Kein Rückgrat

Lesedauer: 8 Minuten

Das Jahr ist noch nicht einmal halb zu Ende und doch hat sich die Welt so rasch verändert wie lange nicht. Ein aggressives Virus hält weite Teile der Erde weiter in Atem. In mehreren Ländern drohen die Gesundheitssysteme zusammenzubrechen, es herrscht Not, Armut, Hunger. Deutschland ist im Vergleich zu anderen Nationen bisher vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. Auch hierzulande liegt die Zahl der Todesopfer erschreckend hoch, vor einem generellen Kollaps stand unser Land aber nicht. Die getroffenen Maßnahmen kamen zwar spät, aber sie kamen. Zwischenzeitlich finden sie die Zustimmung von weit mehr als der Hälfte der Bürgerinnen und Bürger im Land. Doch Umfragen sind leider nur Umfragen. Reden und Handeln der Leute sind in dieser Angelegenheit nicht kongruent.

Ein Jahr, zwei Realitäten

Deutschland im Juni 2020: Das Land ist weiterhin im Ausnahmezustand. Maskenpflicht, Abstandsgebote und eine eingeschränkte Infrastruktur bestimmen trotz deutlicher Lockerungen das öffentliche Leben. Die Gastronomie erholt sich nur schleppend von dem generellen Lock-down ihrer Geschäfte, Solo-Selbstständige bangen um ihre Existenz, viele andere Beschäftigte weilen weiter in Kurzarbeit. Bei anderen haben die drastischen Maßnahmen trotz aller Bemühungen nicht gewirkt: sie sind am Coronavirus erkrankt, müssen ins Krankenhaus, manche ringen mit dem Tode.

Auch Deutschland im Juni 2020: Menschen drängen sich dicht an dicht auf öffentlichen Plätzen, sie führen im Zug nur zu Alibizwecken eine Maske mit sich, manche feiern wilde Corona-Partys. Das warme, sommerliche Wetter kann seine Wirkung auf das Virus so nicht voll entfalten. Ein Einbruch bei den Neuinfektionszahlen steht weiterhin aus. An so etwas wie einen Normalzustand ist im Gesundheitswesen weiter nicht zu denken.

Beide Bilder passen so gar nicht zueinander. Es ist, als würde man zwei unterschiedliche Welten betrachten. Der Unterschied geht weiter auseinander als es sonst zwischen Theorie und Praxis üblich ist. Denn die weiterhin viel zu hohen Infektionszahlen, die Selbstständigen mit krassen finanziellen Einbußen und die Oma, die ihre Enkel vor Gezeiten das letzte Mal gesehen hat – das ist viel mehr als reine Theorie. Es ist die Wirklichkeit.

Allein gegen alle

Angesichts dessen, dass zwei Drittel der Deutschen die Maßnahmen gegen das Coronavirus als genau richtig bewerten, ist es schon verwunderlich, dass im Juni, also im dritten Monat in Folge, weiterhin relativ strenge Maßnahmen gelten. Und das obwohl sich doch zwei Drittel der Menschen so brav an die Verordnungen und Vorschriften halten. Aber Moment! Wieder gibt es einen himmelweiten Unterschied zwischen Theorie und Praxis. Viele Menschen behaupten einfach nur, dass sie die Maßnahmen richtig finden. Ihr Handeln entspricht dem leider nicht immer.

Denn wenn zwei Drittel die Maßnahmen tatsächlich aus voller Überzeugung mittragen, dann bleibt noch ein Drittel übrig, welches die Maßnahmen entweder total doof findet oder als viel zu lasch einschätzt. Jene, die die Vorkehrungen als übertrieben ansehen, dürften also nicht mal ganz ein Fünftel der Gesamtbevölkerung ausmachen. Trotzdem gehört der typische Falschträger zum Bild, wenn man heute einkaufen geht, mit der Bahn fährt oder einen Brief bei der Post aufgibt.

