Realitätsverweigerung terminalis

Lesedauer: 6 Minuten

Nie wurde mehr auf eine Wahl hingefiebert als bei der EU-Wahl am 9. Juni. Jeder wusste, dass diese Wahl entscheidend sein wird für die Zukunft Europas. Das Ergebnis lässt viele entsetzt zurück. In fast allen EU-Ländern triumphiert der rechte Rand, Parteien des Establishments wurden ein weiteres Mal hart abgestraft. Die Ergebnisse der deutschen Regierungsparteien sind selbst in Summe weniger als ein schlechter Witz. Doch von Einsicht keine Spur. Anstatt endlich aufzuarbeiten, woran der Rechtsruck liegen könnte, geht die Talfahrt der europäischen Demokratie weiter wie zuvor. Es ist zum Davonlaufen.

Die Wahlen vom 9. Juni werden die EU verändern. Was sich schon 2019 abgezeichnet hat, erreichte bei der gerade zurückliegenden EU-Wahl eine völlig neue Dimension: Die extreme Rechte in Europa ist so stark wie nie zuvor. Fast alle Mitgliedsstaaten der Union erlebten in den letzten Jahren einen enormen politischen Rechtsruck auf nationaler Ebene, der sich nun in Europa fortsetzt. Schon vor der Wahl gab es zwei sehr rechte Fraktionen im Europäischen Parlament, möglich sind inzwischen sogar drei davon. Was ein Freudenfest für die Neofaschisten ist, bedeutet für die demokratischen Kräfte eine herbe Niederlage. Sie scheinen das nur noch nicht ganz begriffen zu haben.

Das Establishment in Feierstimmung

Wieder-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen (CDU) gratulierte ihrer Partei noch am Wahlabend beinahe routiniert zu diesem vorgeblich fulminanten Erfolg. Dass die stärkste Partei gerade einmal so 30 Prozent der Stimmen einheimste – daran störte sich von den Christdemokraten offenbar niemand. Keinen schien es zu interessieren, dass man nur noch doppelt so stark abschnitt wie der rechte Rand.

Vielleicht kann man der CDU die Feierlaune sogar ein bisschen abnehmen. Was indes die Ampelparteien in Reaktion auf ihre Wahlergebnisse abzogen, verdient zweifellos das Prädikat „unterirdisch“. Selten schalteten Wahlverlierer so schnell auf Normal um wie die deutschen Regierungsparteien. Während es die Grünen anscheinend nicht im entferntesten juckt, dass ihnen fast die Hälfte ihrer Wähler abhandengekommen ist und sich insbesondere die Jungwähler von ihnen abgewendet haben, verkauft die FDP ihre Stagnation als großartigen Triumph. Auch die SPD hält sich mit vollmundigen Erneuerungsversprechen vornehm zurück. Sie kann nicht anders: Nach der Serie von Wahlniederlagen seit 2009, die keine grundsätzliche personelle und programmatische Neuaufstellung nach sich zogen, würden ihr das die Wählerinnen und Wähler sowieso nicht glauben.

Kein Grund zur Freude

Die AfD ist stark wie nie. Die demokratischen Parteien haben es bislang nicht vermocht, die Gefahr von rechts zu bannen. Ausgrenzen und diffamieren? Hat nicht geklappt. Rechtsextremes Gedankengut offenlegen? Hat nicht geklappt. Seit einiger Zeit nun schießt sich das Establishment auf einzelne Politiker der AfD ein und hofft, dass deren kriminelle Umtriebe den Wählern die Augen öffnen. Aber auch das wird nicht klappen. Wie sollen sich die Wählerinnen und Wähler besinnen, wenn die Parteien nicht mit gutem Beispiel vorangehen? In einer Parteiendemokratie gilt: Die Partei muss zum Wähler passen und nicht andersrum.

