Im Osten nichts Neues

Lesedauer: 7 Minuten

Deutschland ist seit 30 Jahren ein geeintes Land – zumindest auf der Landkarte. Politisch und ökonomisch klaffen noch immer oder wieder tiefe Gräben zwischen Ost und West. Die Gründe dafür sind vielfältig. Trotzdem versuchen viele, die schwierigen Verhältnisse im Osten mit eindimensionalen Erklärungsmustern zu vermitteln. Die Planwirtschaft mag der Grund für eine komplizierte Ausgangslage sein. Sie ist aber immer weniger für deren Fortbestehen verantwortlich.

Ein Leben mit dem System

Am 2. Oktober debattierte der Bundestag bereits zum 30. mal über die deutsche Einheit. Die Politikerinnen und Politiker sprachen von den Erfolgen und den Errungenschaften, die gerade im Osten erzielt worden waren. Sie redeten aber auch über Probleme beim Einheitsprozess und über Herausforderungen, die es nach wie vor zu meistern gilt. So beklagten viele Rednerinnen und Redner das Lohngefälle zwischen Ost und West, das zwar näher zusammengerückt ist, aber immer noch zu wünschen übriglässt. Diese Differenz zwischen den Reallöhnen sorgt letztendlich für deutliche Unterschiede bei der Altersrente.

Für diese Schwierigkeiten haben die verschiedenen Parteien ihre eigenen Erklärungen parat. Die Union moniert beispielsweise, dass die geringere Wirtschaftskraft der ostdeutschen Bundesländer vom Versagen des Sozialismus und seiner Planwirtschaft herrührt. Die Führung der DDR hat es meisterlich verstanden, eine Volkswirtschaft im Laufe der Jahre zu Grunde zu richten. Als die Bürgerinnen und Bürger der DDR die Mauer überwanden, hinterließ die Staatsführung einen ökonomischen Scherbenhaufen.

Laut Union ist es überhaupt kein Wunder, dass dieses wirtschaftliche Schlachtfeld nicht innerhalb weniger Jahre zusammengekehrt werden konnte. In den Augen der Regierungspartei sind die Menschen aus der DDR die Opfer falscher politischer und wirtschaftlicher Entscheidungen. Dem ist nichts entgegenzusetzen. Die DDR war eine Diktatur und die allermeisten Menschen dort hatten keine andere Wahl, als sich den Verhältnissen um sie herum zu fügen. In 40 Jahren DDR arrangierten sich die meisten mit dem System. Anders als in den zwölf Jahren Nazi-Diktatur brachte der ostdeutsche Staat mehr als eine Generation hervor.

Freispruch in allen Punkten?

Die sozialistische Planwirtschaft war der sozialen Marktwirtschaft schon immer unterlegen. Unverschuldet bekamen das Millionen Menschen in der DDR viele Jahre lang zu spüren. An den Verfehlungen und Missständen der Planwirtschaft haben viele bis heute zu knabbern. Die Lebensumstände in den neuen Bundesländern auf rein wirtschaftliche Gegebenheiten zu reduzieren, greift allerdings zu kurz. Die DDR war mehr als wirtschaftliches Versagen auf ganzer Linie. In vier Jahrzehnten haben sich die Menschen Existenzen aufgebaut, die weit über das ökonomische Bestehen hinausgingen. Viele Existenzen wurden durch einen harten Bruch zur Wendezeit zerstört. Das mit ausschließlich wirtschaftlichen Faktoren zu begründen, überzeugt die Menschen nicht.

Es überzeugt die Menschen vor allem deshalb nicht, weil Reden und Handeln der Regierung in krassem Gegensatz zueinander stehen. Der Lohnunterschied zwischen West und Ost ist weiterhin immens und auch zwischen den Renten klafft eine Lücke, die da nicht sein müsste. Man billigt den Menschen zu, für die schwierige wirtschaftliche Ausgangslage in den neuen Bundesländern nichts zu können. Gleichzeitig verweigert man ihnen aber nach 30 Jahren im goldenen Westen weiterhin eine vergleichbare Vergütung für die gleiche Arbeit wie in westdeutschen Bundesländern. Natürlich hinterlässt man bei diesen Erwerbstätigen das Gefühl, dass sie an der prekären Wirtschaftslage doch mitschuld sind. Wäre es nicht so, dann spräche nichts dagegen, dass sie im geeinten Deutschland in der gleichen Arbeitszeit für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn erhielten.