Es ist beinahe zum Verzweifeln. Man hat das Gefühl, man sei der einzige, der die Maßnahmen korrekt einhält. Und genau das denken die notorischen Falschträger auch: dass sie die einzigen sind. Was macht es denn, wenn ich die Maske heute ausnahmsweise mal nicht über die Nase ziehe? Als ob ich dann jemanden anstecken würde. In China fällt ein Sack Reis um (und vermutlich gleich noch ein Corona-Kranker hinterher). Diese Menschen sind unfähig dazu, Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen. Sie verlassen sich einzig auf die anderen. Ist doch nicht mein Kampf, sollen andere den doch führen. Und genau das tun sie. Die Richtigträger kämpfen gegen Corona. Die Hygienedemonstranten und Totalverweigerer kämpfen gegen die massiven Einschränkungen. Falschträger allerdings kämpfen gar nicht. Sie haben schlicht keinen Arsch in der Hose.

Ordnungsfeind Mensch

Gerade jetzt hört man einen Satz besonders oft: „Bitte achten Sie auf sich und andere!“ Die gute Nachricht: Der Satz ist total lieb gemeint. Die schlechte Nachricht: Aufeinander Acht geben hat schon zu Normalzeiten nicht geklappt. Die einfache Regel „Zuerst aussteigen lassen, dann einsteigen“ wird auch während Corona munter weiter gebrochen. Als hätten die Menschen panische Angst davor, der besonders gehässige Zugfahrer lässt die Zugtüren genau in dem Moment zuschlagen, wenn der letzte Fahrgast ausgestiegen ist. Wie Mäuse auf der Flucht quetschen sich viele auch in der derzeitigen Situation unter den triefend nassen Achselhöhlen ihrer Mitmenschen ins Zugabteil hinein. In einer ungesunden Mischung aus Grenzdebilität und aufgestautem Sexmangel verdrängen sie, dass die Welt seit Monaten von einem aggressiven Virus heimgesucht wird.

Dabei macht es der Staat seinen Bürgen doch spielend einfach. Die geltenden Maßnahmen sind doch wirklich kein Hexenwerk. Niemand muss studiert haben, um in geschlossenen, nicht-privaten Räumen eine Maske zu tragen. Es bedarf keiner geistigen Glanzleistung, die rechte Tür als Eingang und die linke als Ausgang zu benutzen. Anscheinend ist der Mensch aber doch nicht so ordnungsliebend wie ihm immer nachgesagt wird. Denn bereits vor Corona kamen die Menschen regelmäßig auf der falschen Seite die viel zu breite Treppe heruntergerauscht. Anscheinend fahren sie so aber zum Glück nicht Auto, sonst wären sie heute ja gar nicht mehr da. Immer deutlicher wird: Wo sich der Ellbogen etabliert hat, da hat Rücksicht keine Chance.

Kopflosigkeit mit Folgen

Doch zurück zu den Zahlen und Fakten: Die meisten werden vermuten, dass aktuell von den Hygienedemonstranten die größte Gefahr ausgeht. Tatsächlich versuchen Verschwörungstheoretiker sämtlicher Couleur nach Kräften, das Vertrauen in Regierung und Rechtsstaat auszuhöhlen. Sie zeichnen eine Rechtlosigkeit und Willkür, die es so nicht gibt. Doch die eigentliche Gefahr geht von all den Menschen aus, die die Gesundheit anderer fahrlässig auf’s Spiel setzen. Die konsequent nicht verstehen wollen, warum der Stofffetzen Mund-Nase – Schutz heißt.

Es ist doch überhaupt kein Wunder, dass die Zahl der ablehnenden so gering ist, wenn die übergroße Zahl derer, die die Maßnahmen tatsächlich ablehnen, nicht dazu steht. Man soll ja fair bleiben: vielen der chronischen Falschträgern geht es gar nicht um ein Statement. Sie sind sich einfach der Konsequenzen ihres Handelns überhaupt nicht bewusst. Sie begreifen nicht, dass sie durch ihr konsequentes Verweigern zum Stellungbeziehen den wirklichen Gegnern enormen Vorschub leisten. Denn wer die Maßnahmen zu lax handhabt, der sorgt indirekt zu steigenden Infektionszahlen und damit zu stärkeren Eingriffen. Letztendlich ist das Wasser auf die Mühlen derer, die auch noch das letzte bisschen Vertrauen in die Menschlichkeit auslöschen wollen.

