Fakten vercheckt

Lesedauer: 9 Minuten

Fast kein Polit-Talk kommt heute mehr ohne den Faktencheck aus. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Bei der Vielzahl kursierender „Fakten“ ist es selbst dem seriösesten Politiker manchmal nicht möglich, Wahrheit von Lüge zu unterscheiden. Manche Politiker lügen sogar bewusst, um eine bestimmte Stimmung zu erzeugen. Eine faktenbasierte Überprüfung solcher Behauptungen kann dabei helfen, Unwahrheiten schnell aufzudecken. Doch so hilfreich der sogenannte Faktenchecker im Einzelfall sein mag – seine Notwendigkeit ist Teil des Problems. Eine interessensgesteuerte Politik hat maßgeblich dazu beigetragen, dass sich viele Menschen von wissenschaftlichen Fakten entfernt haben und sich lieber die eigene Wahrheit zurechtbiegen. Es ist äußerst kurzsichtig zu glauben, der Faktenchecker allein könnte dieses Problem lösen.

2017 kürte die sechsköpfige Sprachjury die “alternativen Fakten“ zum Unwort des Jahres 2017. Lange im Rennen war auch der Begriff „Fake News“. Beide Schlagwörter greifen einen besorgniserregenden Trend der letzten Jahre auf. Über die sozialen Medien, private und öffentliche Chatgruppen und Foren im Internet kann heute praktisch jeder seine eigene Wahrheit verbreiten. Es handelt sich dabei aber oft schlicht um Meinungen, die mit klug gewählten Zahlen und Statistiken zum unumstößlichen Fakt umfrisiert wurden. Wer diesen gezielten Falschmeldungen mit seriösen wissenschaftlichen Erkenntnissen begegnet, wird häufig niedergebrüllt und zum gutgläubigen Mainstreamer herabgewürdigt.

Fake News per Mausklick

Es ist beinahe erstaunlich, dass sich das Phänomen „Fake News“ so lange Zeit gelassen hat, bevor es in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist. Sein wichtigstes Medium, das Internet, gab es schon Jahre bevor sich die Menschen über Donald Trump, Querdenker und Attila Hildmann geärgert haben. Es ist etwas passiert mit unserer Gesellschaft. Ob dafür nur die unbegrenzten Möglichkeiten des Internets verantwortlich sind, sei dahingestellt. Fakt ist, dass es nie so einfach war wie heute, der Welt seine Sicht auf die Dinge aufzuzwängen.

Wer sich früher die Mühe machen musste, ein kleines Podest auf dem örtlichen Marktplatz aufzubauen und die Elektrik in den Griff zu bekommen, bevor möglichst viele Menschen den weisen Worten lauschen konnten, der wird heute mit wenigen Mausklicks zur gefeierten Persönlichkeit in der virtuellen Welt. Auch den potenziellen Zuhörerinnen und Zuhörern wird es heute spielend leicht gemacht, sich den Ergüssen mancher Meinungsmacher auszusetzen und den eigenen IQ dadurch künstlich zu verringern. Das Internet bietet nicht nur unendliche Möglichkeiten, sondern auch ein fast unendliches Publikum.

Fakten gecheckt?

Die Politik und die herkömmlichen Medien bieten dieser Verbreitung von Falschinformationen mit Faktencheckern die Stirn. Sie möchten den arglosen Lesern, Zuhörern und an der Wahrheit interessierten dadurch die Möglichkeit geben, Fake New und unhaltbare Behauptungen schnell und sicher zu identifizieren. Besonders in Polit-Talks taucht in regelmäßigen Abständen ein Info-Banner zum Faktencheck ein. Wenn die Damen und Herren Politiker mal wieder wagemutig mit Prozentsätzen und Geldsummen jonglieren, sollen die eingeblendeten Informationen ihre Worte untermauern oder richtigstellen.

