Zu kurz gedacht

Lesedauer: 7 Minuten

Die Impfkampagne nimmt auch in Deutschland immer kräftiger an Fahrt auf. Die Behörden können mehr und mehr Menschen ein Impfangebot machen. Dass es durchaus Menschen gibt, die sich aus verschiedenen Gründen gegen eine Impfung entscheiden, blendet der öffentliche Diskurs fast vollständig aus. Die Devise ist und bleibt: Deutschland lässt sich impfen. Diese verkürzte Debatte nimmt vielen Menschen allerdings die Möglichkeit, eine gut überlegte Impfentscheidung zu treffen. Sie trägt eher dazu bei, die Gesellschaft weiter in Gut und Böse zu spalten. Und natürlich will jeder auf der Seite der Guten stehen…

Hoffnungsträger der ersten Stunde

Die Weltgesundheitsorganisation hatte die Verbreitung von SARS-Cov-2 noch nicht richtig zur Pandemie erklärt, da war für viele bereits klar: Die durch das Virus ausgelöste Erkrankung lässt sich nur durch einen Impfstoff bändigen. Es ist völlig unstrittig, dass ein wirksames Vakzin bei der Bekämpfung einer gefährlichen Krankheit durchaus den Durchbruch bringen kann. Ein zuverlässiger und wirksamer Impfstoff setzt aber voraus, dass ausreichend lange an ihm geforscht wurde. Die Impfforscher müssen das neuartige Präparat auf alle möglichen Risiken und seine Verträglichkeit bei unterschiedlichen Zielgruppen abklopfen. Sie müssen klären, welche Dosis notwendig ist, damit der Impfstoff seine volle Wirkung entfalten kann. In erster Linie müssen sie sich dafür Zeit nehmen, um alle diese kritischen Fragen fundiert beantworten zu können.

Zeit spielte bei der Erforschung der Impfstoffe gegen Covid-19 scheinbar selten eine Rolle. Kaum jemanden verwunderte es ernsthaft, dass manche Hersteller bereits einige Monate nach Ausbruch der Pandemie mit einer baldigen Zulassung ihrer Präparate warben. Nur wenige wunderte es, dass die Forscherinnen und Forscher so schnell einen Impfstoff entwickeln konnten, obwohl zuvor kaum Ressourcen in die Bekämpfung der seit langem bekannten Coronaviren gesteckt wurden. Noch weniger Menschen stellten laut die Frage, weswegen so fieberhaft an einem Impfstoff geforscht wurde, während man die Entwicklung eines Medikaments so sträflich vernachlässigte.

Doppelt hält besser

Fast niemanden schien es zu stören, dass ein so rasant schnell entwickelter Impfstoff einige Abstriche verlangte. Beispielsweise ist nach wie vor unklar, wie zuverlässig der Wirkstoff gegen eine Infizierung mit dem Virus oder gegen einen Ausbruch der Krankheit schützt. Hätte man parallel zum Impfstoff ähnlich verbissen an einer erfolgsversprechenden Medikation geforscht, könnte man einem unter Umständen schwachen Impfschutz heute besser begegnen.

Die wenigsten schienen sich auch für die Gründe hinter diesen Forschungsentscheidungen zu interessieren. Es ist völlig klar: Wenn eine neuartige Krankheit grassiert und so viele Menschenleben fordert, darf bei der Erforschung von Impfstoffen und Medikamenten keine Zeit vertan werden. Es muss alles getan werden, um die Krankheit an einer weiteren Ausbreitung zu hindern. Im Normalfall dauert es aber eine ganze Weile bis Impfstoffe und Medikamente die hohen Zulassungshürden nehmen. Die Medikamente gegen Covid-19 lassen wohl auch deshalb weiterhin auf sich warten. Die Impfstoffe hingegen haben die Forschung an Medikamenten ganz schön alt aussehen lassen. Immerhin werden die Impfstoffe an alle Menschen verabreicht, die bereit dazu sind. Die Medikamente allerdings erhalten nur solche Menschen, die sich bereits infiziert haben und einen besonders schweren Krankheitsverlauf entwickeln. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.