Ja aber nein

Viel zu lange hat man es sich in einer Gesellschaft des Wegsehens und des Aussitzens bequem gemacht. Gegen Dinge ankämpfen oder für etwas einstehen – das ist schon lange aus der Mode. Wie in Trance sagen viel zu viele lieber Ja und Amen. Rechte Kräfte machen sich das perfide zunutze, indem sie behaupten, gewisse Dinge dürften heute nicht mehr bedenklos gesagt werden. Und es stimmt: viele Äußerungen sind mit enormem Widerspruch verbunden. Das wären sie vor zehn oder zwanzig Jahren aber auch schon gewesen, hätte jemand gewagt, sie auszusprechen.

Doch das ist nur die eine Seite der Medaille. Wer alles immer nur abnickt, der hat nicht nur verlernt, abzulehnen, sondern auch Dinge gutzuheißen. Die angebliche Zustimmung verliert an Wert. Und deshalb behaupten so viele, die Maßnahmen gegen Corona wären genau richtig. Sie können ja gar nicht zu hart oder zu lasch sein, sonst müsste man ja Stellung beziehen. Lieber nickt man gehorsam ab…und zieht die Maske runter, sobald der Kontrolleur weiterzieht.


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Lesedauer: 7 Minuten

Hätte mir jemand noch vor wenigen Jahren gesagt, ich würde einmal einen Text schreiben, der sich gegen Demonstrationen richtet, bei denen Menschen für Grundrechte eintreten, ich hätte ihn vermutlich ausgelacht. Doch nun ist der Moment gekommen. Naja, fast zumindest. Denn um die Grundrechte geht es vielen Demonstranten heute in Wahrheit nicht. Es ist ein Trauerspiel, dass man inzwischen jede Demo, bei der es angeblich um die Grundrechte geht, genau hinterfragen muss, um nicht rechten oder linken Extremisten auf den Leim zu gehen. Selbst denken scheint immer mehr ein Tabu zu werden.

Wenn Rechte Rechte verteidigen

Gerade die Schwabenmetropole Stuttgart hat sich rasant zu einem Hotspot der sogenannten „Hygienedemos“ entwickelt. Woche für Woche lockt das Areal, auf welchem sonst eigentlich der Cannstatter Wasen stattfindet, tausende Menschen an. Von echter Hygiene in Zeiten der Pandemie ist bei diesen Aufläufen wenig zu spüren. Abstandsregeln werden missachtet, Reportern und Kamerateams werden die Viren im Nahkampf förmlich in die Fresse gedrückt, es wird gesungen und es wird laut protestiert. Mit großen Schildern machen viele der Demonstranten darauf aufmerksam, dass sie nicht bereit sind, ihre Grundrechte einfach so aufzugeben. Sie sind gekommen, um für ihre Rechte zu kämpfen.

Zumindest glauben sie das. Denn längst hat die extreme Rechte die Oberhand über diese Demos gewonnen. Was zunächst als linksalternativer Protest begann, wurde den roten Rebellen schneller aus der Hand gerissen als sie „Bolschewiki“ sagen konnten. Ein Konglomerat aus Reichsbürgern, AfDlern und anderen nationalistischen Gruppierungen weckt in vielen der Teilnehmern wieder einmal einen uralten Instinkt: das Nichtstun.

Anti-Fortschritt, Anti-Flüchtling, Anti-Pasti

Weil der Mensch aber nicht gerne zugibt, faul und träge zu sein, benutzen die ewig gestrigen die Demonstrationen als Fassade für ihren Putsch gegen die Solidarität in der Krise. Es ist nämlich auffallend, dass sich sämtliche Aktionen sogenannter Wutbürger immer für den Erhalt des Status quo einsetzen. Wer auf Hygienedemos geht, einen Pegida-Aufmarsch bereichert oder peinliche Teil-mich – Bilder in sozialen Medien postet, der nimmt für sich meist in Anspruch ein besonders kritischer Geist zu sein. In Wahrheit sind solche Leute allerdings vor allen Dingen Anti.

