Deutsche Sprache, fremde Sprache?

Beitragsbild: Bru-nO, Pixabay, Bildausschnitt von Sven Rottner.

Lesedauer: 9 Minuten

All-You-Can-Eat, Lifting, Jackpot – die Zahl von Anglizismen in der deutschen Sprache kann inzwischen Seiten füllen. Nicht jeder befürwortet diese sprachliche Bereicherung. Viele sehen darin eine ernsthafte Bedrohung für die eigene Landessprache. Einige wollen Deutsch sogar im Grundgesetz verankern. Dass sie damit weit über das Ziel hinausschießen und ihr Ziel sogar verfehlen, ist den meisten gar nicht bewusst. Denn Anglizismen sind ein vergleichsweise kleines Problem, wenn es um den Erhalt von Sprache geht.

Warum kompliziert, wenn es einfach geht?

Der Pfeifenbläser Julian Assange ist in Equador verhaftet worden. Gestern hätte ich eine Verabredung gehabt, aber mir wurde über den Botschafter abgesagt. Der Haupt-Ausführungsoffizier hat angekündigt, sich aus der ersten Reihe des Unternehmens zurückzuziehen. Klingt bescheuert? Finde ich auch. In all diesen Sätzen würde der Durchschnittsdeutsche Anglizismen verwenden, um sich verständlich auszudrücken. Aus Pfeifenbläser würde Whistleblower, aus der schnöden Verabredung ein Date, aus dem Botschafter der Messenger und der Oberguru eines erfolgreichen Unternehmens ist natürlich der CEO (Chief Executive Officer, für all diejenigen, die nicht wissen, was sich hinter dieser salbungsvollen Abkürzung verbirgt).

Viele finden wiederum, dass die Anglizismen inzwischen Überhand nehmen. Mancheiner sieht die deutsche Sprache ernsthaft in Gefahr. Sie fühlen sich von der US-amerikanischen Sprachpolizei überrumpelt. Eigentlich wollen sie Begriffe wie Management, Container und Styling gar nicht in ihrem alltäglichen Sprachgebrauch verwenden. Oder etwa doch? Schließlich tun sie es ja. Ist es also wirklich ein rein externes Phänomen, etwas was den Deutschen übergestülpt wird?

Handy Handy

Bis zu einem bestimmten Grad sind Anglizismen unvermeidbar. Die deutsche Sprache lieh sich schon immer leidenschaftlich gerne Begriffe aus anderen Sprachen aus. Deutsch ist und bleibt eben eine Lehnsprache. Das Date hieß früher mal Rendez-Vous. Klingt auch nicht viel deutscher. Andere Begriffe sind inzwischen allerdings so fest in unserem Sprachgebrauch verankert, dass man erst beim zweiten Lesen bemerkt, dass sie gar nicht deutschen Ursprungs sind. Nehmen wir zum Beispiel den Wasserboiler. „to boil“ ist englisch und bedeuten sieden oder kochen. Tada!

Es gibt auch noch eine ganze Reihe anderer Wörter, die sich im Alltag etabliert haben. Bei den meisten von ihnen ist offensichtlich, dass sie englischen Ursprungs sind, doch sie werden allgemein akzeptiert. Das Handy und der Computer sind Begriffe, die gleichzeitig auch den Zeitgeist definieren. Alltagstaugliche deutsche Wörter gab es für sie nie. Es dauert ja auch schließlich fast dreimal so lange „Mobiltelefon“ zu sagen.

Es ist dabei aber schon erstaunlich, dass der Begriff „Handy“ zwar dem Englischen entstammt, aber in dieser Sprache nicht die gleiche Bedeutung hat wie in Deutschland. Das Gerät ist zwar handy, aber kein Engländer nennt es so. Ein Anglizismus um der Anglizismen willen also. Aber sei’s drum, es ist gut so wie es ist.

We are all sitting in one boat

Grotesker mutet es schon an, wenn man einen Blick in die Arbeitswelt wirft. Der ehemalige baden-württembergische Ministerpräsident Günther Oettinger wusste bereits vor gut zehn Jahren als einer der ersten, dass Englisch die Arbeitssprache werden würde. Doch, oh Schreck! Dass es gleich solch verheerende Ausmaße annehmen würde, konnte selbst das sprachaffine Landesoberhaupt nicht wissen.

