Revolte der Helikopterkinder

Lesedauer: 7 Minuten

Es lebe die Vielfalt – aber bitte nicht bei uns: Mit der Ablehnung der Sängerin Ronja Maltzahn löste die Bewegung Fridays for Future kürzlich eine hitzige Debatte im Netz aus. Entzündet hat sich die Diskussion an der Begründung des Auftrittsverbots: Den Veranstaltern passte die Frisur der jungen Künstlerin nicht. In ihren Dreadlocks sahen sie eine nicht tolerierbare kulturelle Aneignung. Der Skandal zog weite Kreise, untergräbt aber das wichtige Anliegen, welches die Klimabewegung einst verfolgte. Heute wird Fridays for Future dominiert von gut situierten Kindern aus Akademikerfamilien, welche die Bewegung eher als Forum für ihre abstrusen Lebensentwürfe sehen.

Repolitisierte Jugend

2019 geschah etwas, was vielen nicht geheuer war: Zu Zehntausenden gingen in deutschen Großstädten Jugendliche und junge Erwachsene auf die Straße, um auf die Bedrohungen des menschengemachten Klimawandels aufmerksam zu machen und um eine effektivere Klimapolitik einzufordern. Sie wollten es nicht mehr hinnehmen, dass das Klima von Menschen gerettet wurde, die ihre eigenen Fehlentscheidungen nicht mehr erleben würden. Die jungen Menschen wussten sehr genau, dass sie die Leidtragenden einer verfehlten Klimapolitik sein würden.

Beinahe ehrfürchtig beobachteten die über 25-jährigen, wie die jüngere Generation Freitag für Freitag auf die Straße ging. Einige schlossen sich dem Protest an, Fridays for Future (FfF) blieb aber eine Bewegung der Jüngeren. Corona bereitete den Großdemos ein jähes Ende. Doch nach zahlreichen Online-Protestaktionen trauen sich die Anhänger von FfF inzwischen wieder auf die Straße.

Die Themenpalette der Demonstrantinnen und Demonstranten ist seit der Corona-Zwangspause sogar noch größer geworden. Nach dem russischen Angriff auf die Ukraine mischen sich auch vermehrt Stimmen unter die Teilnehmenden, die ihre Solidarität mit dem angegriffenen Land bekunden. Beim globalen Klimastreik am 25. März 2022 wurde das Themenspektrum ein weiteres Mal erweitert: Zur Debatte stehen nun auch die Frisuren der Künstlerinnen und Künstler, die die Bewegung unterstützen.

Du hast die Haare (nicht) schön

Die Sängerin Ronja Maltzahn steht seither unfreiwillig im Fokus einer obskuren Debatte. Sie durfte bei der Kundgebung der Demo in Hannover nicht auftreten, weil sie ihre Haare zu Dreadlocks geflochten hatte. Die Organisatoren der Demo sahen darin eine imperialistische kulturelle Aneignung, die sie auf keinen Fall tolerieren konnten. Man stellte die Sängerin vor die Wahl: Haare ab oder Auftrittsverbot.

Das Netz war sogleich voll von solidarischen Kommentaren für beide Seiten. Der Zwischenfall bestimmte die Titelseiten, Ronja Maltzahns Haarpracht war in aller Munde. In Interviews bekräftigten die Verantwortlichen ihr Bekenntnis gegen Rassismus und kulturelle Aneignung. Sie könnten ihrem eigenen Anliegen nicht vehementer widersprechen. Wenn sich eine weiße Frau dazu entschließt, ihre Haare fortan als Dreadlocks zu tragen, dann hat das genau so wenig mit imperialistischem Denken zu tun wie wenn eine Luisa Neubauer ins Ristorante geht und sich eine Pizza bestellt.

Austausch statt Spaltung

Es ist eben kein imperialistischer Akt, wenn man sich von anderen Kulturen beeinflussen lässt und deren Gepflogenheiten oder deren Dress übernimmt. Es ist stattdessen ein Zeichen für einen lebendigen und gelingenden Austausch zwischen den Kulturen. Imperialistisch und rassistisch hingegen ist es, wenn man einer ethnischen Gruppe bestimmte Verhaltensweisen oder ein äußeres Erscheinungsbild zuweist und festlegt, dass nur diese Gruppe ungestraft so leben oder aussehen darf. Diese Herangehensweise verfestigt rassistische Stereotype und baut sie nicht ab.