Stattdessen wird jeder Moment der Schwäche bei der AfD als übergroßer Sieg gefeiert. Kaum verliert Rechtsaußen einen Prozentpunkt in den Umfragen, ist der demokratische Umschwung eingeläutet. Die erschreckenden 16 Prozent bei der EU-Wahl werden reflexartig relativiert – das ist ja nur den starken Ergebnissen im Osten zu verdanken. Auch auf dem verfrühten Ausscheiden des Spitzenkandidaten wird bis zur Lächerlichkeit herumgeritten. Wie stark das Ergebnis wohl ausgefallen wäre, hätte die AfD einen Spitzenkandidaten gehabt?

Merz vs. Weidel?

Umfragewerte politischer Parteien sind mit Vorsicht zu genießen, aber sie sind ein wichtiges Instrument, um die Stimmung im Land zu messen. Und die Zahlen sind eindeutig: Seit Monaten ist die AfD bundesweit die zweitstärkste politische Kraft im Land. In den ostdeutschen Bundesländern sieht es noch verheerender aus. Hier hat die AfD flächendeckend gute Chancen auf den Sitz des Ministerpräsidenten. Thüringen hat sich dieser Realität gestellt und ließ noch vor Anpfiff des Wahlkampfs zur Landtagswahl im TV-Duell Mario Voigt von der CDU gegen Björn Höcke von der AfD antreten.

Das Medienereignis war hart umstritten und doch ist es näher an der Wirklichkeit als das Gebaren der Bundespolitik. Außenministerin Baerbock ließ verlautbaren, sie stünde für eine erneute Kanzlerkandidatur nicht zur Verfügung. Lieber möchte sie sich als Außenministerin um die Krisen in der Welt kümmern. Kein Wort darüber, dass die Kanzlerkandidatur einer 12-Prozent – Partei im Kabarett besser aufgehoben wäre. Würden sich die Bundesparteien ehrlichmachen, müssten sich im TV-Duell 2025 Friedrich Merz und Alice Weidel gegenüberstehen.

Realitätsverweigerung im Endstadium

Doch je stärker die AfD wird, je ungehemmter sich die rechte Fratze zeigt und je mehr Wähler den demokratischen Parteien den Rücken kehren, desto verbissener hält das Establishment an seinem Kurs fest. Dass die Unzufriedenheit und Empörung in der Bevölkerung nicht gleichbedeutend mit rechtsextremer Gesinnung sind, geht nicht in die Köpfe von Politikern wie Klingbeil, Lang und Göring-Eckart.

Die Ampelparteien feiern sich als Fortschrittskoalition und verweigern sich trotzdem hartnäckig der Realität und der Veränderung. Niemand erwartet von SPD, FDP oder Grünen, dass sie ihre Grundüberzeugungen fallenlassen – das haben letztere sowieso längst getan. Aber Politik muss Antworten auf die Wirklichkeit geben. Es gibt ebenso konservative wie sozialdemokratische, liberale oder grüne Lösungsansätze, um den aktuellen Herausforderungen gerechtzuwerden. Doch die Scheuklappenpolitik der Ampel verhindert, dass die Probleme überhaupt gesehen und beherzt angegangen werden. Stattdessen kommen die lautesten Antworten vom rechten Rand.

Eines muss man den Regierungsparteien jedoch lassen: Ausdauer haben sie. Selbst desaströse Wahlergebnisse wie die vom 9. Juni führen nicht zu einer gründlichen Kurskorrektur. Sie wursteln weiter in ihrem politischen Paralleluniversum herum, in dem die Probleme der Bürger im Zweifelsfall hinter der Verwirklichung einer gutgemeinten Ideologie zurücktreten müssen. Selbsterhaltungstrieb sieht wahrlich anders aus, denn dieser Weg führt über kurz oder lang in die politische Bedeutungslosigkeit. Auf Länderebene ist das mitunter schon realisiert. Vielleicht bewahrt sie ja die nächste Bundestagswahl vor diesem Schicksal.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!

