Vertane Chancen

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Die Bundestagswahl steht an, dabei sind die Ergebnisse der drei Landtagswahlen im Osten nur halb verdaut. In allen drei Bundesländern sind die Regierungen zwar vereidigt, trotzdem sehen sich die Parlamente dort mit einer beängstigend starken AfD konfrontiert. Einmal mehr heißt es: Der Osten ist extrem. Diese Extremismuserzählung greift aber zu kurz. Sie verschleiert, welchen enormen Umbrüchen die östlichen deutschen Bundesländer ausgesetzt waren und wie viel demokratisches Potenzial auf dem Weg verlorenging.

2013 war alles besser?

Die AfD ist Volkspartei im Osten. Die jüngsten Wahlergebnisse lassen gar keinen anderen Schluss zu. In Thüringen liegt die Höcke-Partei sogar gut 10 Prozent vor der zweitplatzierten CDU. In mehreren ostdeutschen Bundesländern verfügt die AfD mittlerweile über eine Sperrminorität, mit der sie wichtige Entscheidungen empfindlich mitbeeinflussen kann.

Vor knapp zwölf Jahren hätte das niemand für möglich gehalten. Der damals neuen Alternative für Deutschland mit ihren wenig opportunen Ideen und Konzepten sagte man ein Schicksal voraus wie vielen neuen Parteien. Sie würde sich innerhalb kurzer Zeit selbst zerlegen und nach ein paar wenigen aufsehenerregenden Wahlerfolgen wieder in der Versenkung verschwinden. Irgendwie hatte man damit auch recht: Die AfD von 2013 hat sich zerlegt und ist in der Versenkung verschwunden. Zurückgeblieben ist eine schwer kontrollierbare rechte Bestie, die unsere Demokratie bei jeder Gelegenheit zu destabilisieren versucht.

Gar nicht so demokratisch

Schnell zeichnete sich der Trend ab, dass die AfD besonders im Osten punkten konnte. Immerhin zog sie dort in die ersten Parlamente ein. Das lag sicher nicht nur an günstig gelegten Wahlterminen, sondern auch an dem demokratischen Aufbruch, den die noch junge Partei simulierte.

Von Anfang an setzte sie auf eine äußerst zugespitzte Rhetorik, die anscheinend in manchen Bundesländern besser ankommt als in anderen. Die Ansprache allein macht’s aber nicht, andere Faktoren spielen ebenso eine Rolle. Politische Ränder hatten in den neuen Bundesländern aber erwiesenermaßen leichteres Spiel: Die Zustimmung zu Parteien wie der DVU, der NPD, aber auch zur PDS sind mehr als nur ein Trend.

Und bevor das ganze in einen weiteren Text ausufert à la „Ich erkläre euch, warum der Osten so extrem ist“, haben reale Wahlergebnisse längst bewiesen, dass die AfD ein gesamtdeutsches Problem ist. Trotzdem trägt sie ihr extremistisches Potenzial im Osten besonders ungeniert zur Schau. Als der CDU-Abgeordnete Andreas Bühl die Vorgänge bei der Konstituierung des Thüringer Landtags als versuchte Machtergreifung einordnete, mag das polemisch gewesen sein, im Wesentlichen aber zutreffend.

Kapitalismus zum Anfassen

Noch heute gilt es als chic, das starke Abschneiden extremer Parteien und die immanente Unzufriedenheit im Osten mit dem Strukturwandel zu erklären. Und es stimmt: Die Abwicklung eines wesentlichen Teils existenzsichernder Wirtschaftszweige in der ehemaligen DDR hat die Menschen dort nachhaltig verunsichert. Die Heilsversprechen aus dem Westen waren kaum ausgesprochen, schon lagen die Träume in Trümmern.

Es greift aber zu kurz, ein paar Werkschließungen zur Mutter aller Probleme zu erklären. Mindestens genau so ernüchternd wird gewesen sein, dass auf diesen harten Schnitt zu Beginn der 1990er Jahre nie eine echte Erholung folgte. Im Gegenteil: Trotz eines nicht gekannten Ausmaßes an politischer Partizipation fielen viele Selbstverständlichkeiten weg. Arbeitsplätze waren plötzlich nicht mehr sicher, die Suche nach einem geeigneten Kita-Platz für den Nachwuchs gestaltete sich auf einmal nervenaufreibend und zäh und echte Obdachlose kannte man sonst bestenfalls aus dem Westfernsehen.