Sie sind Anti-Flüchtlinge, weil diese sich angeblich in unser Sozialsystem einschleichen und am Ende schuld daran sind, wenn die Oma keine angemessene Pflege im Heim bekommt. Sie sind Anti-Greta, weil diese die junge Generation manipuliert und uns alle ins Verderben reißen wird. Sie sind Anti – Corona-Maßnahmen, weil die Maßnahmen überhaupt nichts bringen und das Virus gar nicht so gefährlich ist wie die Rautenkanzlerin es immer predigt.

Noch nie hat sich jemand dieser Protestierenden, die sich penibel von den Gutmenschen abgrenzen, offensiv FÜR einen Fortschritt in der Gesellschaft eingesetzt. Diesen Schlechtmenschen reicht es offenbar vollkommen, jedwede Veränderung im Ansatz abzuwehren. Immerhin gab es kritische Widerworte in unserem Land viel zu lange nicht.

Würdevoller Protest?

Gut, die gefühlt ewige GroKo macht eine kontroverse politische Debatte wirklich nicht einfach, aber wird euch dieses Argument nicht langsam langweilig? Die Menschen, die gestern zu Pegida gingen und sich heute Hygienedemonstranten schimpfen, werden nicht müde, die fehlende Debattenkultur in unserem Land zu beklagen. Angeblich hört ihnen seit Jahren keiner mehr zu. Hätten sie allerdings pünktlich ihre GEZ-Gebühren gezahlt, dann wüssten sie, dass AfD, Wutbürger und jüngst auch Hygienedemos die Medien seit geraumer Zeit dominieren.

Wer sich heute auf den Cannstatter Wasen stellt und laut die Rückgabe der Grundrechte einfordert, der vergisst einen wichtigen Aspekt: Die Demo ist genehmigt. Um Versammlungsfreiheit kann es diesen Menschen also nicht gehen, sie dürfen sich schließlich versammeln. Um Meinungs- und Redefreiheit sicherlich auch nicht, schließlich kann man mit deren halbpolitischen Ergüssen inzwischen ganze Bücherregale füllen. Religionsfreiheit fällt auch weg – die Kirchen, Synagogen und Moscheen dürfen inzwischen auch wieder gemeinsam Wenimmer anbeten. Bleibt noch die Würde des Menschen. Würdevoll benehmen sich diese Aufrührer jedenfalls nicht.

Neues gelingt nur mit Mut

Aufzustehen und seine Meinung zu sagen erfordert Mut. Partout gegen alles neue zu sein, tut das allerdings nicht. Wer generell alles neue verteufelt und nicht dazu bereit ist, sich zu bewegen, der ist nicht mutig. Und so jemand ist auch nicht kritisch. Er ist nur eines: bequem. Immer wieder missbraucht dieses Heer an trägen Protestlern den Begriff der Kritik im Namen der Bequemlichkeit.

Es ist verdammt einfach, gegen Neues zu sein. Verantwortung zu übernehmen und für Neues einzustehen, ist meist allerdings schwerer als gedacht. Von dieser Inbrunst, von diesem Mut und von dieser Leidenschaft ist bei den Hygienedemos nur wenig zu spüren. Denn wenn eine Marionette den Kopf schüttelt, dann ist das selten auf ihren Mut zurückzuführen. Konsequent verschließen die Demonstranten die Augen davor, in wessen Interesse sie eigentlich handeln. Sicherlich nicht im Namen der Demokratie, die ihnen so heilig scheint. Und sicher auch nicht im Sinne ihrer Mitmenschen, von denen jeder der Überträger eines überaus aggressiven Virus sein kann.