Subject to Change

All diese Aspekte wurden bisher in der öffentlichen Debatte um die Impfstoffe weitestgehend ausgeblendet. Man verlässt sich auf die Daten, die seröse Quellen wie beispielsweise das Robert-Koch – Institut so hergeben. Das Problem an diesen Daten: Sie sind selten von langer Dauer und unterliegen ständigen Aktualisierungen. Das ist auch überhaupt kein Wunder, wenn die Impfstoffe bereits nach einigen Monaten zugelassen wurden. Theoretisch stufen die Wissenschaftler die Präparate als sicher ein, praktisch allerdings befinden wir uns weiterhin in der Erprobung der Impfstoffe. Es ist zwar nicht zu erwarten, dass sich in einigen Monaten herausstellt, dass die Wirkstoffe völlig nutzlos waren, doch ein Aspekt kommt bei der Diskussion um die Impfungen definitiv zu kurz: Was bedeutet es, wenn Impfstoffe nach so kurzer Zeit die Zulassung erhalten, obwohl die meisten von ihnen auf einer Methodik beruhen, die zuvor nur selten oder noch nie am Menschen zum Einsatz kamen?

Kritische Stimmen dazu kommen immer nur dann zu Wort, wenn akut besonders heftige Nebenwirkungen auftraten. Das beste Beispiel dafür ist der Wirkstoff von AstraZeneca. Zunächst war völlig unklar, an welche Altersgruppen er gefahrlos verimpft werden kann, dann kam es zu Blutgerinnseln im Gehirn, als nächstes war er wieder der Hoffnungsträger, zur Zeit steht seine Verträglichkeit wieder eher im Zweifel. Was dieser Impfstoff erlebt, ist nichts anderes als eine groteske Berg- und Talfahrt, die einzig darauf zurückzuführen ist, dass die Forschungsphase so kurz war.

Datenverlust ausgeschlossen

Obwohl alle diese Bedenken ernstzunehmen sind, scheren sich die wenigsten darum. Es ist vollkommen legitim – und in vielen Fällen sicherlich vernünftig – sich impfen zu lassen. Vielen Menschen wird eine gut überlegte Impfentscheidung aber dadurch verwehrt, dass elementare Punkte in der Debatte um die Impfsicherheit viel zu kurz kommen. Dass es auch anders geht, zeigt die Resonanz der Corona – Warn-App der Bundesregierung.

Die Diskussion war hier zwar ähnlich verkürzt wie bei den Impfstoffen, führte aber zum gegenteiligen Ergebnis. Hier dominierte das Argument der Datensicherheit die Debatte über Gebühr. Die Angst davor, unwissentlich sensible Daten über sich selbst preiszugeben, hielt viele Menschen davon ab, die App auf ihren Smartphones zu installieren.

Ähnlich kritisch gegenüber dem Umgang mit Daten zeigen sich die meisten auch bei anderen Anwendungen. So kommt es derzeit zu einer massenhaften Abkehr von WhatsApp. Der Messenger erdreistet sich ernsthaft, die Daten seiner Nutzerinnen und Nutzer zu Werbezwecken weiterzugeben, um auch in Zukunft praktisch kostenfrei nutzbar zu bleiben. Die Sorge vor einem Datenmissbrauch lässt die App in der Gunst der Anwenderinnen und Anwender deutlich sinken.

So würde es auch AstraZeneca, BioNTec & Co. ergehen, wenn sie ernsthaft unter Verdacht stünden, gegen wichtige Datenschutzbestimmungen zu verstoßen. Dass sie wenig erprobt sind, nehmen dafür viele Menschen in Kauf. Und warum ist das so? Es ist ganz einfach: Die Angst vor einer Erkrankung übersteigt die Skepsis gegenüber einem unzureichend erforschten Impfstoff. Die Sorge vor möglichen Spätfolgen, adversen Impfeffekten oder sonstigen unerwünschten Erscheinungen wird besonders erfolgreich unterdrückt, wenn all diese Punkte in der öffentlichen Diskussion wenig oder gar nicht zur Sprache kommen.