Auch in den sozialen Medien sind solche Faktenchecks mittlerweile Gang und Gäbe. Hin und wieder stolpert man über Kommentare, die als wenig vertrauenswürdig markiert wurden, weil sie einer faktenbasierten Überprüfung nicht standhalten können. Manche Beiträge verschwinden als Konsequenz daraus sogar ganz. Die Faktenchecker sind ein sinnvolles Werkzeug, um Lügen frühzeitig aufzudecken und der Verbreitung von Falschmeldungen einen Riegel vorzuschieben.

Computerbasierte Fakten

Trotzdem ist es nicht verantwortungsvoll, sich einzig auf den Output dieser häufig von Computern generierten Faktenprüfung zu verlassen. Denn jeder Sender ist eine eigene Instanz. Wenn sich ein zufällig ausgewählter Wutbürger dazu entschließt, seinem Unmut im Internet luftzumachen, dann ist das seine bewusste Entscheidung. Der Grat zwischen Meinung, Interpretation und Lüge ist oft ein sehr schmaler. Es müssen gute Gründe vorliegen, um das Gesagte durch eine weitere Instanz, einem Faktenchecker, als wahr oder unwahr deklarieren zu lassen. Denn auch solche Faktenchecker sind vor irreführenden Interpretationen nicht gefeit.

Bei der Vielzahl an veröffentlichten „Wahrheiten“ im Internet ist es natürlich nicht möglich, dass sich tatsächliche Personen mit jedem Kommentar und jedem Beitrag kritisch auseinandersetzen. Computer haben diese Aufgabe übernommen, bevor der Mensch hier überhaupt fußfassen konnte. Wir sollten uns sehr genau überlegen, wie weit wir dieser maschinell erzeugten Realität vertrauen möchten. So einfach es heute ist, Unwahrheiten zu verbreiten, so leicht ist es inzwischen auch, unliebsame Meinungen mit vermeintlichen Fakten in Misskredit zu bringen.

Kritisches Denken outgesourt

Besonders die Politik bot in den vergangenen Jahren oft Anlass dazu, Entscheidungen und Beschlüsse kritisch zu hinterfragen. Großspurige Wahlversprechen wurden kurz nach der Wahl wieder einkassiert, viele Weichenstellungen kamen gerade der Mittelschicht und Geringverdienern teuer zu stehen. Trotzdem hat sich zwischenzeitlich der Trend etabliert, Behauptungen und Meldungen nicht mehr kritisch zu hinterfragen. Die enttäuschenden Erfahrungen haben eher dazu geführt, dass vieles, was „von oben“ kommt pauschal als schlecht und schädlich abgestempelt wird.

Die Politik der großen Enttäuschungen – angefangen beim Ausbleiben der blühenden Landschaften im Osten über die Hartz-Gesetze bis hin zur nun doch kommenden Impfpflicht – hat viele Menschen fassungslos zurückgelassen und bei ihnen jede Glaubwürdigkeit verspielt. Umso empfänglicher sind sie für Fake News, die an und für sich durch wissenschaftlich fundierte Fakten widerlegbar wären. Die vorgeblichen „Fakten“ mit denen AfD, Querdenker und besorgte Bürger um die Ecke kommen, sind ebenfalls mit Zahlen unterlegt, die für ein Gefühl von Sicherheit und Korrektheit sorgen.

Auf der anderen Seite vertrauen viele Menschen zu sehr den verheißungsvollen Faktencheckern. Sie wissen genau, dass Fake News inzwischen eine ernstzunehmende Waffe in der politischen Auseinandersetzung geworden sind und möchten sich entsprechend dagegen schützen. Auch sie setzen sich mit der Materie nicht kritisch auseinander, wenn sie die Informationen aus den Faktencheckern zur obersten Wahrheit erheben. Sie verkennen dadurch den Stellenwert einer solchen Faktenüberprüfung, die auf der Suche nach der Wahrheit durchaus hilfreich sein kann, die Realität aber nicht immer 1:1 wiedergibt. Eine solche Handhabung gewöhnt kritisches Fragen eher ab als an.