On the one hand, haben wir da einige Begriffe, die so kompliziert sind, dass keiner sie ernsthaft aussprechen würde. Beim CEO begnügt man sich mit der Abkürzung. Es wissen so oder so nur die wenigsten, was damit genau gemeint ist (außer sie haben diesen Beitrag gelesen). On the other hand, werden tatsächlich deutsche Begriffe ohne Not durch englische ersetzt. Weil sie angeblich besser klingen. Viele Unternehmen inserieren heute Stellenangebote für ein exklusives Traineeship in ihrem Hause. Vielleicht eine erste Maßnahme, um unqualifizierte Bewerber abzuschrecken, die tatsächlich ein nautisches Abenteuer befürchten.

Von Krauts und Autobahn

Vielleicht regen sich manche Deutsche wirklich zu sehr auf. Anscheinend wissen viele nämlich nicht, dass die Sache mit den Anglizismen auf dem uralten Prinzip des Gebens und Nehmens beruht. Dass Begriffe wie „sauerkraut“, „lederhosen“ und „autobahn“ längst ihren Weg ins Englische gefunden haben, dürfte allgemein bekannt sein. Nicht jedoch, dass sich so mancher Engländer am glockenspiel erfreut, dass seine Kaffeemaschine kaput(t) gehen kann oder dass manche Dinge strengstens „verboten“ sind. Spätestens wenn sich eine Spinne an einer Hauswand abseil(t), gerät mancher Anglizismenkritiker ins Staunen.

Man sieht, auch deutsche Wörter sind im englischen Sprachgebrauch fest verankert. Und Vokabeln sind doch sowieso nur Ziffern, die eine Sprache alltagstauglich machen. Aber Sprache ist mehr. Wer sich über die angeblich viel zu große Zahl an Anglizismen echauffiert, der lenkt sich selbst von einem weitaus bedrohlicheren Schauplatz ab. Auch wenn es einzelne deutsche Wörter ins Englische geschafft haben, so gibt es in dieser Weltsprache eines nicht: Sprachstrukturen werden nicht zugunsten einer anderen Sprache aufgegeben. Im Deutschen ist das anders.

So werden bestimmte grammatikalische Strukturen ebenfalls durch die aus der englischen Sprache ersetzt. „Die Zahl an Straftaten in 2019 lag um 1,5 Prozent höher als noch es noch in 2018 der Fall war.“ Häh?! Seit wann bitteschön werden konkrete Jahreszahlen mit der Präposition „in“ verwendet? Das funktioniert im Englischen, aber nicht im Deutschen. Es ist einfach falsch!

Virale Influencer? Gesundheit.

Bevor ich jetzt vorschnell der Riege der ewig Gestrigen zugeordnet werde, gebe ich eines zu bedenken: Sprache verändert sich laufend. Nicht nur Wörter verändern ihre Konnotation, auch grammatikalische Eigenheiten sind diesem Wandel unterworfen. Es mutet allerdings schon ein wenig merkwürdig an, wenn dieser Wandel mit der Geschwindigkeit eines Lidschlags vollzogen wird und obendrein kaum vom englischen Original unterscheidbar ist. Auch dass es Konflikte IM Irak gibt und ein Krieg mit DEM Irak unter allen Umständen vermieden werden muss, wird immer mehr vom englischen Pendant verdrängt, welches bestens ohne bestimmte Artikel auskommt.

Der Gipfel der sprachlichen Verirrung wurde allerdings vor einigen Jahren erreicht, als viele Dinge viral gingen. Ähnlich wie beim Influencer handelt es sich hierbei jedoch nicht um eine ansteckende Krankheit. Es soll lediglich verdeutlicht werden, dass etwas durch die Decke ging. Dass das Verb „gehen“ in der deutschen Sprache niemals gleichbedeutend mit dem Wort „werden“ ist, scheint vielen egal zu sein. Schließlich ist es in der englischen Sprache ja so konnotiert, was kümmert mich da mein deutsches Original?

Eine zwangsläufige Entwicklung?