Zu verlockend war der Ruf des Kapitalismus, der über die Mauer schallte. Mit Chiffren wie Fernsehern, Autos und Reisefreiheit versprach er allgemeinen Wohlstand, ein Versprechen, das selbst im Westen dieser Zeit nicht mehr haltbar war. Als sich angesichts dieser Zustände allmählich Widerstand formierte, folgte die westdeutsche Antwort prompt: Ihr wolltet die D-Mark, jetzt lebt auch mit den Nachteilen. In bemerkenswert überheblicher Manier verdrehte man die Tatsachen und unterstellte den ostdeutschen Mitbürgern, sie würden sich über ihr selbstgewähltes Schicksal erheben. So kann Integration und Wiedervereinigung nicht funktionieren. Weder gesellschaftlich noch politisch.

Wege zur Demokratie

Der ehemalige Ostbeauftragte der Bundesregierung Marco Wanderwitz (CDU) ließ sich einmal zu der Bemerkung hinreißen, der Osten des Lands sei nicht demokratiesozialisiert. Das ist nicht nur ein heftiger Punsh ins Gesicht jedes Ostdeutschen, diese bodenlose Frechheit verkennt auch die Realität. Denn die Wege zur Demokratie verliefen für Ost und West völlig unterschiedlich.

Dem Westen der Republik wurde die Demokratie von den Siegermächten nach dem Zweiten Weltkrieg quasi übergestülpt. Was beim ersten Mal nicht funktioniert hat, sollte nun beim zweiten Anlauf erfolgreicher sein. Und tatsächlich stieß die Idee einer neuen deutschen Demokratie auf fruchtbaren Boden. Das blanke Entsetzen über die Gräueltaten in der NS-Zeit und das Wirtschaftswunder in den 1950er und 1960er Jahren taten dann ihr Übriges, um die Demokratie in der Gesellschaft zu verankern. Mit den Jahren wurde sie aber immer mehr zum Selbstläufer. Die Menschen richteten sich in ihr ein und hörten auf, sie zu hinterfragen.

Der Preis für demokratische Verhältnisse war im Osten deutlich höher. Nach vierzig Jahren Fremdbestimmung setzten die Menschen dort der Diktatur ein Ende. Sie wollten einen Staat, der demokratisch verfasst war und der dieses Wort nicht nur zum Schein im Namen trug. Als die Mauer gefallen war, endete die Aufbruchstimmung abrupt. Die westdeutsche Politik verstand es meisterlich, sich wie eine Löschdecke über den Ruf nach Mitbestimmung zu werfen und damit ihre liebgewonnene Wohlfühl-Demokratie zu verteidigen.

Geplantes Problemkind

Dabei wäre von der ostdeutschen Erhebung so viel zu lernen gewesen. Die bewährte westdeutsche Demokratie hätte wieder an Fahrt aufnehmen und sich durch die Übernahme bestimmter Strukturen aus dem Osten sogar fortentwickeln können. Wie wäre die weitere deutsche Geschichte wohl verlaufen, wäre es nicht beim Beitritt des Ostens zur Bundesrepublik geblieben, sondern hätte sich stattdessen ein neuer deutscher Staat mit einer eigenen Verfassung gebildet? Stattdessen bremste man eine echte Wiedervereinigung vorschnell aus. Dass ostdeutsche Parteien bei der Bundestagswahl 1990 besonders berücksichtigt wurden, tröstet über diesen Zustand kaum hinweg.

Man war nicht ernsthaft bereit dazu, sich aufeinander zuzubewegen und voneinander zu lernen. Dabei hätte es so viel zu entdecken gegeben. Eine gemeinsame Verfassung hätte der Demokratie einen neuen Push geben können. Der Dornröschenschlaf der Kontroverse ab den 00er-Jahren wäre höchstwahrscheinlich ausgeblieben. Stattdessen hätte man weiter leidenschaftlich miteinander gerungen. Und auch wenn im Meinungsstreit hin und wieder die Fetzen fliegen: Extremistische Kräfte hätten es schwerer gehabt fußzufassen.

Doch man ging einen anderen Weg. Mit dem Beitritt zur Bundesrepublik wurde die nachrangige Stellung der ostdeutschen Bundesländer manifestiert. Formal gab es sie nie, aber schon in den nächsten Jahren zeigte sich immer deutlicher, wer Gewinner und wer Verlierer des wiedervereinigten Deutschlands war. Der Osten wurde perfekt auf seine Rolle als Problemkind vorbereitet, dabei ist völlig klar: Dem Osten musste Demokratie nie beigebracht werden.