Demonstrativ verweigern sich die Hygienedemonstranten der Verantwortung, die sie schultern müssten, wenn sie die Augen aufmachen würden. Sie bemerken nicht, dass ihre Verantwortung nicht die über 8.000 Toten in Deutschland sind, die dem Virus bereits zum Opfer gefallen sind. Es sind die zigtausenden Toten mehr, die zur Debatte stünden, würden wir dem kopflosen Getöse der Demonstranten nachgeben. Es wäre unser kollabierendes Gesundheitssystem, das auf das Konto der Aufständischen ginge, würden wir ihrer Vorstellung der Pandemiebekämpfung folgen. Es ist beinahe zynisch, dass die Menschen, die sich angeblich so gut mit den Grundrechten auskennen, im Alltag in großer Zahl trotzdem Maske tragen. Das klitzekleine bisschen Rückgrat, welches sie auf den Demos zu besitzen vorgeben, wird damit sofort wieder vernichtet.

Ein Land voller Wissenschaftler

In dieser notorischen Unfähigkeit, sich der gesellschaftlichen Verantwortung zu stellen, schustern sich viele dieser Menschen ihre eigene Wahrheit zusammen. Diese Wahrheit schließt nicht ein, sich in seiner Position nur ein klein wenig zu bewegen, geschweige denn, anderen Menschen entgegenzukommen. In diesem unendlichen Kosmos aus reinem Egoismus zählt nur der eigene Bestand. Die allgemein geltende Maskenpflicht ist ein gut sichtbares Symbol dieser Krise. Augen und Herzen dieser Menschen waren aber schon während der letzten Krise gut bedeckt.

Blind und taub glaubten sie allen, die sie in ihrer engstirnigen Sichtweise bestärkten. Vieles, was einst als unscheinbare Fake News begonnen hat, ist inzwischen zu einer regelrechten Pseudowissenschaft ausgewachsen. Egal, wen man fragt, unser Land wimmelt plötzlich vor gut informierten Ärzten und Wissenschaftlern. Da könnten wir uns doch eigentlich glücklich schätzen. Doch außer gut gemeinten Ratschlägen und Binsenweisheiten kommt bei den Experten von heute selten was rum. Viel zu emsig sind sie damit beschäftigt, den Begriff „Wissenschaft“ zu vergewaltigen und für ihre kruden Ideen zu missbrauchen. Und das alles nur, weil sie es einfach nicht über sich bringen, von ihrem bequemen Sessel aufzustehen und für echte Veränderung einzustehen. Dabei brauchen wir mutige und starke Menschen heute mehr denn je.


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Regelmäßig protestieren in mehreren Städten Menschen auf sogenannten Hygienedemos gegen die aktuellen Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus. Sie wenden sich vor allem gegen die Beschneidung ihrer Grundrechte, die viele von ihnen mittlerweile als überzogen und unverhältnismäßig empfinden. Doch gerade solche Zusammenkünfte sind ein Hotspot für Menschen, deren Verhalten eine Aufrechterhaltung von strengen Maßnahmen erforderlich machen.

Maskenpflicht ohne Bewährung

Die Reproduktionszahl des Virus stieg jüngst wieder auf über 1. Das ist leider überhaupt kein Wunder, bedenkt man, dass eine Woche lang Läden und Geschäfte ohne Maskenpflicht geöffnet hatten. Doch was hilft es, die Versäumnisse der Vergangenheit immer wieder weinerlich ins Feld zu führen. Viel wichtiger ist es, aktuelle Missstände und Fehlentwicklungen anzugehen und zu beheben. Die Menschen sehen sich nach Freiheit und zu einer Rückkehr zur Normalität. Das ist nur allzu verständlich. Doch leider liegt eine solche Normalität noch in weiter Ferne. Selbst wenn viele Geschäfte wieder geöffnet haben – die Masken werden noch lange die Gesichter schmücken.