Mit Sicherheit hat das Internet maßgeblichen Anteil an diesen Entwicklungen. Und wer weiß? Vielleicht entwickelt sich Sprache in Zeiten des Internets tatsächlich rasanter als früher. Immerhin lebt Sprache von der Kommunikation. Und Kommunikation ist durch das Internet einfacher als jemals zuvor. Gut möglich also, dass zusätzliche Kommunikationskanäle die Sprachentwicklung beschleunigen. Also doch lieber ein Tempolimit für Sprachen anstatt auf der Autobahn?

Doch auch eine andere Deformation der deutschen Sprache stößt hart auf. Was wurde eigentlich aus dem formellen „Sie“? Liest man so manche Stellenanzeige oder hört sich eine besonders hippe Werbung an, könnte man meinen, die Höflichkeitsform hätte aufgehört zu existieren. „Bewirb dich jetzt und bereichere unsere Crew“ könnte aus jeder x-beliebigen Stellenanzeige kommen. Eigentlich sollte man dieses Phänomen einmal auf die Spitze treiben und die Personalverantwortlichen in der Bewerbung ebenfalls duzen. Führt dann wahrscheinlich nicht zum erhofften Erfolg, aber ein Denkmal würde man sich damit allemal schaffen.

Sprache per Gesetz?

Das Problem liegt also definitiv nicht an den Vokabeln, sondern an grammatikalischen Eigenheiten, die denen aus der englischen Sprache immer ähnlicher werden. Die Frage ist, wie man damit umgeht. Eine gesetzliche Regelung, wie es den Rechtspopulisten vorschwebt, halte ich für den absolut falschen Weg. Eine Sprache ist eben kein Gesetz. Sie kann nicht in Stein gemeißelt werden. Sie ist immer abhängig von der jeweiligen Situation und der jeweiligen Zeit. Ihr können von außen keine Vorschriften gemacht werden, eine Veränderung muss von innen kommen. Ein Gesetz würde der Sprache wiederum vorschreiben, wie sie zu sein hat. Und genau das funktioniert eben nicht.

Stattdessen ist jeder selbst gefragt. Man kann sich im Klein-Klein der Anglizismen verlieren. Man kann aber auch selbst entscheiden, wie weit man mitgehen möchte. Wer statt „Party“ lieber „Feier“ sagen möchte, kann das doch tun. Keiner ist daran gehindert, fremde Menschen weiterhin zu siezen. Und keiner bricht sich einen Zacken aus der Krone, eben nicht insane zu gehen, wenn etwas total wunderbares geschieht.

Deutsch ist schön

Die am lautesten von der Abschaffung der deutschen Sprache reden, haben selbst den Sinn für diese schöne Sprache verloren. In zahllosen Kommentaren vergewaltigen sie ihre Muttersprache höchstselbst, wenn sie sich zu Rettern derselben aufschwingen. Einfachste Regeln der Rechtschreibung und der Kommasetzung werden einfach übergangen, die Konjunktion „dass“ scheint non-existent.

Deutsch ist eine Sprache, die so reich an unterschiedlichen Begriffen ist wie kaum eine andere Sprache. Was kümmert es denn da, wenn ein paar Begriffe aus anderen Sprachen den Alltag bereichern? Viel wichtiger ist doch zu wissen, wann manche Begriffe angebracht sind und wann nicht. Es macht nämlich durchaus einen Unterschied, ob ich in Magdeburg oder in Stuttgart einen Pfannkuchen bestelle. Fordert deshalb ernsthaft jemand eine Vereinheitlichung dieser Begriffe? Ich glaube nicht.

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Eine Frage der Möglichkeiten

Lesedauer: 9 Minuten

Der Mensch ist Meister darin, stets das beste aus seiner Situation zu machen. Herausragende Erfindungen und Fortschritte waren so möglich. Dabei findet der Mensch auch immer einen Weg, seine Neigungen und Gelüste auszuleben, zumindest soweit es ihm möglich ist. Neugier, die Lust auf Ungebundenheit und der Drang sich zu beweisen wohnen dem Menschen ganz natürlich inne. Es gibt aber Kanäle, die es kinderleicht machen, diesen Neigungen freien Lauf zu lassen. Viel zu leicht…

Motivation schafft Genies

Seit Jahrtausenden besiedelt der Mensch die Erde. Und er ist zu außergewöhnlichem fähig: er bildete Staaten, bändigte das Feuer, er baute Pyramiden, flog zum Mond und er rottete Krankheiten wie die Pest aus. Mit der richtigen Motivation ist jeder Mensch zu Bestleistungen fähig. Doch so gut wie die menschlichen Errungenschaften auch sind, der Mensch schafft es stets, aus den geschaffenen Möglichkeiten das negativste Potenzial herauszuholen.