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Eindeutig uneindeutig

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Niemand hat sich Illusionen gemacht, dass mit dem Wahlergebnis aus Sachsen-Anhalt leicht Politik zu machen ist. Umso erstaunter waren sicher viele, wie weit die Ergebnisse von CDU und AfD nun doch auseinanderliegen. Doch die Lage bleibt verzwickt: Eine rasche Regierungsbildung ist nicht zu erwarten. Grund dafür ist ein immer diverseres Parteienspektrum, das eine Bündelung schwerer macht. Diese Splitterung der Parteienlandschaft betrifft die linke Seite des Spektrums deutlich stärker als die rechte. Der Anteil an Nichtwählern wächst indessen weiter.

Glasklarer Sieger?

Die Würfel in Sachsen-Anhalt sind gefallen. Die CDU feiert sich als eindeutigen Wahlsieger. Die AfD ist am Heulen. Die Parteien des linken Spektrums lecken sich die Wunden. Bundesweit zeigen sich viele Menschen erleichtert über den klaren Vorsprung, den die CDU gegenüber der rechten Herausforderung aufbauen konnte. Mit einer leicht schwächelnden AfD und einem bestätigten Ministerpräsidenten scheint für viele in Sachsen-Anhalt die Welt in Ordnung zu sein. Dabei wird der eigentliche Sieger der Wahl völlig außer Acht gelassen: die Nichtwähler.

Denn erneut liegt die Wahlbeteiligung in Sachsen-Anhalt nicht bedeutend über 60 Prozent. Für eine Demokratie ist das eine glasklare Niederlage. Mit um die 40 Prozent überholen die Nichtwähler sogar den angeblichen Wahlsieger CDU.

Zweitstärkste Kraft

In Sachsen-Anhalt kam vergangenen Sonntag erneut ein Trend besonders krass zum Ausdruck. Die Wahlbeteiligung bei Landtagswahlen liegt traditionell unter dem Bundestrend. Geht man noch weiter ins Eingemachte, sinkt die Wahlbeteiligung weiter. Bei manchen OB-Wahlen ist man froh, wenn man 40 Prozent der Stimmberechtigten an die Urnen bekommt.

Aber auch auf Bundesebene ist die Beteiligung an Wahlen seit den 1980er-Jahren fast ungebrochen rückläufig. Immer weniger Menschen entscheiden sich dazu, ihre demokratischen Rechte wahrzunehmen. Seit etwa fünfzehn Jahren ist ein Sieg der Nichtwähler eher die Regel als die Ausnahme. Hätten die Nichtwähler nach der Bundestagswahl 2017 eine Fraktion gebildet, wären sie heute die zweitstärkste Kraft im Parlament.

Angebliche Wahlsiege der Parteien verkommen damit letztendlich immer mehr zur Farce. Wenn nicht einmal mehr zwei Drittel der Wahlberechtigten ihre Stimme abgeben, mutet es umso lächerlicher an, wenn die stärkste gewählte Kraft nicht einmal mehr auf 40 Prozent kommt.

Keine Volkspartei

Besonders erschreckend an der Wahl in Sachsen-Anhalt ist aber, dass in dem Flächenland inzwischen mehr als die Hälfte der Menschen der Demokratie eine Absage erteilt haben. Bei der mickrigen Wahlbeteiligung kam die AfD trotz allem auf mehr als 20 Prozent der Stimmen. Im Zusammenspiel mit den Menschen, die bewusst nicht an der Wahl teilgenommen haben, entsteht ein Bild, bei dem es jedem echten Demokraten nur Angst und Bange werden kann.

Tino Chrupalla beharrte erst kürzlich bei Anne Will darauf, dass die AfD eine Volkspartei in Sachsen-Anhalt sei. Dabei wird es mit dem Anspruch einer Volkspartei selbst bei der CDU eng, setzt man das Wahlergebnis in Relation zu den Nichtwählern. Deutlich früher als im Bund setzte in den ostdeutschen Bundesländern der Trend einer zersplitterten Parteienlandschaft ein. Die Wahlergebnisse im Osten waren bis auf wenige Ausnahmen in den 1990ern selten so eindeutig wie im Westen. Die SPD konnte in den neuen Bundesländern nur schwer fußfassen, die PDS war deutlich stärker als in den alten Bundesländern. Parlamente mit weniger als vier Fraktionen waren von Anfang an seltener als in Westdeutschland.