Freifahrtschein ins Establishment

Lesedauer: 6 Minuten

Bei der EU-Wahl vom 9. Juni erlebte Die Linke eine herbe Klatsche. Mit weniger als 3 Prozent an Zustimmung kratzt sie an der politischen Bedeutungslosigkeit. Der Weg nach unten zeichnete sich lange ab: personelle Querelen, eine Abspaltung und die schiere Hilflosigkeit gegenüber der AfD begleiteten die Partei bei ihrem kontinuierlichen Abstieg. Die Bemühungen, den linken Parteiflügel der Grünen zu ersetzen, waren das Eintrittsticket der einstigen Protestpartei ins Establishment.

“Die Linke als sozialistische Partei steht für Alternativen, für eine bessere Zukunft.“ So beginnt das bis heute gültige Erfurter Programm der Linken. Selten hat ein Programm dem Test der Zeit so wenig standgehalten wie das Grundsatzprogramm dieser einst stolzen Protestpartei. Nicht nur die Wahlergebnisse gingen seit 2011 fast kontinuierlich in den Keller, auch inhaltlich haben die Ex-Sozialisten einen bemerkenswerten Wandel vollzogen.

Der „Schön wär’s“-Wahlkampf

Gerade im Wahlkampf begegnet man vielen pointierten Losungen wie „Mieten runter“, „Waffen schaffen keinen Frieden“ oder „Gegen Hass und rechte Hetze“. Währenddessen machen sechsarmige Krankenschwestern auf die unmenschliche Belastung in Pflegeberufen aufmerksam. Die Umfrageergebnisse der Linken geben trotzdem nicht viel her.

Doch auch zwischen den Wahlen legen sich die Linken mächtig ins Zeug. Die letzten Monate des Jahres 2022 sollten als der „heiße Herbst“ in die Geschichtsbücher eingehen. Massenproteste, Streiks und Demonstrationen waren aber fast nirgends zu sehen. Die niederschmetternden Wahlergebnisse und die ausbleibende Mobilisierung sind auch überhaupt kein Wunder. Die Menschen vertrauen dieser Partei nicht mehr. Sie empfinden ihr angebliches Angebot nicht mehr als glaubwürdig. In der Folge wandern sie ab.

Klare Prioritäten

Überraschend ist das nicht. Obwohl viele Wahlslogans in bekannter linkspopulistischer Manier daherkommen, waren es vor allem personelle Entscheidungen, die den Niedergang der Linken eingeläutet haben. Indem man Chiffren wie Carola Rackete, Katja Kipping, Bernd Riexinger und andere in Spitzenpositionen hievte, vollzog man auch einen thematischen Kurswechsel. Tonangebend in der Partei sind heute Leute, die soziale Gerechtigkeit zwar toll finden, deren Verwirklichung aber vor Zielen wie Gendergerechtigkeit, offenen Grenzen und einer möglichst vielfältigen Gesellschaft zurücktreten muss.

Einige Genossinnen und Genossen haben das im Laufe ihrer Parteilaufbahn begriffen und früher oder später das Weite gesucht. Manche davon haben zwischenzeitlich einen eigenen Laden aufgemacht. Andere hingegen kommen von der Partei nicht los – wer könnte es ihnen nach teils jahrzehntelangem Engagement verdenken? Ehrenwerte Persönlichkeiten wie Gesine Lötzsch und Gregor Gysi werden sich aber noch umschauen.

Protest von gestern

Der einstige Erfolg der Linken war keineswegs selbstverständlich. Nach dem Verlust des Fraktionsstatus‘ nach der Bundestagswahl 2002 war davon auszugehen, dass die damalige PDS wieder auf das Niveau einer ostdeutschen Protestpartei zusammenschrumpft. Dann kamen Hartz IV und der Zusammenschluss von PDS und WASG. Eine neue starke linke Kraft war geboren. Sie bot den etablierten Parteien Paroli und verfehlte ihre Wirkung insbesondere in den Anfangsjahren nicht. Die Kommentierung der Parteifusion war teils polemisch und von einer Abneigung gegen einst politische Weggefährten geprägt. Heute freilich wurde Die Linke als die Angstfigur auf der politischen Bühne von anderen abgelöst.