Die Verfechter der Political Correctness lassen sich von einem Gruppendenken leiten, für das sie manch rechter Zeitgenosse beneidet. Ihr Weltbild lebt von Unterschieden. Ziel ist nicht, die Unterschiede abzubauen, um Chancengleichheit herbeizuführen. Ihnen geht es darum, die vorhandenen Unterschiede über Gebühr zu betonen oder sogar neue Gegensätze künstlich zu konstruieren. In ihrer Ideologie dürfen nur die Vertreter einer bestimmten definierten Gruppe über die Belange ebenjener Gruppe sprechen. Alles andere ist inakzeptabel und ein Angriff auf die aufgeklärte Gesellschaft.

Dabei übersehen sie, dass sie einer Denkweise Vorschub leisten, die ganz sicher nicht in ihrem Interesse ist. Die groteske Wahl, vor die man Ronja Maltzahn gestellt hat, beweist eindeutig latent autoritäre Denkmuster. Wenn die Entscheidung nur Unterordnung oder Verzicht lautet, hat das mit einer vielfältigen Gesellschaft nichts zu tun. Man bedient sich faschistoider Methoden und keiner pluralen.

Die Akademikerbewegung

Eigentlich ist die Welt vieler FfF-Aktivisten eine heile Welt. Sie haben sogar so wenige echte Probleme, dass sie sich ausgiebig über die Haare einer jungen Sängerin echauffieren können. Viele junge Klimaaktivisten müssen in der letzten Woche eines Monats nicht jeden Cent zweimal umdrehen. Von den steigenden Energiepreisen haben sie zwar gehört, betroffen sind sie davon aber nur peripher.

Sie verdanken es ihren Eltern, dass diese Probleme von ihnen ferngehalten werden. Klimafreundliches Handeln und Leben ist für sie kein Problem, weil sie es sich leisten können. Meistens handelt es sich bei den Demonstrantinnen und Demonstranten um Menschen, die das Gymnasium besuchen oder bereits ein Studium aufgenommen haben. Dieses höhere Bildungsniveau geht fast wie selbstverständlich einher mit der höheren Einkommensschicht der Eltern.

Real- und Hauptschüler hingegen sind bei den Demonstrationen chronisch unterrepräsentiert. Sie fühlen sich verprellt von den Forderungen nach höheren Lebensmittelkosten und dem generellen Verzicht auf ein eigenes Auto. Die energisch vorgetragenen Ziele der Bewegung stimmen nicht mit ihrer eigenen Lebensrealität überein. Ihre Familien können sich nicht regelmäßig mit Bio-Lebensmitteln eindecken und ihre Eltern sind womöglich auf das Auto angewiesen. Diese jungen Leute gehen Fridays for Future verloren.

Hoffnungslos verloren

Der Kampf gegen den Klimawandel ist eine der drängendsten Menschheitsaufgaben unserer Zeit. Wenn wir nicht alles in unserer Macht stehende tun, dann werden wir sehr bald in jeden Sommer Bilder wie aus dem Ahrtal zu sehen bekommen. Weite Teile des Planeten werden unbewohnbar werden, weil der menschengemachte Klimawandel den Lebensraum Erde zerstört hat.

Als Fridays for Future gegründet wurde, da hatte die Bewegung den klaren Anspruch, diesem Problem entschlossen entgegenzutreten. Die Älteren waren neidvoll beeindruckt vom Engagement und dem politischen Gestaltungswillen der jungen Generation. Aktionen wie der Boykott von Dreadlocks bringt die Klimabewegung aber zunehmend in Verruf. Es schadet dem Kampf gegen den Klimawandel, wenn sich ein paar verzogene Gören zu Fürsprechern der Kulturen aufschwingen und die Demonstrationen doch nur als Podium zur Selbstdarstellung nutzen.

Die Rettung des Klimas und unserer Erde kann nur gelingen, wenn die Menschen zusammenstehen. Fridays for Future hat sich in eine Richtung entwickelt, mit der die Bewegung eher spaltet als eint. Es gab ein kurzes Zeitfenster, als die Aktion über ihre Gründungsklientel hätte hinauswachsen können. Diese Chance wurde nicht genutzt. Die Debatte um die richtige Frisur erschwert es Fridays for Future zusätzlich, gesamtgesellschaftlich fußzufassen. Doch ohne die Akzeptanz und Unterstützung weiter Teile der Gesellschaft bleibt die Vision von Greta Thunberg ein Papiertiger. Und ohne Druck wird sich nie etwas ändern.