Ad absurdum

Stattdessen verbannt man kritische Töne lieber ins Reich der Verschwörungstheorien. Wer trotzdem Kritik an der Impfkampagne oder an den Impfstoffen an sich äußert, der bekommt ruckzuck die Querdenker-Keule zu spüren. Keine seriöse Kritik darf an den Grundfesten der allgemeinen Impfeuphorie rütteln. Nun kann man zu harsche Kritik tatsächlich als unangebracht empfinden. Immerhin geht es um die Bekämpfung einer Pandemie, die zigtausend Menschenleben fordert. Abstriche können da nicht ausbleiben. Aber darum geht es gar nicht. Dieses Scheinargument soll den Menschen ein gutes Gefühl geben und dafür sorgen, dass sie sich Impfskeptikern gegenüber moralisch erhaben fühlen. Dadurch fällt es ihnen leichter, Widerspruch in eine Ecke zu drängen, mit der sie verständlicherweise nichts zu tun haben wollen. Für die Vertreter der Pharmalobby rollt währenddessen weiter der Rubel. Widerstand gegen ihre Pläne gehört nun eindeutig zu den Querulanten von Stuttgart 711.

Eine ernsthafte und konstruktive Debatte wird dadurch natürlich erfolgreich unterdrückt. Sachliche und begründbare Argumentente landen in einem Topf mit missgebildeten Embryonen, der Injektion von Kinderblut und einer globalen Intrige von Bill Gates. Aus Angst davor, auf eine Wand des Unverständnisses und der Ablehnung zu stoßen, halten viele ganz den Mund oder relativieren das Gesagte schnell wieder, wie wir es bei der Aktion #allesdichtmachen gesehen haben. Künstlerinnen und Künstler, die sich zuvor nie etwas in diese Richtung haben zu schulden kommen lassen, waren auf einmal Jünger von Attila Hildmann und Xavier Naidoo. Immer mehr Menschen finden sich damit ab, dass eine kritische Meinung unerwünscht ist. Für eine freiheitliche Demokratie sind solche Entwicklungen ganz bestimmt nicht günstig.


Mehr zum Thema:

Besonders schwere Fahrlässigkeit

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Smartphone und Verantwortung in einer Hand

Beitragsbild: iXimus, pixabay.

Lesedauer: 9 Minuten

Gesundheitsminister Jens Spahn ist sich sicher: die Corona-App wird einen erheblichen Beitrag im Kampf gegen das Virus leisten. Fortan werden alle Nutzer gewarnt, wenn sie in den vergangenen zwei Wochen einem Risikokontakt ausgesetzt waren. Viele kritisierten das Projekt von Anfang an, Datenschützer waren die erbittertsten Opponenten. Kaum waren diese Bedenken ausgeräumt, sprach man die App nahezu heilig. Eines vergessen viele aber nach wie vor: Die neue App legt die Verantwortung sprichwörtlich in die Hand der Nutzer. Der Kampf gegen Corona ist aber keine Einzelaufgabe, es ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Die App kann dem im Zweifelsfall zuwiderlaufen.

Operation „Beruhigungssauger“

Seit Dienstag ist sie da: die Corona-App. Lange erwartet, häufig kritisiert, endlich fertig. Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ist sichtlich stolz auf diesen Meilenstein im Kampf gegen Corona. Die Corona-App war immer sein Herzensprojekt. Viel Gegenwind musste er gegen seine Pläne aushalten. Gerade Datenschützer gingen auf die Barrikaden, als sie von dem Mammutprojekt hörten. Auch bei vielen Oppositionellen und Bürgern schrillten die Alarmglocken: Eine neue App? Was ist mit dem Datenschutz? Verschwörungstheoretiker machten sich die Pläne des Ministers sogleich zunutze und schürten Ängste, die App sei nur ein weiterer Schritt in Richtung Totalüberwachung der Bevölkerung.

Spahn nahm sich die Kritik tatsächlich zu Herzen. Zu groß war wohl die Sorge, seiner Bewerbungsmappe für das Kanzleramt würde eine wichtige Referenz fehlen. Das Ergebnis kann sich sehen lassen: Der dezentralen Lösung wurde tatsächlich der Vortritt gelassen. Die Daten werden also nicht auf einem zentralen Server gespeichert, die sogenannte Begegnungsprüfung findet auf den Endgeräten statt. Wie ein Kleinkind, dem man einen Lolli gibt, waren die Datenschützer augenblicklich still. Und die anderen: auch. Als das Thema Datenschutz vom Tisch war, verstummte auch die Kritik an dem Projekt.