Doch bereits jetzt, nach zwei Wochen Maskenpflicht, beschweren sich viele über den fehlenden Tragekomfort der Mund-und-Nase – Bedeckung. Ein Hochgefühl ist das Teil wirklich nicht. Man sollte sich aber auch mal vor Augen führen, wann der hippe Stofffetzen überhaupt zu tragen ist: im öffentlichen Personennahverkehr und in Geschäften. Viel öfter müssen viele die Maske gar nicht aufsetzen. Wenn man nun noch bedenkt, dass viele die Maske gar nicht richtig verwenden, wirken die Wehklagen beinahe lächerlich.

Falschtragen mit Methode

In diesen Tagen will man wahrlich kein Türsteher vor deutschen Supermärkten sein. Unangenehme Diskussionen sind vorprogrammiert. Nicht nur die Einhaltung der zulässigen Kundenzahl müssen die Sicherheitskräfte im Blick behalten, ihren geschulten Augen darf auch kein Verstoß gegen die Maskenpflicht entgehen. Und hier reden wir nicht von den Idioten, die aus Protest keine Maske aufsetzen. Diese Minderheit ist zum Glück so verschwindend gering, dass sich nicht einmal ein Kurzbeitrag zu ihnen lohnt.

Viel problematischer sind solche Menschen, die ihre Masken entweder komplett falsch aufsetzen oder sie zu spät aufsetzen und zu früh wieder abziehen. Jeder, der im Einzelhandel arbeitet, kann ein Lied davon singen: viel zu viele Kunden ziehen ihre Masken erst dann auf, wenn sie den Eingang bereits ein Dutzend Schritte hinter sich gelassen haben. Sie reißen die Bedeckung japsend und lechzend von ihren Gesichtern, kaum klappt der Kassierer die Kasse wieder zu.

Dieses konsequente Falschtragen macht jedoch das Gesamtergebnis der Maßnahme zunichte. Das Virus lauert nicht tief versteckt im Laden hinter den Pfandautomaten. Der Kampf gegen das Virus ist kein Boxkampf, wo der Gegner klar sichtbar in der anderen Ecke steht. Das Virus breitet sich im geschlossenen Raum rasend schnell aus. Wer sich im Kassenbereich nicht an die Maskenpflicht hält, der gefährdet auch die Goldgräber des Pfandguts am anderen Ende des Ladens.

Eine lästige Pflicht

Spricht man solche Menschen auf ihr Fehlverhalten an, so reagieren die meisten von ihnen mit Verharmlosungen oder spielen sich als gut getarnte Experten auf. Sie nehmen die Masken ja nur ganz kurz ab, um wieder richtig Luft zu bekommen. Die Schutzmasken brächten ja rein gar nicht, alles nur Panikmache. Vielleicht makaber, aber: Wenn das Virus dich erwischt, könnten die Atemprobleme bald von Dauer sein.

Ich bin davon überzeugt: Wer seine Maske falsch trägt oder sie zu früh abnimmt, der hat die Tragweite seines Handelns nicht verstanden. Diese Menschen begreifen die sinnvollen Schutzmaßnahmen als eine lästige Pflicht. Sie empfinden sie als eine Repression von Seiten des Staats, welche ihnen das Einkaufserlebnis vermiesen soll. Widerwillig fügen sich die meisten von ihnen den Maßnahmen – aber nur solange man auch wirklich am Einkaufen ist! Sobald der Geldbeutel wieder in der Tasche verstaut ist oder bevor man die erste Avocado bei der Qualitätsprüfung beinahe zerquetscht, ist man nicht einkaufen und muss auch keine Maske tragen. Blind befolgen sie die ungeliebten Regeln, ohne sie jemals hinterfragt zu haben.

Zwischen Empörung und Anpassung

Viele dieser Falschträger nehmen für sich in Anspruch, die Weisheit mit Löffeln gefressen zu haben. Sie zeigen sich einerseits empört über die tiefgreifenden Einschnitte des Staats in ihr alltägliches Leben, andererseits versuchen sie, sich an die Maßnahmen zu halten – soweit ihr viel zu enger Horizont das überhaupt zulässt. Wer nämlich die Schutzmaske abnimmt, bevor die Zugtüren sich öffnen oder bevor der Ausgang des Supermarkts hinter dem Rücken ist, der hat den Sinn der Maßnahme überhaupt nicht verstanden.