„Krieg“ mögen die meisten jetzt denken. Und es stimmt. Ohne den Menschen gäbe es keinen Krieg auf diesem Planeten. Doch so weit muss man gar nicht gehen. Es reicht ein Blick in den Alltag, um zu erkennen, dass manche Muster die Zeiten überdauern.

Altes Problem in neuem Gewand

Man kennt es: Auf einer Autobahn ist ein schwerer Verkehrsunfall passiert. Die Rettungskräfte sind eiligst unterwegs. Beim Bilden der Rettungsgasse stoßen viele an ihr intellektuelles Limit. Feuerwehr und Polizei geraten ins Stocken. Klingt schlimm? Geht aber noch schlimmer.

Kaum ein Bericht über Verkehrsunfälle kommt heute ohne den Verweis auf Gaffer aus, die die Arbeit der Einsatzkräfte zusätzlich erschweren. Anstatt beiseitezutreten und die Profis ihre Arbeit machen zu lassen, denken sie nur an die höchstmögliche Zahl an Klicks, die sie für ihre private Live-Berichterstattung erhalten. In zahlreichen Talkrunden und Fernsehbeiträgen wurde dieses Phänomen aufgegriffen und heiß diskutiert. Das Problem ist also bekannt. Aber nicht neu.

In Sekunden zum Insta-Fame

Zugegeben, neu ist die Ausprägung des Phänomens. Viele werden sagen: „Solche Gaffer hat es früher nicht gegeben.“ Ein bisschen stimmt das auch. Aber woran liegt denn das? Sicher nicht daran, dass der Mensch erst in den letzten Jahren so widerwärtig neugierig und pietätlos geworden ist. Die meisten konnten schlicht und ergreifend nicht so gaffen, wie sie es heute tun.

Man versuche, sich einmal vorzustellen, wie grotesk eine solche Filmerei in den 1980er-Jahren gewirkt hätte. Da stehen sie zuhauf und filmen mit ihren VHS-Kameras jeden Handstreich der Sanitäter. Zu Hause konvertieren sie dann die Aufnahme in ein passendes Dateiformat, um sie per Internet möglichst vielen zugänglich zu machen. Vollkommener Quatsch. Selbst wenn es das Internet deutlich früher gegeben hätte: es wäre viel zu aufwändig gewesen, die Aufnahmen aus den alten Kameras hochzuladen.

Heute ist das natürlich völlig anders. Bereits wenige Sekunden nach Aufnahme können Fotos einem Millionenpublikum präsentiert werden. Das Internet vernetzt schließlich alle. Moderne Technologien wie das Smartphone leisten ihr übriges. Innerhalb weniger Momente kann die menschliche Neugierde sowie der Drang zur Selbstdarstellung befriedigt werden.

Die Macht der Vielen

Mit jedem hochgeladenen Selfie von der Unfallstelle wird der Fotograf gleichzeitig auch zum Herdentreiber. Jedes hochgeladene Bild und jeder veröffentlichte Clip treibt andere dazu, es den glorreichen Entertainern gleichzutun. Dieses Prinzip funktionierte schon immer. Es gibt die Möglichkeit, also wird sie genutzt. Beispiel Silvesterböller: Vollmundig verspricht man, in diesem Jahr weniger zu böllern. Doch was ist das?! Die Knaller gibt’s bei Kaufland im Sonderangebot? Schnell zugreifen, bevor der Nachbar einen besseren Fang macht! Es gibt die Möglichkeit, also wird sie genutzt.

Die Empörung über Silvesterböller steht dabei der Empörung über Gaffer bei Unfällen in nichts nach. Alle bekunden sie, wie abartig und widerwärtig sie das doch finden. Und trotzdem finden sich zahllose solcher Clips im Netz ein. Man kann es ja schließlich machen.

