Wunsch nach Stärke

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Es gab Hoffnung, es gab Mut und es gab die Möglichkeit – am Ene jedoch konnte Recep Tayyip Erdoğan die Stichwahl in der Türkei für sich entscheiden. Damit bleibt ein Mann an der Macht, der mit Demokratie nichts so recht anfangen kann und Menschenrechte für überbewertet hält. Besonders in Deutschland feiern viele Wahlberechtigte den Wahlsieg des türkischen Präsidenten. Man kann ihnen einerseits zugutehalten, dass sie von den Auswirkungen der Wahl nur indirekt betroffen sind. Andererseits ist ihr Hang zum Autokraten mehr als bedenklich.

Erfolgsserie

Recep Tayyip Erdoğan bleibt Staatspräsident der Türkei. Mit etwas über 50 Prozent der Stimmen konnte er die Präsidentschaftswahl für sich entscheiden. Sein Herausforderer, der als gemäßigt geltende Kemal Kılıçdaroğlu, unterlag dem amtierenden Präsidenten nur knapp. Das Wahlergebnis sorgte weltweit für Aufsehen. In der deutschen Politik kritisierte Cem Özdemir (Bündnis ´90/Die Grünen) die Wiederwahl besonders heftig. Dem Bundesumweltminister ist es ganz und gar unverständlich, weswegen sich besonders die in Deutschland lebenden Wahlberechtigten zur Wahl eines lupenreinen Autokraten konnten hinreißen lassen.

Mit einem Stimmenanteil von fast zwei Dritteln fiel das Votum unter den Deutsch-Türken tatsächlich sehr deutlich aus. Ohne die loyale Stammwählerschaft aus Deutschland wäre die Entscheidung wahrscheinlich noch knapper ausgefallen. Eventuell hätte Erdoğan die Wahl sogar verloren.

Trotz allem verfügt der wiedergewählte Präsident auch in der Türkei über ein nicht zu unterschätzendes Wählerpotenzial. Auch wenn sein erneuter Wahlsieg vielen sauer aufstoßen dürfte – aus heiterem Himmel kam er sicherlich nicht. Erdoğan machte im Grunde das, was allen Autokraten zur Macht verhilft: Er nutzt die wirtschaftlich schwierige Situation des Landes zu seinem Vorteil. In typischer Diktatoren-Manier führt er den verunsicherten Menschen ein Horrorszenario vor Augen, welches unweigerlich eintreten würde, verließe man sich wieder auf Werte wie Menschlichkeit und Demokratie.

Die Türkei ist seit vielen Jahren ein Land, welches wirtschaftlich alles andere als gut dasteht. Horrende Inflationsraten haben die Menschen dort nachhaltig traumatisiert. Deswegen ist eine Gefahr wie Erdoğan nicht zu unterschätzen. Selbst wenn er die Wahl verloren hätte: Seine Niederlage wäre denkbar knapp ausgefallen. Auch wenn der schwindende Rückhalt für Erdoğan ein gutes Zeichen ist – seine Stärke ist weiterhin alarmierend und hätte auch bei einem Sieg von Kılıçdaroğlu erheblichen Schaden anrichten können.

Wahlkampf unter der Hand

Besorgniserregend ist Erdoğans starker Rückhalt in Deutschland allemal. Für die zahlreichen Stimmen der Deutsch-Türken gibt es verschiedene Erklärungsansätze. Einerseits hat sich der türkische Präsident auch hierzulande um einen intensiven Wahlkampf bemüht. Eigentlich sind ihm direkte Wahlkampfauftritte untersagt. Trotzdem fand er Möglichkeiten, diese sinnvolle Regelung zu umgehen und in Deutschland vor seinen Anhängern zu sprechen – immer unter dem Deckmantel anderer Themen.

Auch die Anhänger von Kılıçdaroğlu machten hierzulande jede Menge inoffiziellen Wahlkampf. Massenhaft standen seine Anhänger in den Einkaufsstraßen der Republik bereit, verteilten Flyer und führten Gespräche, um den Menschen die Augen über den gefährlichen amtierenden Staatspräsidenten zu öffnen.

Die Wählerinnen und Wähler in der Türkei und in Deutschland eint, dass sie Erdoğan als starke Persönlichkeit wahrnehmen, dem sie die Führung eines Landes zutrauen. In ihren Augen ist er jemand, der die Dinge beim Namen nennt und Missstände nicht duldet. Die Nachteile seiner Präsidentschaft dürften aber zumindest in Deutschland, einem Land mit unabhängiger und freier Presse, offensichtlich sein. Es ist wahrscheinlich die räumliche Distanz, die den Wählerinnen und Wählern in Deutschland dabei hilft, über die Risiken hinwegzusehen. Sie haben nicht unter ihm zu leiden, wenn sie einer Minderheit angehören oder bestimmte Dinge anders sehen. Die Staatsführung der Türkei erleben sie in Deutschland aus sicherer Entfernung. Sie mögen sich Erdoğan verbunden fühlen – ihr Alltag ist er aber mit Sicherheit nicht.

Autokratenwunsch

Die Sehnsucht nach einer Persönlichkeit, die durchgreift und die Probleme wieder in Ordnung bringt, kann aber auch eine andere Ursache haben. Die Lebensrealität in Deutschland mit politischen Entscheidungen, die trotz demokratischer Wahlen und Ausdruckmöglichkeiten immer häufiger dem Willen der Mehrheit entgegenlaufen, schürt eine Stimmung, die Autokraten geschickt für sich nutzen können. Mit der Wahl Erdoğans haben die Deutsch-Türken ein weiteres Ventil, um diesem Frust luftzumachen. Dieses Potenzial darf man nicht unterschätzen.

Denn die Wahl Erdoğans hat nicht nur Auswirkungen auf die Türkei. Es ist auch ein schrilles Alarmsignal für die deutsche Politik. Auch wenn die Regierung an vielen Stellen versagt – türkische Verhältnisse haben wir noch lange nicht. Deutschland kann sich weiterhin mit Fug und Recht einen Rechtsstaat nennen. Alle Bürgerinnen und Bürger in unserem Land haben verbriefte Grundrechte, die ihnen anderswo verwehrt werden.

Verrat am Rechtsstaat

Trotz dieser verfassungsrechtlichen Garantien geben viele Menschen in Deutschland einem Mann ihre Stimme, der Werte wie Gleichberechtigung und Demokratie mit Füßen tritt. Obwohl diese Menschen jeden Morgen in einem funktionierenden Rechtsstaat wachwerden, verraten sie mit ihrer Stimme für Erdoğan die Demokratie.

Sie machen das nicht grundlos. Auch in Deutschland läuft einiges schief – inzwischen sogar schon so schief, dass ein beträchtlicher Teil der Deutsch-Türken quasi remote einen Autokraten an der Macht hält. Natürlich kann man das zum Anlass nehmen, um Auslandswahlen grundsätzlich zu kritisieren, weil die Wählenden aus der Ferne ganz anders geprägt sind als vor Ort. Andererseits gab die Wahl Erdoğans Aufschluss über den Zustand der deutschen Demokratie. Alle diese Menschen sind bereit dazu, einen Gegner der Menschenrechte im Ausland ins Amt zu hieven. Wenn ähnliche Stimmen nicht auf den deutschen Wahlzetteln landen sollen, muss die Regierung dringend ihre Politik überdenken. Die Wahl in der Türkei hat auf jeden Fall eines gezeigt: Mitreden wollen viele der Deutsch-Türken.

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