Mehr zum Thema:

Mehr Spaltung als Gemeinsamkeit

Zum Schwarzärgern

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

An der Realität vorbei

Lesedauer: 6 Minuten

Seit vielen Jahren ist eine Gruppe im Deutschen Bundestag hoffnungslos überrepräsentiert: die Akademiker. Abgeordnete, die zuvor als Arbeiter oder Angestellte tätig waren, werden im Parlament immer seltener. Doch selbst die Gelehrten unter den Abgeordneten arbeiten an einer Scheinwelt. Immer wieder kommen sie wegen erschlichener Doktortitel in die Schlagzeilen – zuletzt Ex-Familienministerin Franziska Giffey. Eine Repräsentanz der Bevölkerung außerhalb des Reichstagsgebäudes ist schon lange nicht mehr gegeben. Direktdemokratische Mitbestimmungsmöglichkeiten könnten dieses Problem beheben.

Nach der erneuten Überprüfung ihrer Doktorarbeit zeichnet sich für Franziska Giffey ab, dass sie ihren Doktortitel verlieren wird. Um einer noch größeren öffentlichen Schmach zu entgehen, trat sie daher vor einigen Tagen von ihrem Amt als Bundesfamilienministerin zurück. Das Ressort für Familie, Frauen, Senioren und Jugend übernimmt bis zur Bundestagswahl kommissarisch die amtierende Justizministerin Christine Lambrecht. Mit der freiwilligen Abgabe ihres Doktortitels versuchte sich die ehemalige Familienministerin noch vor einigen Monaten aus der Schusslinie zu ziehen. Auch auf eine Kandidatur als Parteivorsitzende verzichtete sie mit Blick auf die Plagiatsaffäre. Ganz schön viel Verzicht und ganz schön viel Reue, könnte man da meinen. Auf ihre Kandidatur als SPD-Spitzenkandidatin für das Berliner Abgeordnetenhaus möchte die falsche Doktorin aber nicht verzichten.

Ein Skandal nach dem anderen

Wieder einmal wurde eine hochrangige Politikerin der Täuschung und des Betrugs überführt. Und wieder einmal klebt sie an der Macht. Mit ihrem Rücktritt als Ministerin wenige Monate vor der Bundestagswahl kann Franziska Giffey da auch nicht mehr viel retten. Aus dem Bundestag kann die 43-jährige nicht ausscheiden, dem hat sie nie angehört. Und erneut kommt die Überführte aus den Reihen der regierungstragenden Parteien. Mit Franziska Giffey holt die SPD gegenüber der Union sogar etwas auf. Immerhin sind die letzten falschen Doktortitel allesamt der CDU oder der CSU anzulasten.

Aber schon lange beschränken sich die Betrügereien von Politikern nicht mehr auf akademische Titel. In den letzten Monaten reihte sich eine schamlose persönliche Bereicherung an die nächste. Da waren die dubiosen Beratertätigkeiten des Philipp Amthor, der plötzliche Gedächtnisverlust von Vizekanzler Olaf Scholz oder die Maskendeals um den früheren CSU-Abgeordneten Georg Nüßlein.

Ein Parlament mit vielen Defiziten

Wer sich im Bundestag auf die Suche nach ehrlichen und rechtschaffenen Abgeordneten begibt, der sieht einer immer größeren Herausforderung entgegen. Der Spruch „Die haben doch alle Dreck am Stecken“ wird durch alle diese aufgedeckten Skandale ein wenig lauter. Aber noch etwas fällt erneut bei der Plagiatsaffäre um Franziska Giffey auf: Beachtlich viele Abgeordnete tragen einen Doktortitel – zumindest noch. Offenbar gibt es im Bundestag eine deutliche Überrepräsentanz von Menschen, die über einen höheren Bildungsabschluss verfügen. Fast drängt sich der Verdacht auf, man käme nur mit einem Universitätsabschluss ins Parlament. Und um besonders gut dazustehen, legen viele noch einen Doktor obendrauf. Ob der echt ist oder nicht – zweitrangig.

Aber nicht nur in Sachen Bildung wird der Bundestag seiner wichtigen Aufgabe, die Bevölkerung widerzuspiegeln, schon lange nicht mehr gerecht. Die Süddeutsche Zeitung hat die Besetzung des Bundestags auf mehrere Aspekte hin untersucht und kam in fast allen Bereichen zu einem ernüchternden Ergebnis. Die Defizite zeigen sich am deutlichsten bei der Geschlechterverteilung, in den Alterskohorten, bei der Herkunft der Abgeordneten und nicht zuletzt auch bei Bildung und Beruf.