Katalysator für Fehlentwicklungen

Viele Expertinnen und Experten sind sich einig, dass das Internet beim Phänomen Fake News nur eine Nebenrolle spielt. Das Medium der Neuzeit wäre zwar ideal zur schnellen Verbreitung von Falschmeldungen, aber nicht deren Ursache. Das stimmt soweit. Andere Faktoren müssen erfüllt sein, damit Menschen überhaupt ein Interesse daran haben, fehlleitende Halbwahrheiten zu verbreiten oder dafür empfänglich zu sein. Erwecken Politik und Wissenschaft über längere Zeit den Eindruck, unglaubwürdig und interessengesteuert zu sein, wenden sich viele Menschen solchen alternativen Fakten zu. Doch selbst wenn sich Politik und Forschung um das letzte bisschen Glaubwürdigkeit brächten, würden sich Falschmeldungen ohne Internet nicht so schnell verbreiten.

Das Internet spielt also sehr wohl eine wichtige Rolle bei diesem besorgniserregenden Trend. Es ist nicht Ursache aber Katalysator einer gesellschaftlichen Stimmung, die der Demokratie mehr und mehr schadet. In der virtuellen Welt kann sich jeder ein Forum für seinen Frust und seine Ablehnung erschaffen. Leidensgenossen können sich unheimlich schnell vernetzen und ihre Reichweite dadurch vergrößern. Ausgesprochen gut funktioniert das, wenn falsche politische Entscheidungen dafür gesorgt haben, dass sich möglichst viele Menschen angesprochen fühlen. In Zeiten des Internets rächt es sich besonders schnell, wenn sich Politiker eher Lobbyisten statt den Wählerinnen und Wählern verpflichtet fühlen.

Keine nachhaltige Lösung

Nicht immer ist diese Empörung und Resignation gerechtfertigt. Raffinierte Algorithmen sorgen aber dafür, das Frustrationslevel hoch zu halten und die Blase nicht zum Platzen zu bringen. Den mitunter unsachlichen und beleidigenden politischen Ergüssen im Internet versucht die Politik seit ein paar Jahren über strengere Kontrollen und Richtlinien beizukommen. Doch immer klarer wird: Werte wie Anstand und Moral oder ein Gespür für gewisse Gesprächskonventionen sind in der Anonymität des Internets kaum haltbar. Das Sperren bestimmter Inhalte und der fleißige Einsatz von Faktencheckern sind keine nachhaltigen Lösungen, weil sie zwangsläufige Folgen des Problems sind und die Gräben eher vertiefen.

Die Politik sollte lieber daran arbeiten, Fake News und Fehlinformationen die Grundlage zu entziehen. Gerade in Zeiten der Krise ist es wichtig, die Bedenken der Menschen ernstzunehmen und sie nicht pauschal zu Spinnern und Verschwörungstheoretikern zu degradieren. Das Ziel darf nicht sein, die Menschen zu belehren und ihnen die eigene Sicht der Dinge aufzuzwingen, sondern ihnen zuzuhören und einen Kompromiss zu finden, der für beide Seiten zufriedenstellend ist. Das Internet wird auch in Zukunft ein beliebtes Forum für Selbstdarstellungen und Inszenierungen sein. Entscheidend ist aber, wer das überzeugendere Bühnenprogramm auf die Beine stellt.

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Unvorbereitet frei

Lesedauer: 7 Minuten

Ein Like hier, ein Emoji dort – nirgendwo ist Mitmachen leichter als im Internet. Nur ein Klick und die neuen Schuhe sind unterwegs. Zehn Sekunden auf Google und das Alltagsproblem ist gelöst. Lästige Wahlen waren gestern – im Netz ist jeder ein gefragter Politiker. Doch viel zu häufig wird das bunte Treiben im Netz für bare Münze genommen. Krampfhaft soll eine virtuelle Realität erzeugt werden, die an den einfachsten Konventionen scheitert. Das Internet ist Freiheit. Aber Freiheit gibt’s nicht für lau.