Die Ära der Notbündnisse

Trotzdem gibt es in den ostdeutschen Bundesländern besonders seit der Jahrtausendwende keine zwei eindeutig dominierenden Kräfte mehr. Die kleineren Parteien schrammen nicht automatisch an der 5-Prozent – Hürde entlang, während zwei Volksparteien an die 40 Prozent oder mehr holen. Viel eher haben sich die Wahlsieger bei um die 30 Prozent eingependelt, während die schwächere Konkurrenz trotzdem zweistellige Ergebnisse holt.

Dreierkoalitionen sind besonders in den neuen Ländern schon lange nichts neues mehr. Streckenweise diskutierte man sogar über eine sogenannte Simbabwe-Koalition mit vier beteiligten Parteien, um das zersplitterte Parteienspektrum zu überwinden. Währenddessen verzwergen sich die Sieger von vorgestern immer weiter. Die SPD ist in Sachsen-Anhalt inzwischen schwächer als die Parteien, die in den Hochrechnungen und Prognosen als „sonstige“ ausgewiesen werden.

Existenzprobleme

Der Wahlausgang in Sachsen-Anhalt bestätigt außerdem einen Trend, der zwar im Osten des Landes früher einsetzte, aber inzwischen auch im Westen angekommen ist. Viel häufiger als früher geht es den Wählerinnen und Wählern um eine Profilierung ihrer gewählten Parteien als um mögliche Zusammenarbeiten oder eine gemeinsame Stoßrichtung. Entlarvend ist dabei eine Umfrage zu möglichen Koalitionen in Sachsen-Anhalt: Die Jamaika-Koalition aus CDU, FDP und Grünen erfährt unter den Befragten die geringste Zustimmung, obwohl es sich dabei um eine Zusammenarbeit der Wahlsieger handeln würde. Immerhin konnten alle diese Parteien bei der Wahl in unterschiedlichem Maße dazugewinnen.

Bei der Wahl in Sachsen-Anhalt erreichte nur noch die CDU das Niveau einer Volkspartei. Sie ist der relative Wahlsieger. Auf dem zweiten Platz rangiert eine erschreckend starke AfD. Eine ähnliche Entwicklung ist auch in den anderen ostdeutschen Bundesländern zu beobachten. Bis auf wenige Ausnahmen fällt dabei auf, dass vor allem die Parteien schrumpfen, die sich traditionell dem linken Spektrum zuordnen. Die SPD ist dermaßen geschrumpft, dass sie kaum wiederzuerkennen ist. Die Linken kommen nur noch in Thüringen auf Traumergebnisse – und auch hier wahrscheinlich nur wegen des sympathischen Ministerpräsidenten.

Erstarken können hingegen die Parteien des rechten Spektrums, auch solche des demokratisch rechten Spektrums. Sie haben weitaus weniger mit Existenzproblem zu kämpfen als Linke, Grüne und SPD. Einstige Wählerinnen und Wähler dieser Parteien wanderten entweder zur AfD ab oder blieben der Wahl ganz fern. Der Grund dafür ist so simpel wie traurig: Würden die Grünen weniger auf nachrangingen Themen wie einer gendergerechten Sprache oder vorgeschriebenen Quoten in der Arbeitswelt herumreiten, dann würden sie auch im Osten deutlich bessere Ergebnisse einfahren. Von ihrem angeblichen Hoch war vergangenen Sonntag zumindest wenig zu spüren.

Keine Lust auf Belehrungen

Man löst das Problem von Diskriminierung nicht dadurch, dass man ein künstliches Sprachkonstrukt aufbaut. Viele Menschen wissen nichts von einem dritten Geschlecht und sie wollen es vielleicht auch gar nicht wissen. Sie begreifen den Sinn hinter gendergerechten Endungen nicht, weil diese Sprache ihre Lebensrealität nicht widerspiegelt. So entsteht eine Atmosphäre der Bevormundung, die eher spaltet als zusammenführt.