Der Star in dir

Die schier unendliche Reichweite des Internets triggert den Menschen. Jeder strebt ganz natürlich danach, in einem möglichst guten Licht dazustehen und den anderen zu überbieten. Moral und Anstand sind Grenzen, die für andere gelten. Heute kann jeder alles sein. Ob Reporter mit Low-Quality – Bildern vom Unglücksort, ob Politiker mit alternativen Fakten auf facebook oder als das was jeder sein will: Ein Star. Reality-TV á la RTL II macht’s möglich.

Hate Speech in der Kommentarspalte funktioniert übrigens ganz ähnlich wie das sinnfreie Gepose neben einem Autounfall. Viele machen es, also warum nicht auch ich? Es tut doch keinem weh. Und außerdem hat dieser Bastard eine andere Meinung als ich, also schnell mal raushauen, was ich davon halte. Bei der Hate Speech kommt allerdings noch die Anonymität erschwerend hinzu. In Foren mit Fantasienamen ist es schwierig, Autoren für ihre Kommentare haftbar zu machen.

Bei mir geht’s doch nicht

Doch genug von Autounfällen und obskuren Ergüssen im Kommentarfeld. Die Generation „Früher war alles besser“ beklagt nicht nur das grassierende Problem der Gaffer. Ihrer Meinung nach waren die Menschen früher nicht nur anständiger, sondern auch verlässlicher. Und jeder hat es doch schon mal erlebt: Man hat sich mühevoll mit einer anderen Person auf einen Termin geeinigt, um sich nach Monaten der Trennung endlich einmal wiederzusehen. Doch dann funkt die schicksalhafte Nachricht auf WhatsApp dazwischen und macht alle Hoffnungen zunichte: Mit wenigen Buchstaben wurde soeben die komplette Tagesplanung über den Haufen geworfen.

Und warum gab’s so was früher nicht? Ganz einfach, Absagen war früher schwerer. Heute reicht eine belanglose Nachricht über einen Messenger oder ein kleiner Mausklick bei Doodle, um Termine zu stornieren. Das ist nicht nur einfacher, sondern auch unpersönlicher. Früher musste man zumindest zum Telefonhörer greifen, um von dem Malheur mit der Milchflasche zu berichten oder die plötzliche Erkrankung der Hauskatze zu beichten. Die Reaktion über die Leitung erfolgte prompt. Dieser Reaktion kann man sich heute spielend leicht entziehen. Nachricht abgeschickt und schon liegt das Gerät im Eck.

Den meisten wird es aber auch erschreckend einfach gemacht. In einer so eng durchgetakteten Welt wie der heutigen ist ein jeder natürlich froh, wenn die Terminplanung von anderen übernommen wird. Diese externe Terminplanung via Doodle & Co. verkompliziert allerdings eine Sache, die früher wesentlich schneller von der Hand ging. Und wenn doch einmal was dazwischenkommt, dann ist es eben so. So einfach wie heute Absprachen erschüttert werden können, so leicht sollte man doch auch umplanen können. Glauben zumindest viele. Zum Absagen gehört also weiterhin eine gewisse Portion Taktlosigkeit. Doch die Hemmschwelle dazu liegt heute wesentlich niedriger.

Generation „Vielleicht“

„Vielleicht“ avanciert immer mehr zur Universalantwort auf Verabredungen. Vielleicht kann ich, vielleicht aber auch nicht. Schauen wir mal. Der Mensch legt sich eben nicht gerne fest. Früher musste er das. Heute nur noch selten. Bestes Zeugnis für diesen Vielleicht-Lifestyle ist der regelrechte Bestell-Wahnsinn mancher Online-Käufer. Sie bestellen Kleider in verschiedenen Größen, in der Hoffnung, dass eine Anfertigung schon passt. Was nicht passt oder sich doch eher als Fehlgriff erweist, wird kaltschnäuzig zurückgeschickt.