Kein Anschluss unter dieser Nummer

Pascal ist zehn Jahre alt und besucht die vierte Klasse einer Grundschule irgendwo in Deutschland. Er sitzt gerade am Wohnzimmertisch und brütet über seinen Mathe-Hausaufgaben. Seine Mutter betritt den Raum. Sie bewundert die Treppen, die er bei der schriftlichen Division gezeichnet hat. Er ist schon im Begriff alles wegzupacken und nach draußen zu gehen, da fragt ihn seine Mutter: „Hast du Tante Sandra schon angerufen und dich für das Geschenk bedankt?“ Während er sein Mathebuch in die Tasche zwängt, entgegnet er: „Nein, geht nicht. Papa ist gerade im Internet.“

Die Ü25er werden diese Szene zu gut aus ihrer Kindheit kennen. Schließlich galt bis vor ungefähr fünfzehn Jahren die goldene Regel: Ist jemand im Internet, dann geht das Telefon nicht. Diese Zeiten sind lange vorbei. Einwahlverbindungen, die die Telefonleitung belegen, waren ihrerzeit schon lästig und out. Heute wird mit gleich mehreren Endgeräten im Internet gesurft und gleichzeitig telefoniert. Seit den 90er Jahren hat das Internet eine Privatisierungswelle erlebt, die jedes kaputtgesparte Krankenhaus blass aussehen lässt.

Do It Yourself

Noch vor etwa zwanzig Jahren war das Internet im großen und ganzen kommerziellen Zwecken vorbehalten. Firmen, Konzerne und Behörden hatten einen stabilen Zugang zum Internet, ohne dabei auf wichtige Telefonate verzichten zu müssen. Wer sich daheim den Luxus Internet gönnen wollte, der war zumindest zeitweise telefonisch nicht erreichbar. Erst im Laufe der 00er-Jahre wandelte sich das Internet zum Allgemeingut. Im Vordergrund standen seitdem nicht mehr Geschäftsaktivitäten und Mailverkehr, sondern Einzelhandel und Selbstdarstellung.

Innerhalb weniger Jahre war das Internet von einem virtuellen Marktplatz zu einer regelrechten Parallelgesellschaft angewachsen. Neue Seiten und Plattformen schnitten das Internet immer mehr auf das Individuum zu. Mithilfe sozialer Netzwerke konnte man zunächst alte Freunde wiederfinden, dann selbst Internetfreundschaften knüpfen und schließlich jedem sein Mittagessen aufzwingen. Selbst in den sozialen Netzwerken stand immer weniger die Gemeinschaft im Mittelpunkt, wie beispielsweise bei wer-kennt-wen, sondern immer mehr der einzelne Nutzer selbst. Bei Instagram geht es nicht darum, der Internetgemeinschaft zu nutzen. Die Community muss dem User nutzen.

Kein Face-to-face

Das Internet bietet oft die Möglichkeit, weitgehend anonym zu bleiben. Auf vielen Websites und in vielen Foren und Portalen muss niemand sein Gesicht zeigen, wenn er es nicht will. Mithilfe von Avatars und Pseudonymen erschaffen sich viele Menschen eine Art Parallelcharakter, mit dem sie an der virtuellen Gesellschaft teilhaben. Einige übersehen dabei aber, dass sich diese virtuelle Community in manchen Punkten gar nicht so sehr von der realen Community vor dem Bildschirm unterscheidet. Hinter jedem Internetprofil und hinter jedem Fantasienamen steckt nämlich ein Mensch mit total normalen menschlichen Bedürfnissen und Ansprüchen. Die meisten davon stellen an die Internetgesellschaft die gleichen Anforderungen wie an die reale Gesellschaft.

Und hier wird’s knifflig. Obwohl sich alle einig sind, dass ein respektvoller Umgangston und das Einhalten einfachster Verhaltensregeln das A und O sind, kommt es gerade im virtuellen Raum immer wieder zu verbalen Entgleisungen.  Die Anonymität des Internet eröffnet den Menschen fast unbegrenzte Möglichkeiten der Beteiligung und Mitsprache. Sie verhindert aber gleichzeitig, dass sich bestimmte soziale Konventionen durchsetzen können.

In den seltensten Fällen sitzen sich zwei Internetnutzer direkt gegenüber, wenn sie im Netz kommunizieren. Selbst bei der Videotelefonie steht das verpixelte Abbild einem echten Face-to-face – Erlebnis entgegen. Solche Faktoren senken die Hemmschwelle, bestimmte Dinge zu sagen. Wenn ich nicht weiß, mit wem ich es zu tun habe, wenn ich nicht sehe, wie der andere reagiert, dann fällt es mir leichter, ihm das ein oder andere an den Kopf zu werfen. Diese virtuellen Ergüsse reichen von emotionalen Ausbrüchen, über Cybermobbing bis hin zur Androhung von Gewalt.

Kein Internet ohne Selbstdarstellung

In den letzten Monaten versuchte der Gesetzgeber verstärkt, gegen diese Art der Cyberkriminalität vorzugehen. Weil es aber versäumt wurde, frühzeitig Kontrollmechanismen in sozialen Netzwerken zu etablieren, eindeutige Grenzen des im Internet sagbaren zu ziehen und bestimmte Normen zu definieren, erleiden viele dieser Bemühungen traurigen Schiffbruch.

Die Durchsetzung solcher Richtlinien ist vor allem deshalb schwierig, weil das Internet eine globale Angelegenheit ist und sich die virtuelle Gesellschaft nur dann optimal ausbreitet, wenn sie an möglichst wenige starre Regeln gebunden ist. Denn die Ausweitung des Internets in den privaten Raum und die wachsenden Möglichkeiten, sich selbst darzustellen, bedingen sich gegenseitig.

Eingebildet beliebt

Kein Mensch mag Regeln. Regeln sind langweilig und Regeln verderben den Spaß. Das Internet eröffnet eine Vielzahl an Möglichkeiten. Zwar gelten bestimmte Regeln auch da – es gehört sich einfach nicht, ein Produkt zum Kauf anzubieten, das in Wirklichkeit nicht existiert – aber viele dieser Regeln lassen sich viel leichter unterwandern als im echten Leben. Besonders wenn es um die Darstellung des eigenen Ichs geht, bietet das Internet eine beinahe anarchische Alternative zur durchreglementierten Realität. Ungehemmt wird ein Selfie nach dem anderen rausgehauen. Eine Stopp-Taste gibt es nicht, die Likes sprechen eben eine deutliche Sprache. Wenn einem doch mal was nicht passt, folgt prompt der Kommentar der Vernichtung. Das Leben in der Blase kennt weder Gut noch Böse. Plattformen wie Instagram gaukeln den Nutzern vor, ein Star zu sein. Ablehnung und Widerstand gibt es in diesem Kosmos nicht.

Das kann dann durchaus so weit gehen, dass viele dieses Leben in der Blase dem Leben im Hier und Jetzt vorziehen. Verwöhnt von zig Liebesbekundungen und abertausenden von Likes stieg vor kurzem die 22-jährige Jana aus Kassel die Bühne hinauf. Gleich ihr erster Satz bewies, dass sie das Denken lange verlernt hatte. Ein pflichtbewusster Ordner wies sie bestimmt darauf hin. Anstatt sich vom Gesagten zu distanzieren oder dem Gegenredner mit Argumenten zu begegnen, pfefferte die gute Jana das Mikro auf den Boden. Sie begann zu weinen und stürmte von der Bühne. Auf Widerstand war sie nicht vorbereitet.