Stattdessen speist man sie mit Löhnen und Gehältern ab, die hinter dem westdeutschen Durchschnitt zurückbleiben. Zwar hat sich die durchschnittliche Arbeitsvergütung in den letzten Jahren angehnähert, ein Unterschied ist aber nach wie vor nicht von der Hand zu weisen. Das begünstigt ein Unterlegenheitsgefühl des Ostens gegenüber dem Westen, welches viele sicher an die wirtschaftlich prekäre Lage im Sozialismus erinnert. Der Vergleich mag zwar an der ein oder anderen Stelle hinken, aber der viel zu langsame Abbau des Lohngefälles erschüttert das Vertrauen in den Staat und letztendlich in die Demokratie. Es kann kein Zufall sein, dass die AfD gerade in den ostdeutschen Bundesländern großen Zulauf erfährt, wenn sie von einer Rückkehr zur DDR und einer Wiedereinführung des Sozialismus spricht.

(K)eine Leistungsgesellschaft

Das ist natürlich Quatsch. Wir befinden uns in keiner Diktatur und sind auch nicht auf dem Weg dorthin. Die versprochenen blühenden Landschaften waren aber trotzdem von Anfang an eine Lüge. Es war eine Illusion anzunehmen, dass die wirtschaftspolitische Erfolgsgeschichte des Westens 1:1 auf den Osten anwendbar ist. Die Voraussetzungen waren nämlich grundsätzlich anders. Die Wirtschaftspolitik der alten Bundesländer war außerdem auf ein Szenario ausgerichtet, in dem wirtschaftliche Not kein großes Thema war. Nach den zahlreichen Fabrikschließungen und dem Treuhandskandal in den ostdeutschen Bundesländern war die wirtschaftliche Lage dort aber äußerst prekär.

Die getroffenen wirtschaftspolitischen Maßnahmen waren schlicht und ergreifend nicht passgenau und konnten ihre volle Wirkung nie entfalten. Diese Politik geht nämlich davon aus, dass Leistung stets belohnt wird. Wer sich genug anstrengt, der wird aufsteigen und ein schönes Leben führen. So zumindest das Versprechen. In der Realität ist es aber mehrheitlich anders. Viele können sich noch so abrackern und bleiben trotzdem unten. Die zahlreichen Betriebsschließungen und der erschwerte Zugang zu Kultur und Kunst taten ihr übriges. Obwohl politisch vieles besser wurde, die Menschen konnten offen ihre Meinung sagen und sich parteilich und gewerkschaftlich organisieren, hatten viele eher das Gefühl, ihr Leben war nicht besser, sondern viel mehr schwerer geworden.

Der Westen ist spät dran

Lange Jahre blieben diese Menschen unerhört. Nach Jahren der politischen Isolation gab ihnen die AfD erstmals wieder das Gefühl, ernstgenommen zu werden. Zum ersten Mal nach langer Zeit konnten sie sich politisch wieder Gehör verschaffen. Doch die AfD ist kein ostdeutsches Phänomen geblieben. Auch in den alten Bundesländern erfreut sie sich weiterhin hoher Beliebtheit. Und das ganz ohne Stasi-Vergangenheit.

Immer offener tritt zutage: Der Weg, den die Politik im Bereich Wirtschaft eingeschlagen ist, ist ein falscher. Im Osten der Republik wurde das nur deshalb schneller und dramatischer sichtbar, weil die Ausgangslage viel ungünstiger war. Dort zumindest hatte die Politik immer die Möglichkeit, auf das wirtschaftliche Fiasko der Planwirtschaft zu verweisen. Im Westen hat sie das nicht.  Und trotzdem bekommen auch im vielgepriesenen goldenen Westen immer mehr Menschen zu spüren, was es heißt, auf der Seite der Verlierer zu stehen. Denn auch Pfandflaschensammler sind kein ostdeutsches Phänomen. Die Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik ist sicher nicht schuld am ökonomischen Hirntod der DDR. Sie kann aber auch nur wenig hilfreiche Konzepte anbieten, dieses Trauma zu bewältigen.


Mehr zum Thema:

Einigkeit und Recht und Freiheit

Gut genug?
[Gesamt:0    Durchschnitt: 0/5]

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert