer unter ihnen zu Buche.

Näher an der Bevölkerung

Haben die Menschen im Land die Möglichkeit, auf wichtige politische Weichenstellungen Einfluss zu nehmen, so erhöht das in jedem Fall die Identifikation mit dem Beschlossenen. Selbst diejenigen, die dagegen gestimmt haben, werden eher bereit dazu sein, die Entscheidung der Mehrheit zu akzeptieren. Ganz entscheidend ist dabei das Instrument des Volksbegehrens. Bei entsprechendem Quorum können die Bürgerinnen und Bürger ihre Wünsche direkt ins Parlament einstreuen. Die Abgeordneten wären dazu verpflichtet, sich mit dem Thema zu befassen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Belange der gesamten Bevölkerung in der Politik wieder Gehör finden.

Die Abgeordneten wiederum würden sich wieder eher wieder mit ihren Wählerinnen und Wählern verbunden fühlen. Mit ihren Programmen würden sie verstärkt versuchen, möglichst alle Wählerschichten anzusprechen. Denn nur zufriedene Wähler machen ihr Kreuz bei der nächsten Wahl an der gleichen Stelle. Ermutigt durch die stärkeren Einflussmöglichkeiten würden sich außerdem Berufsgruppen zur Wahl aufstellen lassen, die bislang im Bundestag wenig bis kaum repräsentiert sind. So würde wieder ein Gleichgewicht zwischen Bevölkerung und Bundestag zustandekommen, welches dem Parlament in den letzten Jahren deutlich abhandengekommen ist.


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Vertrauensbildende Maßnahmen

Lesedauer: 8 Minuten

Es helfen keine Lippenbekenntnisse, keine Ultimaten und anscheinend auch keine Rücktritte und Parteiaustritte. Die Union wird das Gespenst der Korruption nicht los. Mit den Herren Nüßlein und Löbe haben CDU und CSU erneut eindrucksvoll unter Beweis gestellt, das vielen in ihren Parteien nicht zu trauen ist. Das strukturelle Problem in der Union lässt sich kaum noch wegreden. Wie die Parteien und die Fraktion mit diesem Problem umgeht, ist eine Sache. Eine andere ist, welchen enormen Schaden Skandale wie die Maskenaffäre tatsächlich verursachen.

Einen Schritt voraus

Eigentlich sollte dieser Beitrag mit den Verfehlungen der beiden Bundestagsabgeordneten Nüßlein und Löbel beginnen. Doch wie es im Leben nun einmal so ist, holen die Ereignisse selbst den fleißigsten Blogschreiber gerne einmal ein. Pünktlich zur Einführung des neuen Lobbyregisters gab nun auch der thüringische CDU-Abgeordnete Mark Hauptmann sein Mandat auf. Neben einer Verwicklung in die Maskenaffäre seiner Fraktionskollegen war er wohl in Lobbytätigkeiten für Aserbaidschan verstrickt.

Die dubiosen Nebentätigkeiten von Unionspolitikern haben ein wenig was von Zeitschleife. Immerhin sind die drei jüngsten aufgedeckten Skandale nur das vorläufige Ende einer langen Kette von Ungereimtheiten, Schattenkonten und Korruption. Auffallend ist dabei jedoch, dass bei den meisten dieser Enthüllungen Politikerinnen und Politiker von CDU und CSU im Brennpunkt standen.

Nüßlein, Amthor, Schäuble

Die Liste an unrühmlichen Vorgängern von Hauptmann, Löbel und Nüßlein ist ellenlang. Die neuesten lobbyistischen Entgleisungen kamen zu einer Zeit, als die Entdeckung der fragwürdigen Nebentätigkeiten des Youngsters Philipp Amthor noch lange nicht verdaut waren. Aber auch davor hat sich die Union häufig nicht gerade mit Ruhm bekleckert.

Es ist noch gar nicht so lange her, da stand die Unbestechlichkeit unseres Staatsoberhaupts in Frage. Geschickt zog sich der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff durch seinen Rücktritt aus der Affäre. Das Strafverfahren gegen ihn ging ohne einen Schuldspruch zu Ende. Davor hatten die schwarzen Konten von Wolfgang Schäuble und Helmuth Kohl das Vertrauen in die Volkspartei erschüttert.

Falsche Doktoren und schwarze Kassen

Aber nicht nur an der Lobbyfront ereignet sich ein Skandal nach dem nächsten. Auch in anderen Bereichen erweisen sich viele Unionspolitiker immer wieder als wenig vertrauenswürdig. Die erschlichenen Doktortitel von Herrn zu Guttenberg und Frau Schavan eskalierten beide Male in einer Lügerei, dass sich die Balken bogen. Wenigstens dieses würdelose Trauerspiele haben sich die wenigen anderen falschen Doktoren aus anderen Parteien gespart.

Immer deutlicher wird, dass es sich bei diesen ganzen Affären nicht um Einzelfälle handelt. Viel eher drängt sich der Verdacht auf, dass es sich bei der Union um ein strukturelles Problem handelt. Ganz offensichtlich ist einem Großteil der Politikerinnen und Politiker aus dieser Partei ein grundlegendes Gespür für Moral und Ehre verlorengegangen. Anders lässt sich das Verhalten einiger Entlarvten nicht deuten. So ließ sich Ex-Kanzler Kohl als Ehrenvorsitzender feiern, obwohl er den Karren längst in den Dreck gefahren hatte. Annette Schavan trat nach dem Plagiatsskandal erneut im Wahlkampf an – und erdreistete sich sogar, den aberkannten Doktortitel auf dem Wahlzettel beizubehalten. Auch Georg Nüßlein macht keine Anstalten, sich aus dem Bundestag zu verabschieden. Zukünftig bezieht er als fraktionsloser Abgeordneter die üppigen Diäten.