Solche Janas gibt es viele. Sie sind von den Verhaltensweisen im Internet und in sozialen Netzwerken derart geprägt, dass sie vergessen haben, dass die eigene Meinung nicht zwangsläufig deckungsgleich mit den Vorstellungen anderer Menschen ist. Im Netz können sie solche Querschießer leicht ausblenden oder blockieren. Haben sie diese Möglichkeit nicht, dann fließen die Tränen. Die automatische Schlussfolgerung: Die Meinungsfreiheit ist bedroht. Das Internet kann uns nicht auf die Realität vorbereiten, weil ihm dazu noch wichtige Komponenten fehlen. Die Wirklichkeit hingegen ist eine gute Vorbereitung auf das Internet. Sie ist eine gute Vorbereitung auf die Möglichkeiten und Freiheiten, die uns dort erwarten. Leichter als sonstwo wird im Internet geshoppt, gezockt und die eigene Meinung gesagt. Doch auf Freiheit muss man vorbereitet sein.


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Eine Frage der Möglichkeiten

„Das wird man wohl noch sagen dürfen!“

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Eine Frage der Möglichkeiten

Lesedauer: 9 Minuten

Der Mensch ist Meister darin, stets das beste aus seiner Situation zu machen. Herausragende Erfindungen und Fortschritte waren so möglich. Dabei findet der Mensch auch immer einen Weg, seine Neigungen und Gelüste auszuleben, zumindest soweit es ihm möglich ist. Neugier, die Lust auf Ungebundenheit und der Drang sich zu beweisen wohnen dem Menschen ganz natürlich inne. Es gibt aber Kanäle, die es kinderleicht machen, diesen Neigungen freien Lauf zu lassen. Viel zu leicht…

Motivation schafft Genies

Seit Jahrtausenden besiedelt der Mensch die Erde. Und er ist zu außergewöhnlichem fähig: er bildete Staaten, bändigte das Feuer, er baute Pyramiden, flog zum Mond und er rottete Krankheiten wie die Pest aus. Mit der richtigen Motivation ist jeder Mensch zu Bestleistungen fähig. Doch so gut wie die menschlichen Errungenschaften auch sind, der Mensch schafft es stets, aus den geschaffenen Möglichkeiten das negativste Potenzial herauszuholen.

„Krieg“ mögen die meisten jetzt denken. Und es stimmt. Ohne den Menschen gäbe es keinen Krieg auf diesem Planeten. Doch so weit muss man gar nicht gehen. Es reicht ein Blick in den Alltag, um zu erkennen, dass manche Muster die Zeiten überdauern.

Altes Problem in neuem Gewand

Man kennt es: Auf einer Autobahn ist ein schwerer Verkehrsunfall passiert. Die Rettungskräfte sind eiligst unterwegs. Beim Bilden der Rettungsgasse stoßen viele an ihr intellektuelles Limit. Feuerwehr und Polizei geraten ins Stocken. Klingt schlimm? Geht aber noch schlimmer.

Kaum ein Bericht über Verkehrsunfälle kommt heute ohne den Verweis auf Gaffer aus, die die Arbeit der Einsatzkräfte zusätzlich erschweren. Anstatt beiseitezutreten und die Profis ihre Arbeit machen zu lassen, denken sie nur an die höchstmögliche Zahl an Klicks, die sie für ihre private Live-Berichterstattung erhalten. In zahlreichen Talkrunden und Fernsehbeiträgen wurde dieses Phänomen aufgegriffen und heiß diskutiert. Das Problem ist also bekannt. Aber nicht neu.

In Sekunden zum Insta-Fame

Zugegeben, neu ist die Ausprägung des Phänomens. Viele werden sagen: „Solche Gaffer hat es früher nicht gegeben.“ Ein bisschen stimmt das auch. Aber woran liegt denn das? Sicher nicht daran, dass der Mensch erst in den letzten Jahren so widerwärtig neugierig und pietätlos geworden ist. Die meisten konnten schlicht und ergreifend nicht so gaffen, wie sie es heute tun.

Man versuche, sich einmal vorzustellen, wie grotesk eine solche Filmerei in den 1980er-Jahren gewirkt hätte. Da stehen sie zuhauf und filmen mit ihren VHS-Kameras jeden Handstreich der Sanitäter. Zu Hause konvertieren sie dann die Aufnahme in ein passendes Dateiformat, um sie per Internet möglichst vielen zugänglich zu machen. Vollkommener Quatsch. Selbst wenn es das Internet deutlich früher gegeben hätte: es wäre viel zu aufwändig gewesen, die Aufnahmen aus den alten Kameras hochzuladen.

Heute ist das natürlich völlig anders. Bereits wenige Sekunden nach Aufnahme können Fotos einem Millionenpublikum präsentiert werden. Das Internet vernetzt schließlich alle. Moderne Technologien wie das Smartphone leisten ihr übriges. Innerhalb weniger Momente kann die menschliche Neugierde sowie der Drang zur Selbstdarstellung befriedigt werden.

Die Macht der Vielen

Mit jedem hochgeladenen Selfie von der Unfallstelle wird der Fotograf gleichzeitig auch zum Herdentreiber. Jedes hochgeladene Bild und jeder veröffentlichte Clip treibt andere dazu, es den glorreichen Entertainern gleichzutun. Dieses Prinzip funktionierte schon immer. Es gibt die Möglichkeit, also wird sie genutzt. Beispiel Silvesterböller: Vollmundig verspricht man, in diesem Jahr weniger zu böllern. Doch was ist das?! Die Knaller gibt’s bei Kaufland im Sonderangebot? Schnell zugreifen, bevor der Nachbar einen besseren Fang macht! Es gibt die Möglichkeit, also wird sie genutzt.

Die Empörung über Silvesterböller steht dabei der Empörung über Gaffer bei Unfällen in nichts nach. Alle bekunden sie, wie abartig und widerwärtig sie das doch finden. Und trotzdem finden sich zahllose solcher Clips im Netz ein. Man kann es ja schließlich machen.

Der Star in dir

Die schier unendliche Reichweite des Internets triggert den Menschen. Jeder strebt ganz natürlich danach, in einem möglichst guten Licht dazustehen und den anderen zu überbieten. Moral und Anstand sind Grenzen, die für andere gelten. Heute kann jeder alles sein. Ob Reporter mit Low-Quality – Bildern vom Unglücksort, ob Politiker mit alternativen Fakten auf facebook oder als das was jeder sein will: Ein Star. Reality-TV á la RTL II macht’s möglich.

Hate Speech in der Kommentarspalte funktioniert übrigens ganz ähnlich wie das sinnfreie Gepose neben einem Autounfall. Viele machen es, also warum nicht auch ich? Es tut doch keinem weh. Und außerdem hat dieser Bastard eine andere Meinung als ich, also schnell mal raushauen, was ich davon halte. Bei der Hate Speech kommt allerdings noch die Anonymität erschwerend hinzu. In Foren mit Fantasienamen ist es schwierig, Autoren für ihre Kommentare haftbar zu machen.

Bei mir geht’s doch nicht

Doch genug von Autounfällen und obskuren Ergüssen im Kommentarfeld. Die Generation „Früher war alles besser“ beklagt nicht nur das grassierende Problem der Gaffer. Ihrer Meinung nach waren die Menschen früher nicht nur anständiger, sondern auch verlässlicher. Und jeder hat es doch schon mal erlebt: Man hat sich mühevoll mit einer anderen Person auf einen Termin geeinigt, um sich nach Monaten der Trennung endlich einmal wiederzusehen. Doch dann funkt die schicksalhafte Nachricht auf WhatsApp dazwischen und macht alle Hoffnungen zunichte: Mit wenigen Buchstaben wurde soeben die komplette Tagesplanung über den Haufen geworfen.