Die Krone der tonangebenden Gegenmeinung hat Die Linke auf ihrem Weg ins Establishment nur allzu bereitwillig abgegeben. Um als mögliche Regierungspartei mitmischen zu können, hat sie sich inzwischen gut im immer enger werdenden geduldeten Meinungsspektrum eingerichtet. Sie ist die nervige Cousine, neben der niemand bei der Geburtstagsfeier sitzen möchte, aber die trotzdem irgendwie dazugehört. Selbst Finanzminister Christian Lindner (FDP) riet bei einer Bürgerveranstaltung Wahl der Linken, wenn man mit der herrschenden Politik nicht einverstanden sei. Vom Vorsitzenden der Reichenpartei zur Zweckopposition geadelt – noch tiefer kann man als angeblich sozialistische Partei nicht sinken.

Willkommen im Establishment!

Der Parteispitze der Linken ist das indes egal. In der Hoffnung, irgendwann einmal in den Genuss von Ministerposten auf Bundesebene zu kommen, führt sie weiter ein vermeintlich richtiges Leben im falschen. Anstatt sich der realen Gefahr bewusst zu werden, nach der nächsten Bundestagswahl nicht einmal mehr gewöhnliche Abgeordnetensitze abstauben zu können, zelebriert die Partei unbehelligt ihre Aufnahme ins Establishment.

Fragwürdiger Post: Mit Vollkaracho in die Bedeutungslosigkeit (Quelle: X)

So machte der thüringische Landesverband der Partei in den sozialen Medien allen Ernstes Stimmung gegen die „Putinfreunde[…] von AfD und BSW“. Sie stieg damit unreflektiert in den Kanon des Mainstreams ein, der sich mittlerweile bei seinen Diffamierungen und Verunglimpfungen gegen Andersdenkende immer aggressiver zu überbieten versucht. Perverser kann man nicht zur Schau stellen, dass man verlernt hat, unbequem zu sein.

Die Alarmsignale wurden nicht gehört. Die Linke verliert seit Jahren eine Wahl nach der anderen. Der Erfolg in Thüringen ist ein Ausreißer nach oben und einzig und allein dem Sympathieträger Bodo Ramelow zu verdanken. Bei der gerade zurückliegenden EU-Wahl halbierte die Partei ihr blamables Ergebnis von 2019 sogar noch einmal. Auch wenn die Parteifunktionäre auf Biegen und Brechen etwas anderes beschwören: In solchen Wahlergebnissen liegt die Zukunft dieser Partei.

Satellit der Grünen

Die Partei Die Linke ist heute nichts weiter als der verlängerte Arm des linken Parteiflügels der Grünen. Dieser findet in seiner eigenen Partei schon lange kein Gehör mehr und muss sich des ehemals sozialistischen Satelliten bedienen. Erfolgreich sind die Linken damit besonders in den westdeutschen Bundesländern. Gerade in Großstädten ist sie beliebt wie selten. Sie holt dort ebenjenes hippe Milieu ab, das sich immer mehr von den Grünen abwendet. Dazu passt, dass sie einzig von den Grünen Stimmengewinne für sich beanspruchen kann.

Solange die eher bürgerlichen Kräfte bei den Grünen so stark wie jetzt sind, stehen die Chancen gut, dass die Linken bei künftigen Wahlen zumindest einen eigenen Balken bekommen. Zögen die Grünen allerdings aus dem Desaster vom 9. Juni den Schluss, wieder eine soziale Agenda zu fahren, sieht es für Wissler, Schirdewan und Co. düster aus. Dann dürfte selbst der hart errungene neue Posten in Gefahr sein: die Stärkste unter den Schwächsten.

Teile diesen Beitrag als erstes. Naaa looos!