Argumente mit notorischem Geltungsdrang

Wieder einmal hat es eine einzige Frage geschafft, die Debatte zu beherrschen. Fragen nach Zielgenauigkeit, Notwendigkeit und Benutzerfreundlichkeit der App mussten den kürzeren ziehen. Die Hauptrolle wurde dem Thema Datenschutz verliehen. Mit Sicherheit eine wichtige Frage, aber beileibe nicht die einzige, die es zu beantworten gilt.

Das Muster ist bekannt: Bei so vielen anderen Themen der letzten Jahre gab es immer wieder Einzelfragen und Teilaspekte, die die Diskussion dominierten. Beispiel Tempolimit: Das Thema Verkehrssicherheit wurde zwar in die Bewertung der Geschwindigkeitsbegrenzung einbezogen, Knackpunkt war aber immer die klimafreundliche Komponente der Maßnahme. Weniger Motorleistung verursacht weniger klimaschädliche Emissionen, das ist Fakt. Dass eine generelle Beschränkung der Höchstgeschwindigkeit auf der Autobahn aber auch einen nicht unerheblichen Beitrag zu mehr Sicherheit im Straßenverkehr beiträgt, sollte fakter sein.

Immer wieder lenkten andere, teilweise schlicht unwichtigere Nebenfragen von der echten Problematik ab. Dabei gibt es gerade bei der Corona-App so viele andere Fragen, die es dringend zu beantworten gilt. Stattdessen verbeißen sich viele Kritiker beinahe fetischhaft in das Totschlagargument Datensicherheit. Ob auch bei den Bürgern durch den besseren Datenschutz das Vertrauen in die App gewachsen ist, werden die nächsten Tage und Wochen zeigen. Man sollte aber dringend aufhören zu meinen, man könne mit der Reduzierung von großen Sachverhalten auf ein einziges Thema die Bürger für dumm verkaufen.

Keine Maßnahme wie die anderen

Es gibt neben Datentransparenz noch einige weitere Fragen, von denen der Erfolg der App abhängen sollte. Es wurde wenig danach gefragt, wie zielgenau die neue Anwendung arbeitet, und wenn, dann nur um einen Datenmissbrauch mit Standortdaten zu verhindern. Noch seltener kam die Frage auf, wie viel Nutzen die App tatsächlich entfalten kann. In der Theorie ist die App eine gute Sache. Neben weiteren Maßnahmen gegen die Ausbreitung der Pandemie ist sie eine sinnvolle Ergänzung, um die Menschen zu schützen. Keine der geltenden Maßnahmen kann alleine den Kampf gegen Corona aufnehmen. Masken sind ohne Abstand praktisch Stoffverschwendung. Genau so wird auch die App nur dann den größtmöglichen Erfolg haben, wenn die anderen Maßnahmen eingehalten werden.

Und daran habe ich starke Zweifel. Denn die App reiht sich nahtlos in die Serie von Lockerungen ein, die oftmals das Prädikat „fahrlässig“ verdienen. In erster Linie ist die App nämlich ein Frühwarnsystem, um Menschen darauf aufmerksam zu machen, dass sie Kontakt zu einer mit Corona infizierten Person hatten. Sie ist deshalb nicht Maßnahmen wie der Maskenpflicht und dem Abstandsgebot gleichzusetzen. Im Gegensatz zu diesen expliziten Schutzmaßnahmen hemmt sie nicht das Infizierungsrisiko ihrer Nutzer. Sie meldet Erkrankungsfälle im näheren Umfeld, um etwaigen Risikokontakten vorzubeugen.

Unverbindliche Handlungsempfehlung

Wie bereits die Lockerungen vor ihr, macht die App den Infektionsschutz noch mehr zur Privatsache. Immer weniger müssen Bürgerinnen und Bürger lästige Regeln beachten, die eine Ausbreitung des Virus verhindern sollen. Und tatsächlich ist bis auf die Maskenpflicht fast wieder der Normalzustand eingetreten. An Supermarktkassen ist wieder Gruppenkuscheln angesagt. Die Abstandslinien sind von tollwütigen Klopapierkäufern längst weggewetzt worden. Immer mehr Massenaufläufe in Parks, bei Demos und leider auch Corona-Partys entwickeln sich zu neuen Infektionsherden. Nach monatelanger staatsverordneter Flaute müssen manche Gaststätten inzwischen beinahe schon überlegen, wegen Überlastung zu schließen. Gerade dort ist die Handhabung der Verordnungen besonders lax. In den vergangenen Wochen waren immer wieder Restaurants in Verbindung mit Coronafällen in den Medien.