Weil sie es können. Ein Ausflug ins Kaufhaus inklusive mühsamer Anprobe und einer definitiven Entscheidung vor Ort ist eben zeitaufwändig. Vor allem, wenn die gleichen Strapazen für einen Umtausch erneut ins Haus stehen. Was für eine Verrenkung. Muss man allerdings nur einmal klicken, kurz auspacken, die Augen verdrehen und den Kladeradatsch zurückgehen lassen, sieht die Welt schon anders aus. Alles eine Frage der Möglichkeiten.

Eine Frage der Möglichkeiten

Viele glauben, die Gesellschaft hat sich verändert. Sie glauben, bestimmte Zeiten sind daran schuld, dass viele heute so unanständig geworden sind. Sie meinen, es seien die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Menschen mit ihren Smartphones zur Unfallstelle treiben oder zum unberechenbaren Gegenüber machen. Dass die Menschen früher besser waren. Ich muss widersprechen. Denn nicht die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geben die Möglichkeiten vor. Es sind die Möglichkeiten, die gesellschaftliche Rahmenbedingungen befördern.


Ein kleiner Junge liegt am Ufer der Elbe. Er ist tot. Ermordet. Die Spurensicherung und die Polizei sind vor Ort. Die Kommissarin kann es nicht glauben: im Hintergrund drängen sich dutzende Schaulustige gegen die Polizeiabsperrung. Ihre Smartphones ragen empor, sie machen Fotos. Angewidert wendet sich die Kommissarin ab. Sie kann es nicht fassen. Ihre Kollegin beschwichtigt sie: „Die waren immer schon so. Früher gab’s nur keine Smartphones.“ Wie recht die Tatort-Kommissarin hatte.

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„Das wird man wohl noch sagen dürfen!“

Lesedauer: 8 Minuten

Nie seit der Wende wurde in Deutschland so laut und so unüberhörbar „Wir sind das Volk“ gerufen wie in den letzten Jahren. Nie seit der Einheit wurden so ungeniert Deutschlandflaggen geschwenkt wie in den letzten Jahren, Fußball-Großereignisse ausgenommen. Und nie wurde trotz allem so sehr an der Meinungsfreiheit in unserem Land gezweifelt wie heute.

Ein geeintes und freies Land

Deutschland im Herbst 2019. Seit 30 Jahren ist die Mauer weg. Seit 29 Jahren ist auch die Einheit auf der Landkarte verwirklicht. Wovon viele Ostdeutsche jahrzehntelang träumten, ist nun auch in den neuen Bundesländern Realität: Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit. Freiheit der Berufswahl, Freiheit der Person, Freiheit der Meinung und der Rede. Im Bundestag sitzen aktuell sieben Parteien, aufgeteilt in sechs Fraktionen. Eine solche Vielfalt an unterschiedlichen Strömungen war zuletzt Ende der 1950er im Bundesparlament vertreten.

Nichtsdestotrotz fallen immer wieder Begriffe wie „Altparteien“, „politischer Mainstream“ und „Lügenpresse“. Mancheiner spricht gar von Zensur. Menschen gehen zuhauf auf die Straße, um ihrer Empörung über die Politik der letzten Jahre Luft zu machen. Offen fordern sie die Bundeskanzlerin zum Rücktritt auf. Sie haben Angst vor einer Überfremdung im Land, sie bangen um ihre Jobs. Sie vermissen eine faire und kritische Berichterstattung in den Medien. Sie sagen ihre Meinung.

Das können sie in Deutschland auch. Denn hierzulande gilt die Meinungsfreiheit. Durch Artikel 5 des Grundgesetzes ist sie verbrieftes Recht eines jeden Bürgers. Doch die Bedeutung des Begriffs der Meinungsfreiheit hat sich in jüngster Zeit gewandelt. Immer häufiger wird Meinungsfreiheit mit ungezügelter Meinungsäußerung gleichgesetzt. Und genau das ist sie nicht. Bereits der Text im Grundgesetz macht auf die Grenzen der Meinungsfreiheit aufmerksam. So darf die geäußerte Meinung weder dem Strafgesetz zuwiderlaufen noch die „Ehre“ des anderen verletzen.