Diese Menschen sind jenseits derer, die die Maßnahmen für vollkommenen Quatsch halten und deswegen demonstrativ darauf verzichten. Wer die Maske nämlich hinterfragt und zu dem Schluss kommt, dass sie überhaupt nichts bringt, eventuell sogar kontraproduktiv ist, der zieht sie einfach nicht auf. Wer die Maske hinterfragt, sich mit der Maßnahme auseinandersetzt und zu der Schlussfolgerung kommt, dass sie eine von vielen sinnvollen Maßnahmen ist, der zieht sie korrekt auf. Und zwar immer dann, wenn er oder sie einen nicht-privaten geschlossenen Raum betritt.

Hinterfragen muss kein Kraftakt sein

Die weitreichenden Maßnahmen einfach hinzunehmen, obwohl man der Meinung ist, der Staat diktiert das Tragen der Maske aus reiner Willkür, ist eine zutiefst unaufgeklärte und dumme Haltung. Alle diese Menschen – und sie sind zum Glück noch in der deutlichen Minderheit – glauben, den absoluten Durchblick zu haben. In Wirklichkeit aber raffen sie: nichts.

Sie glauben, dass sie sich unbedingt gegen die Mehrheit stellen müssten, würden sie es wagen, die Schutzmaßnahmen zu hinterfragen. Sie glauben, dass Hinterfragen immer mit einem Auflehnen gegen die Herrschenden verbunden ist. Dass ein kritischer Geist immer zu einer Anti-Haltung führen muss und gleichbedeutend mit einem Verlassen der bequemen Position ist. Doch das ist nicht so.

Überzeugungstäter

Wer für sich in Anspruch nimmt, aufgeklärt zu sein, der muss die Dinge laufend hinterfragen. Und das bedeutet nicht einen notorischen Zwang zur Ablehnung. Ein kritisches Hinterfragen kann auch immer dazu führen, dass man bestimmte Dinge ablehnt, keine Frage. Aber es kann auch dazu führen, dass man Maßnahmen als zielführend anerkennt und sie versteht. Denn Dinge zu hinterfragen ist immer die Vorstufe dazu, von etwas überzeugt zu sein.

Doch solche, die nicht hinterfragen, die sind nicht überzeugt. Und das macht die Sache so gefährlich. Weil sie von den Maßnahmen anscheinend nicht überzeugt sind, sind sie leichte Beute für jene, die mit kruden Verschwörungstheorien Stunk machen. Die ganz wenigen, die schon jetzt mit voller Absicht querschießen können viele von denen, die sich um der Regel willen an die Regeln halten leicht auf ihre Seite ziehen, wenn die Stimmung erst einmal kippt. Und die Stimmung hat sich bereits verändert. Die Bundeskanzlerin bezeichnet die Debatten über Lockerungen genervt als „Orgien“. Vielleicht hat sie mit diesem Begriff doch nicht ganz so unrecht. Denn schaut man inzwischen zu Stoßzeiten wieder in die Geschäfte, so erscheint das Wort Orgie fast angebracht.

In der jetzigen Krise wird einmal mehr deutlich: Gefährliche Dynamiken beginnen im kleinen. Die zum Glück wenigen Negativbeispiele jetzt sind nur die Vorhut. Die Nachhut sind die vielen, die ihre Ignoranz derzeit noch gut verstecken können. Solche, die die Regeln halbherzig befolgen, nur um nicht als Gefährder in der Pandemie verfemt zu sein. Auch sie sind in der deutlichen Minderheit. Doch es sind diese Menschen, die dafür sorgen, dass die Schutzmaßnahmen erhalten bleiben und sich dann wundern, warum es keine Lockerungen gibt. Denn selbst ein einziger Regelbrecher im Supermarkt oder im Zug reicht aus, um hunderte in Gefahr zu bringen.


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