Die neue App kann leicht zu noch mehr Unvorsicht verleiten. Bereits bei der Maske war sonnenklar, dass manche Menschen schlichtweg unfähig dazu waren, sie richtig aufzusetzen. Mit ihrer Leichtsinnigkeit gefährdeten sie ihre Mitmenschen und leisteten dem Virus erheblichen Vorschub. Es ist zugegeben ziemlich blauäugig zu glauben, diese Menschen ließen sich von einer unverbindlichen Handlungsempfehlung einer App Vorschriften machen. Sobald auf ihren Bildschirmen erscheint, dass sie so und so viele Risikokontakte hatten, werden sie verächtlich abwinken. „Jetzt will mir der Staat auch schon vorschreiben, wann ich zum Arzt zu gehen habe. Ich weiß selbst am besten, was gut für mich ist.“ An dieser Stelle pochen sie auf Selbstbestimmung und Datenschutz, beim nächsten facebook-Post ist ihnen das egal.

Polarisierung reloaded

Schon vor der App hat sich immer mehr gezeigt: Corona spaltet. Wieder einmal haben die Menschen die Wahl, zu welchem Pol sie sich eher hingezogen fühlen. Sind es die Hygienedemonstranten, die Verschwörungstheoretiker und Rechtsextreme in ihren Reihen dulden oder sind es die Übervorsichtigen, die an der Kasse lieber drei Striche Abstand halten? Jede noch so belanglose Äußerung, jede noch so lapidare Handlung kann zu einer unwiderruflichen Einteilung in eines der Lager führen.

Vor einigen Wochen schrieb ich auf diesem Blog noch, dass ich nicht glaube, dass Corona das gleiche Polarisierungspotenzial hätte wie die Flüchtlings- oder die Klimakrise. Ich habe mich geirrt. In Wahrheit birgt die jetzige Krise ein noch größeres Polarisierungsrisiko als die Krisen zuvor.

Konsens und mehr nicht?

Und woran liegt das? Weil es keine Einigkeit gibt. Der Politiker Gregor Gysi meinte jüngst, dass der Zoff erst losging, als die ersten Lockerungen zur Debatte standen. Völlig richtig. Davor waren die getroffenen Maßnahmen ganz besonders streng. Kaum einer hatte die Möglichkeit, ungestraft aus der Reihe zu tanzen.

Die Maßnahmen erreichten dabei beinahe die Qualität von Strafgesetzen. Und im Prinzip haben sie auch so funktioniert. Die Strafandrohung war zwar nicht so hoch wie bei Strafgesetzen, aber der Druck war trotzdem da. Würde man heute oder morgen die Strafen aus dem Gesetzbuch streichen, so gäbe es weiterhin einen breiten gesellschaftlichen Konsens, dass man andere Menschen nicht misshandelt, sie nicht umbringt und auch niemandem etwas wegnimmt. Dieser recht lockere Konsens würde aber immer mehr aufgeweicht werden. Viele würden dann zwar die Nase rümpfen, wenn jemand im Laden klaut, passieren würde aber nichts. Genau das gleiche lässt sich seit den Lockerungen bei den Corona-Maßnahmen beobachten.

Die Lockerungen übertragen nämlich immer mehr Verantwortung auf den Einzelnen. Als die Maßnahmen streng waren, waren die meisten von dieser Verantwortung befreit. Sie mussten sich schlicht an Regeln halten. Durch die Lockerungen können die Menschen nun mehr und mehr selbst entscheiden, welche Maßnahmen sie als sinnvoll erachten und an welche sie sich halten wollen. Sie können sich ihre eigene Meinung machen. Das ist prinzipiell gut. Es liegt allerdings in der Natur unterschiedlicher Meinungen, miteinander zu konkurrieren. Kommt dann noch die akute Krisenkomponente dazu, ist die Polarisierung vorprogrammiert. So gut die Idee einer Corona-App auch sein mag, sie wird dem enormen Polarisierungspotenzial der Krise nicht beikommen können.


Mehr zum Thema:

Kein Rückgrat

Gefühlte Demokratie

Das Heer der Unaufgeklärten

Auf Umwegen durch die Krise

Die Stunde der Volksparteien

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!