Von Gutmenschen, Kapazitätsgrenzen und Völkerball

Ganz praktisch heißt das, der Spaß hört auf, wenn zu Straftaten aufgerufen wird, der Holocaust geleugnet wird oder das Gegenüber schlicht beleidigt wird. Meinungsfreiheit bedeutet schließlich auch immer die Freiheit des anderen. Und genau hier liegt der Hund begraben. Was in den letzten Jahren zu beobachten ist, ist nicht der Abbau von Meinungsfreiheit. Es ist eine geringere Bereitschaft, die Meinung anderer zu akzeptieren, sich mit ihr auseinanderzusetzen und den anderen ernstzunehmen.

Kritik begegnen viele mit einer fast automatischen Abwehrhaltung. Dem Gegenüber wird immer seltener die Freiheit zugestanden, anderer Meinung zu sein. Wer nicht alles in Grund und Boden verdammt, was von der Bundesregierung kommt, ist selbstredend ein linksgrün-versiffter Gutmensch. Dieser Mechanismus funktioniert auch in die andere Richtung. Sahra Wagenknecht spricht von offensichtlichen Grenzen der Aufnahmebereitschaft von Asylsuchenden? Kusch, kusch, ins braune Eck!

Solche Diffamierungen sind einer ernsthaften Debatte natürlich nicht zuträglich. Viel eher unterdrücken solche Verbarrikadierungen jede faire Diskussion. Es ist wesentlich bequemer, sich von Schutzwällen aus Anschuldigungen und Vorverurteilungen vor der Meinung anderer abzuschotten. Viele Menschen haben verlernt, was es bedeutet, miteinander zu diskutieren. Wer ernsthaft miteinander ins Gespräch kommen möchte, muss auch immer einen Teil seiner selbst offenlegen. Debattieren geht eben nicht ohne Zugeständnisse. Andere mit der eigenen Meinung abwerfen und bloß nicht vom Gegenüber getroffen werden – das bringt uns nicht weiter. Wir müssen weg von dieser Völkerballlogik. Es nützt viel mehr, die Hand aufzuhalten und den Ball wieder aufzufangen.

Der Wolf im Schafspelz

In Ray Bradburrys Roman „Fahrenheit 451“ löschen die Feuerwehrmänner nicht etwa Brände. Im Gegenteil, sie legen Feuer, um unliebsame Kritik aus der Welt zu schaffen. Etwas ähnliches können wir heute beobachten. Die am lautesten gegen Zensur auf die Straße gehen, haben oft mit Meinungsfreiheit selbst nicht viel am Hut. Nicht jeder, der sich zum Fürsprecher der freien Rede aufschwingt, lässt andere gerne zu Wort kommen. Wie in Bradburrys Klassiker tarnen sich die Feinde der Meinungsfreiheit als deren Verfechter, die den angeblich um sich greifenden Brand der Zensur löschen wollen. Sie implizieren, dass die freie Meinung in Deutschland akut bedroht sei. Wer jedoch auf die Straße gehen darf, umringt und geschützt von hunderten Polizisten, um den Verfall der Meinungsfreiheit zu beklagen, der braucht sich genau darum eigentlich keine Sorgen zu machen.

Glaubt man gewissen rechten Parteien, so könnte man meinen, der Staat wirft im Minutentakt unliebsame Kritiker in die Kerker unter dem Kanzleramt. Fakt ist allerdings: Noch nie wurde in diesem Land ein einziger Demonstrant von Pegida, noch ein anderer „besorgter Bürger“, aufgrund seiner bloßen Meinung mit staatlichen Repressalien überzogen. Der inzwischen beinahe geflügelte Satz „Das wird man wohl noch sagen dürfen“ impliziert, dass bereits heute tabu ist, was gestern noch völlig legitim war. Die wenigsten realisieren, dass das gesagte schon immer tabu war. Sie entlassen sich mit diesem Satz selbst aus der Verantwortung, das geäußerte kritisch zu hinterfragen. Sie mobilisieren sich gegenseitig und begreifen nicht, dass am Ende genau das Gegenteil von echter Meinungsfreiheit steht.