In der Konsequenz fühlen sich die Menschen von Parteien verprellt, die diesem Trend folgen. Die Art und Weise, wie Leute sprechen, wird immer mehr zum Statement erhoben. Wer gendert, muss ein neuer Linker sein, der mich belehren will. Wer es nicht tut, ist entweder zu dumm, das hohe Ziel der Antidiskriminierung zu verstehen oder er ist selbst einer dieser diskriminierenden Aggressoren. Viele Wählerinnen und Wähler möchten damit nichts zu tun haben. Sie scheiden aus dem demokratischen Geschäft aus oder wenden sich solchen Parteien zu, die viel mehr ihre bequemen Bedürfnisse ansprechen. Denn immerhin schreiben diese Parteien ihnen nicht vor, wie sie zu leben haben.

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Im Osten nichts Neues

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Deutschland ist seit 30 Jahren ein geeintes Land – zumindest auf der Landkarte. Politisch und ökonomisch klaffen noch immer oder wieder tiefe Gräben zwischen Ost und West. Die Gründe dafür sind vielfältig. Trotzdem versuchen viele, die schwierigen Verhältnisse im Osten mit eindimensionalen Erklärungsmustern zu vermitteln. Die Planwirtschaft mag der Grund für eine komplizierte Ausgangslage sein. Sie ist aber immer weniger für deren Fortbestehen verantwortlich.

Ein Leben mit dem System

Am 2. Oktober debattierte der Bundestag bereits zum 30. mal über die deutsche Einheit. Die Politikerinnen und Politiker sprachen von den Erfolgen und den Errungenschaften, die gerade im Osten erzielt worden waren. Sie redeten aber auch über Probleme beim Einheitsprozess und über Herausforderungen, die es nach wie vor zu meistern gilt. So beklagten viele Rednerinnen und Redner das Lohngefälle zwischen Ost und West, das zwar näher zusammengerückt ist, aber immer noch zu wünschen übriglässt. Diese Differenz zwischen den Reallöhnen sorgt letztendlich für deutliche Unterschiede bei der Altersrente.

Für diese Schwierigkeiten haben die verschiedenen Parteien ihre eigenen Erklärungen parat. Die Union moniert beispielsweise, dass die geringere Wirtschaftskraft der ostdeutschen Bundesländer vom Versagen des Sozialismus und seiner Planwirtschaft herrührt. Die Führung der DDR hat es meisterlich verstanden, eine Volkswirtschaft im Laufe der Jahre zu Grunde zu richten. Als die Bürgerinnen und Bürger der DDR die Mauer überwanden, hinterließ die Staatsführung einen ökonomischen Scherbenhaufen.

Laut Union ist es überhaupt kein Wunder, dass dieses wirtschaftliche Schlachtfeld nicht innerhalb weniger Jahre zusammengekehrt werden konnte. In den Augen der Regierungspartei sind die Menschen aus der DDR die Opfer falscher politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen. Dem ist nichts entgegenzusetzen. Die DDR war eine Diktatur und die allermeisten Menschen dort hatten keine andere Wahl, als sich den Verhältnissen um sie herum zu fügen. In 40 Jahren DDR arrangierten sich die meisten mit dem System. Anders als in den zwölf Jahren Nazi-Diktatur brachte der ostdeutsche Staat mehr als eine Generation hervor.

Freispruch in allen Punkten?

Die sozialistische Planwirtschaft war der sozialen Marktwirtschaft schon immer unterlegen. Unverschuldet bekamen das Millionen Menschen in der DDR viele Jahre lang zu spüren. An den Verfehlungen und Missständen der Planwirtschaft haben viele bis heute zu knabbern. Die Lebensumstände in den neuen Bundesländern auf rein wirtschaftliche Gegebenheiten zu reduzieren, greift allerdings zu kurz. Die DDR war mehr als wirtschaftliches Versagen auf ganzer Linie. In vier Jahrzehnten haben sich die Menschen Existenzen aufgebaut, die weit über das ökonomische Bestehen hinausgingen. Viele Existenzen wurden durch einen harten Bruch zur Wendezeit zerstört. Das mit ausschließlich wirtschaftlichen Faktoren zu begründen, überzeugt die Menschen nicht.

Es überzeugt die Menschen vor allem deshalb nicht, weil Reden und Handeln der Regierung in krassem Gegensatz zueinander stehen. Der Lohnunterschied zwischen West und Ost ist weiterhin immens und auch zwischen den Renten klafft eine Lücke, die da nicht sein müsste. Man billigt den Menschen zu, für die schwierige wirtschaftliche Ausgangslage in den neuen Bundesländern nichts zu können. Gleichzeitig verweigert man ihnen aber nach 30 Jahren im goldenen Westen weiterhin eine vergleichbare Vergütung für die gleiche Arbeit wie in westdeutschen Bundesländern. Natürlich hinterlässt man bei diesen Erwerbstätigen das Gefühl, dass sie an der prekären Wirtschaftslage doch mitschuld sind. Wäre es nicht so, dann spräche nichts dagegen, dass sie im geeinten Deutschland in der gleichen Arbeitszeit für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhielten.