Finanzieller Vorteil

Seit sechzehn Jahren trägt die Union Regierungsverantwortung für Deutschland. Gepaart mit der inhärenten Wirtschaftsnähe dieser Partei entsteht ein äußert unguter Mix. Die Skandale um Abgeordnete und Politiker sind dabei nur der extremste Auswuchs dieser fatalen Symbiose. Schaut man sich die Summen an Spenden von Unternehmen und Konzernen an, wird man schnell feststellen, dass CDU und CSU mit Abstand Spitzenreiter in dieser Kategorie sind.

Die wirtschaftsnahen Positionen der Union werden zusätzlicher Anreiz für die Wirtschaftsakteure gewesen sein, ihr Geld in diese beiden Parteien zu investieren. Durch diese großzügige finanzielle Ausstattung hatte der Parteienverbund im Wahlkampf natürlich stets einen deutlichen Vorteil gegenüber der politischen Konkurrenz. Oder glaubt ernsthaft noch jemand, es ist ein Zufall, dass die Union nach Rezo und den zahlreichen Skandalen noch immer die Hosen im Land anhat?

Gewöhnlich korrupt

Eine wichtige Rolle hat hierbei bestimmt auch der Gewöhnungseffekt gespielt. Die Bundesrepublik gibt es seit 72 Jahren. In 52 davon regierte die Union. Allein die derzeitige Regierungsperiode dauert seit sechzehn Jahren an. Natürlich möchten CDU und CSU ihre Macht nicht ohne weiteres aufgeben. Die Bereitschaft, sich durch Korruption an der Macht zu halten, wächst. Dass es ohne Bestechlichkeit bei der Union nicht geht, hat die lange Amtszeit von Helmut Kohl als Bundeskanzler gezeigt. Die Spendenaffäre wurde zwar erst 1999 aufgedeckt, die Konten bestanden aber wohl über die gesamte Amtszeit des eisernen Kanzlers hinweg.

Auch wenn sich viele Abgeordnete der Unionsparteien bestens in dieser korrupten Umgebung eingerichtet haben, dürfen sich echte Demokraten nicht an diesen Zustand gewöhnen. Die Verfehlungen in der CDU und CSU sind nicht nur eine Schande für unser Land, sie sind eine ernstzunehmende Gefahr für die Demokratie. Denn die teilweise kriminellen Machenschaften einzelner Abgeordneter bringen das demokratische System weit über die eigenen Parteigrenzen hinaus in Verruf. Solange es solche Skandale gibt, solange wird der Ruf des korrupten Halunken pauschal allen Politikern anhaften.

Aber nicht nur die politisch Aktiven geraten durch ein solches Verhalten in Misskredit. Auch rechtschaffende und fleißige Unternehmer sind von dieser Rufschädigung nicht ausgenommen. Es gibt bestimmt mehr als genug korrupte Geschäftsleute auf dieser Welt. Und der Kapitalismus darf nicht das Ende der Geschichte sein. Verstrickungen wie solche von Nüßlein und Löbel lassen aber an der Integrität ganzer Wirtschaftszweige Zweifel keimen.

Politik für’s Volk?

Als erklärter Gegner der Politik von CDU und CSU könnte man sich eigentlich darüber freuen, dass sich die Schwesternparteien gerade selbst demontieren. Als erklärter Demokrat kann man das aber nicht. Die teilweise illegalen Lobbytätigkeiten mancher Politiker zeigen deutlich, wessen Interessen für die Union am meisten zählen. Völlig offensichtlich wird, für wen hier eigentlich Politik gemacht wird. Tipp: Das Volk ist es nicht.

Zurecht zweifeln viele daher an der angeblichen Volkssouveränität im Land. Das Bild des korrupten und verlogenen Politikers verfestigt sich soweit, dass selbst CDU-Chef Armin Laschet von einer „Raffke-Mentalität“ in seiner Partei spricht. Milde Strafen oder sogar Freisprüche wie im Falle von Ex-Bundespräsident Christian Wulff erschüttern zusätzlich den Glauben an die Justiz.

Viel Politik, wenig Anstand

Das hinterlässt Spuren. Bei der Bundestagswahl 2013 entschieden sich über 18 Millionen der Wahlberechtigten dazu, nicht von ihrem Wahlrecht Gebrauch zu machen. Die Wahlbeteiligung lag auf einem beschämenden Tiefstand von rund 72 Prozent. Vier Jahre später verzichteten erneut 55 Prozent der vorigen Nichtwähler auf ihr Stimmrecht. Die Enttäuschung über die politische Entwicklung saß wohl noch zu tief. Doch auch bei den Erstwählern blieb eine satte Million den Wahlen fern.

Solche Zahlen lassen sich nicht damit erklären, dass die Wahlprogramme der Parteien die Wahlberechtigten nicht ansprachen. Mit sechs Fraktionen ist die Meinungspluralität im Bundestag so groß wie selten zuvor. Im Grunde gibt es sechs unterschiedliche Stoßrichtungen, wohin es mit Deutschland gehen soll. Das Problem muss tieferliegen. Viele haben das Vertrauen in den politischen Apparat an sich verloren. Schuld daran sind Menschen wie Georg Nüßlein und Nikolas Löbel. Sie sind schuld daran, wenn weniger Menschen zur Wahl gehen. Sie sind schuld daran, dass sich die Anständigen aus der Politik zurückziehen.


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