Meinungsfreiheit vs. Meinungsäußerung

Künstliche Bedrohungskulissen haben schon oft zum Ziel geführt. Die Rechtspopulisten heute bringen sich in die Opferrolle, um unliebsame Kritik zu entwerten. Sie suggerieren direkte Angriffe auf die Meinungsfreiheit, um die Freiheit anderer einzuschränken. Doch ein solch perfides Vorgehen lässt sich auch bei anderen Akteuren beobachten. Stichwort „Rüstungsetat“: Die Verteidigungsministerin AKK will auf Biegen und Brechen das heilige Zwei-Prozent – Ziel erreichen. Ihre Logik geht an den Fakten ebenso vorbei wie die der AfD. Lauscht man AKKs Reden, so könnte man meinen, der Russe stünde vor dem Brandenburger Tor, während der Franzose gerade im Saarland einmarschiert. Das ist ebenso an den Haaren herbeigezogen wie die von Rechtspopulisten verbreitete Mär, es gäbe Gesinnungshaft.

Immer häufiger wird Meinungsäußerung gegen Meinungsfreiheit ausgespielt. Es gibt einen Ort auf dieser Welt, an dem das häufiger geschieht als anderswo. Ein Ort, wo jeder das sagt, was ihm auf der Seele brennt. Ein Ort, an dem sich die meisten unangreifbar fühlen und nicht mit Gegenwehr rechnen: Der Küchentisch. Dort wird alles rausgehauen, was in anständigen Diskussionen keinen Platz gefunden hat. Entweder, weil die nötigen Argumente fehlen oder weil man eigentlich gar keine Lust hat, darüber ernsthaft zu debattieren. Das gute am Küchentisch: Was dort gesagt wird, bleibt dort.

Beim Internet ist das nicht so. Dieser gigantische öffentliche Küchentisch ist eine wahre Fundgrube an unterschiedlichen Ansichten und Meinungen. Kopflos wird hier eine Provokation nach der anderen vom Stapel gelassen. Guter Nährboden für eine sachliche Diskussion ist das wirklich nicht. Und genau darum geht es im Internet auch gar nicht. Viele Menschen sind einfach froh, dort all das sagen zu dürfen, womit sie anderswo mit Gegenwind zu rechnen hätten. Einige verkriechen sich hinter der Anonymität des Netzes. Meinungsaustausch rückt immer mehr in den Hintergrund. Meinungsmache leider nicht.

Immerhin gibt es bestimmte Algorithmen, die die angezeigten Inhalte für Nutzer vorauswählen. Ein negativer Kommentar unter einem Bild kann dazu führen, dass man bald eine Reihe weiterer negativer Kommentare zu dem Werk vorgeführt bekommt. Man fühlt sich kurzzeitig in seiner Meinung bestätigt, bevor sachlich recherchierte Nachrichten das soeben errichtete Gebäude zum Einsturz bringen wollen. Natürlich reagiert man dann mit Entrüstung. Und mancheiner spricht dann sogar von Lügenpresse.

Die digitale Ghettoisierung

Das wirklich bedenkliche ist, dass das Internet zum Teil ein rechtsfreier Raum ist. Erst kürzlich hat das Landgericht Berlin entschieden, dass die Bundestagsabgeordnete Renate Künast (Bündnis 90/ Die Grünen) auf das übelste beleidigt werden darf. Viel zu lange hat man versäumt, das Strafrecht auch im Internet anzuwenden – und es wird weiter versäumt. Es greift nicht einmal zu weit, wenn man sagt, es entstünden regelrechte Parallelwelten im Internet. Im Zuge dieser digitalen Ghettoisierung kann jeder beinahe unbehelligt in seiner Blase leben. Jeder kann sich seine eigene Realität so herrichten, wie es ihm beliebt. Das Internet bietet die ideale Voraussetzung dafür: Unpassende Fakten und Meinungen werden einfach ausgeblendet. Passt doch einmal etwas nicht in die eigene Wirklichkeit, wird mit harten Bandagen zurückgeschlagen.

Fakt ist: Es gibt in Deutschland die Meinungsfreiheit – und es wird sie auch weiterhin geben. Aber man darf eben nicht alles sagen, was man denkt. Wer es trotzdem tut, der leidet an Tourette. Das war viele Jahre lang absolut unstrittig. Heute ist es das nicht mehr. Ja, die Meinungsfreiheit in diesem Land ist bedroht. Aber nicht von staatlicher Zensur. Die Menschen scheinen eher zu vergessen, was Meinungsfreiheit bedeutet und wie wertvoll sie ist.

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