Mittelalt, weiß und männlich

So besteht der Bundestag mit aktuell 219 weiblichen Abgeordneten nicht einmal ganz zu einem Drittel aus Frauen. Das ist insofern problematisch, da sich der Anteil von Männern und Frauen in der Gesamtbevölkerung ungefähr die Waage hält. Überrepräsentiert im Bundestag ist auch die Altersgruppe zwischen 30 und 60 Jahren. Besonders jüngere Abgeordnete sucht man meist mit der Lupe.

Auch die Anzahl von Abgeordneten mit nicht-deutschen Wurzeln spiegeln bei weitem nicht die Realität wider. Besonders krass ist dabei die Diskrepanz bei Parlamentariern, die dem muslimischen Glauben angehören. Unter allen Abgeordneten finden sich gerade einmal zwei davon. Mit der Realität außerhalb des Plenarsaals hat das wenig zu tun.

Die neue Arbeiterpartei?

Dieser Trend der mangelnden Repräsentanz lässt sich schon lange beobachten. Bereits 2013 bemängelte der SPD-Politiker Rolf Mützenich, dass der Bundestag „fast vollständig ein Akademikerparlament“ geworden sei. Die meisten der Abgeordneten seien inzwischen Juristen. Arbeiter seien im Bundestag fast gar nicht mehr vertreten. Für eine Demokratie wird das auf Dauer zum Problem. Immerhin neigt ein Akademikerparlament dazu, Politik für Akademiker und Bessergebildete zu machen und nicht für Menschen, die einer einfachen Tätigkeit nachgehen und vielleicht über ein geringes Einkommen verfügen. Dieser Verdruss über die fehlende Interessensvertretung führt viele zur AfD. Und siehe da: Die meisten Wähler der AfD sind Arbeiter – also genau jene Gruppe, die im Bundestag so kläglich unterrepräsentiert ist.

Ist die AfD also die neue Arbeiterpartei? Momentan scheint sie das tatsächlich zu sein, auch wenn sie ganz sicher nicht deren Interessen vertritt. Der Schlüssel zur Lösung dieses Problems liegt tatsächlich darin, die Menschen stärker in die politischen Entscheidungen einzubeziehen. Anderenfalls werden Berufspolitiker den Ruf nicht los, ständig nur gute Politik für sich selbst zu machen. Eine nicht ausreichende Kontrolle durch das Volk führt fast zwangsläufig zu einem latent zügellosen Machtstreben bei Mandatsträgern. Das mag für die Mehrheit der Abgeordneten nicht gelten. Trotzdem schlagen besonders die Ausreißer unter ihnen zu Buche.

Näher an der Bevölkerung

Haben die Menschen im Land die Möglichkeit, auf wichtige politische Weichenstellungen Einfluss zu nehmen, so erhöht das in jedem Fall die Identifikation mit dem Beschlossenen. Selbst diejenigen, die dagegen gestimmt haben, werden eher bereit dazu sein, die Entscheidung der Mehrheit zu akzeptieren. Ganz entscheidend ist dabei das Instrument des Volksbegehrens. Bei entsprechendem Quorum können die Bürgerinnen und Bürger ihre Wünsche direkt ins Parlament einstreuen. Die Abgeordneten wären dazu verpflichtet, sich mit dem Thema zu befassen. Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Belange der gesamten Bevölkerung in der Politik wieder Gehör finden.

Die Abgeordneten wiederum würden sich wieder eher wieder mit ihren Wählerinnen und Wählern verbunden fühlen. Mit ihren Programmen würden sie verstärkt versuchen, möglichst alle Wählerschichten anzusprechen. Denn nur zufriedene Wähler machen ihr Kreuz bei der nächsten Wahl an der gleichen Stelle. Ermutigt durch die stärkeren Einflussmöglichkeiten würden sich außerdem Berufsgruppen zur Wahl aufstellen lassen, die bislang im Bundestag wenig bis kaum repräsentiert sind. So würde wieder ein Gleichgewicht zwischen Bevölkerung und Bundestag zustandekommen, welches dem Parlament in den letzten Jahren deutlich abhandengekommen ist.


Mehr zum Thema:

Vertrauensbildende Maßnahmen

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!