Und warum gab’s so was früher nicht? Ganz einfach, Absagen war früher schwerer. Heute reicht eine belanglose Nachricht über einen Messenger oder ein kleiner Mausklick bei Doodle, um Termine zu stornieren. Das ist nicht nur einfacher, sondern auch unpersönlicher. Früher musste man zumindest zum Telefonhörer greifen, um von dem Malheur mit der Milchflasche zu berichten oder die plötzliche Erkrankung der Hauskatze zu beichten. Die Reaktion über die Leitung erfolgte prompt. Dieser Reaktion kann man sich heute spielend leicht entziehen. Nachricht abgeschickt und schon liegt das Gerät im Eck.

Den meisten wird es aber auch erschreckend einfach gemacht. In einer so eng durchgetakteten Welt wie der heutigen ist ein jeder natürlich froh, wenn die Terminplanung von anderen übernommen wird. Diese externe Terminplanung via Doodle & Co. verkompliziert allerdings eine Sache, die früher wesentlich schneller von der Hand ging. Und wenn doch einmal was dazwischenkommt, dann ist es eben so. So einfach wie heute Absprachen erschüttert werden können, so leicht sollte man doch auch umplanen können. Glauben zumindest viele. Zum Absagen gehört also weiterhin eine gewisse Portion Taktlosigkeit. Doch die Hemmschwelle dazu liegt heute wesentlich niedriger.

Generation „Vielleicht“

„Vielleicht“ avanciert immer mehr zur Universalantwort auf Verabredungen. Vielleicht kann ich, vielleicht aber auch nicht. Schauen wir mal. Der Mensch legt sich eben nicht gerne fest. Früher musste er das. Heute nur noch selten. Bestes Zeugnis für diesen Vielleicht-Lifestyle ist der regelrechte Bestell-Wahnsinn mancher Online-Käufer. Sie bestellen Kleider in verschiedenen Größen, in der Hoffnung, dass eine Anfertigung schon passt. Was nicht passt oder sich doch eher als Fehlgriff erweist, wird kaltschnäuzig zurückgeschickt.

Weil sie es können. Ein Ausflug ins Kaufhaus inklusive mühsamer Anprobe und einer definitiven Entscheidung vor Ort ist eben zeitaufwändig. Vor allem, wenn die gleichen Strapazen für einen Umtausch erneut ins Haus stehen. Was für eine Verrenkung. Muss man allerdings nur einmal klicken, kurz auspacken, die Augen verdrehen und den Kladeradatsch zurückgehen lassen, sieht die Welt schon anders aus. Alles eine Frage der Möglichkeiten.

Eine Frage der Möglichkeiten

Viele glauben, die Gesellschaft hat sich verändert. Sie glauben, bestimmte Zeiten sind daran schuld, dass viele heute so unanständig geworden sind. Sie meinen, es seien die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die Menschen mit ihren Smartphones zur Unfallstelle treiben oder zum unberechenbaren Gegenüber machen. Dass die Menschen früher besser waren. Ich muss widersprechen. Denn nicht die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen geben die Möglichkeiten vor. Es sind die Möglichkeiten, die gesellschaftliche Rahmenbedingungen befördern.


Ein kleiner Junge liegt am Ufer der Elbe. Er ist tot. Ermordet. Die Spurensicherung und die Polizei sind vor Ort. Die Kommissarin kann es nicht glauben: im Hintergrund drängen sich dutzende Schaulustige gegen die Polizeiabsperrung. Ihre Smartphones ragen empor, sie machen Fotos. Angewidert wendet sich die Kommissarin ab. Sie kann es nicht fassen. Ihre Kollegin beschwichtigt sie: „Die waren immer schon so. Früher gab’s nur keine Smartphones.“ Wie recht die Tatort-Kommissarin hatte.

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