Stattdessen speist man sie mit Löhnen und Gehältern ab, die hinter dem westdeutschen Durchschnitt zurückbleiben. Zwar hat sich die durchschnittliche Arbeitsvergütung in den letzten Jahren angehnähert, ein Unterschied ist aber nach wie vor nicht von der Hand zu weisen. Das begünstigt ein Unterlegenheitsgefühl des Ostens gegenüber dem Westen, welches viele sicher an die wirtschaftlich prekäre Lage im Sozialismus erinnert. Der Vergleich mag zwar an der ein oder anderen Stelle hinken, aber der viel zu langsame Abbau des Lohngefälles erschüttert das Vertrauen in den Staat und letztendlich in die Demokratie. Es kann kein Zufall sein, dass die AfD gerade in den ostdeutschen Bundesländern großen Zulauf erfährt, wenn sie von einer Rückkehr zur DDR und einer Wiedereinführung des Sozialismus spricht.

(K)eine Leistungsgesellschaft

Das ist natürlich Quatsch. Wir befinden uns in keiner Diktatur und sind auch nicht auf dem Weg dorthin. Die versprochenen blühenden Landschaften waren aber trotzdem von Anfang an eine Lüge. Es war eine Illusion anzunehmen, dass die wirtschaftspolitische Erfolgsgeschichte des Westens 1:1 auf den Osten anwendbar ist. Die Voraussetzungen waren nämlich grundsätzlich anders. Die Wirtschaftspolitik der alten Bundesländer war außerdem auf ein Szenario ausgerichtet, in dem wirtschaftliche Not kein großes Thema war. Nach den zahlreichen Fabrikschließungen und dem Treuhandskandal in den ostdeutschen Bundesländern war die wirtschaftliche Lage dort aber äußerst prekär.

Die getroffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen waren schlicht und ergreifend nicht passgenau und konnten ihre volle Wirkung nie entfalten. Diese Politik geht nämlich davon aus, dass Leistung stets belohnt wird. Wer sich genug anstrengt, der wird aufsteigen und ein schönes Leben führen. So zumindest das Versprechen. In der Realität ist es aber mehrheitlich anders. Viele können sich noch so abrackern und bleiben trotzdem unten. Die zahlreichen Betriebsschließungen und der erschwerte Zugang zu Kultur und Kunst taten ihr übriges. Obwohl politisch vieles besser wurde, die Menschen konnten offen ihre Meinung sagen und sich parteilich und gewerkschaftlich organisieren, hatten viele eher das Gefühl, ihr Leben war nicht besser, sondern viel mehr schwerer geworden.

Der Westen ist spät dran

Lange Jahre blieben diese Menschen unerhört. Nach Jahren der politischen Isolation gab ihnen die AfD erstmals wieder das Gefühl, ernstgenommen zu werden. Zum ersten Mal nach langer Zeit konnten sie sich politisch wieder Gehör verschaffen. Doch die AfD ist kein ostdeutsches Phänomen geblieben. Auch in den alten Bundesländern erfreut sie sich weiterhin hoher Beliebtheit. Und das ganz ohne Stasi-Vergangenheit.

Immer offener tritt zutage: Der Weg, den die Politik im Bereich Wirtschaft eingeschlagen ist, ist ein falscher. Im Osten der Republik wurde das nur deshalb schneller und dramatischer sichtbar, weil die Ausgangslage viel ungünstiger war. Dort zumindest hatte die Politik immer die Möglichkeit, auf das wirtschaftliche Fiasko der Planwirtschaft zu verweisen. Im Westen hat sie das nicht.  Und trotzdem bekommen auch im vielgepriesenen goldenen Westen immer mehr Menschen zu spüren, was es heißt, auf der Seite der Verlierer zu stehen. Denn auch Pfandflaschensammler sind kein ostdeutsches Phänomen. Die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik ist sicher nicht schuld am ökonomischen Hirntod der DDR. Sie kann aber auch nur wenig hilfreiche Konzepte anbieten, dieses Trauma zu bewältigen.


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